Esther Kinsky: "Hain"

Berückender Gesang einer Trauernden

Buchcover "Hain" von Esther Kinsky, im Hintergrund Olivenbäume
Buchcover "Hain" von Esther Kinsky, im Hintergrund Olivenbäume © Suhrkamp Verlag / imago
Von Maike Albath |
Erst vor zwei Monaten wurde ihr Partner begraben: Die namenlose Heldin von "Hain" begibt sich mitten im Winter auf eine ungewöhnliche Reise in ein italienisches Dorf. Mit ihrem Roman stellt Esther Kinsky die Frage, welcher Raum den Toten unter den Lebenden gebührt. Damit ist sie für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.
Es ist eine ungewöhnliche Reise nach Italien, von der Esther Kinsky in ihrem neuem Buch "Hain" erzählt. Ihre Hauptfigur bezieht mitten im unwirtlichen Winter für mehrere Monate ein Haus in Olevano unweit von Rom und beginnt, die Umgebung zu erkunden. Das Dorf, die Natur und alles das, was sie als "Gelände" bezeichnet. Aus diesem Grund hat die Autorin auch gleich noch eine Genrebezeichnung erfunden: "Geländeroman" lautet der Untertitel.
Die Ich-Erzählerin nimmt die kahlen Hänge genauso in den Blick, wie die Olivenhaine, den Friedhof mit seinen Lichtern auf den Gräberreihen, die kaum bevölkerten Straßen mit ihren spärlichen Geschäften und versprengten Gestalten, die Gepflogenheiten bei Karnevalsfesten, Beerdigungen und Markteinkäufen, die Wälder und Brachen zwischen Autobahnzubringern und aufgelassenen Werkstätten.

Hauptfigur in prekärem Zustand

Die namenlose Hauptfigur befindet sich, so erfährt der Leser gleich zu Beginn, in einem prekären Zustand: Die Beerdigung ihres Gefährten M. liegt gerade erst zwei Monate zurück. Ihr gesamtes Dasein ist von Trauer durchdrungen, und die genaue Wahrnehmung dessen, was sie umgibt, wirkt auch wie ein Versuch, sich über Beobachtungen in die Welt zurück zu schreiben, die eigene Stimme zu hören.
Esther Kinsky
Die Autorin Esther Kinsky© picture alliance / dpa / Foto: Thomas Schulze
Bei den Betrachtungen geraten Kindheitsszenen aus dem Rheinland in Schwingungen. Der Aufenthalt in Italien löst zudem Erinnerungen an Familienreisen aus: Der Vater erkundete mit der Familie immer wieder die Gräber der Etrusker. Allein suchte er die Gemälde Fra Angelicos auf, dessen Blau ihn sein Leben lang faszinierte.

Aufblitzende Geschichtsfragmente

"Hain" ist wie ein Triptychon gearbeitet und nach den Schauplätzen Olevano, Chiavenna und Comacchio benannt. Das Buch bietet eine Serie von Tableaus, von Tiefenbohrungen in Territorien, die abseits der üblichen Routen liegen.
Fragmente von Geschichten blitzen auf: Wie die Erzählerin ein Kabel, das sie gemeinsam mit M. gekauft hatte und ihr deshalb teuer ist, verliert und in einer Ecke auf dem Friedhof wiederfindet. Wie sie mit dem Bus, in dem hauptsächlich Afrikaner und Osteuropäer unterwegs sind, bis nach Rom fährt und dort einen Tag verbringt. Wie sie in das zugige, kalte Ferrara reist. Und wie sie schließlich die Salinen am Po-Delta und die Nekropole von Spina aufsucht, in einer einfachen Pension Quartier nimmt und in einer verwaisten Ferienhaussiedlung auf eine alte Russin in einem räudigen Pelzmantel stößt, die ihr den Weg zurück zur Bushaltestelle zeigt.

Keine Sentimentalität

Obwohl es etliche Bezüge auf die italienische Kunst und Literatur gibt, auf Lyriker wie Caproni und Pasolini, auf den Verfasser des Romans "Die Gärten der Finzi Contini" Giorgio Bassani, auf die Bilder Fra Angelicos und die Mosaiken von Ravenna, geht es Kinsky weniger um die ästhetische Überformung. Die 1956 geborene Schriftstellerin fördert das Unwirtliche an Italien zu Tage: unfertige, verlassene Orte, verheertes Hinterland und die von Schnellstraßen zerschnittenen Sumpfgebiete. Goldammern, Ortolane und Aale zeugen ebenso von der Welt wie Menschen.
Ohne jede Sentimentalität stellt Kinsky die Frage nach den Lebenden und den Toten und danach, welchen Raum den Toten unter den Lebenden gebührt. In rhythmischer Sprache gehalten, sparsam mit bildlichen Vergleichen bestückt und makellos komponiert, ist "Hain" ein bedrückender Trauergesang und ein in gedämpften Farben gehaltenes Stillleben zugleich.

Esther Kinsky: Hain
Geländeroman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
284 Seiten, 24 Euro

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