Esther Kinsky: "Hain"
Suhrkamp, 287 Seiten, 24,00 Euro
"Es ist so ein Buchstabieren von Welt"
Italien ist für deutsche Dichter ein traditioneller Sehnsuchtsort, mit blühenden Zitronen und warmen Sommernächten. Nicht so bei Esther Kinsky. In ihrem Roman "Hain" bereist eine Trauernde Italiens abgelegene Ortschaften - und betritt abseitiges Gelände.
Andrea Gerk: Mit ihrem Roman "Hain" ist die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Übersetzerin und Lyrikerin Esther Kinsky für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, und heute ist sie bei mir im Studio. Guten Morgen, herzlich willkommen, Frau Kinsky!
Esther Kinsky: Guten Morgen!
Gerk: Ihr Roman ist ja vieles in einem. Es ist ein Trauerbuch, es erzählt von einem Aufbruch, nachdem ein geliebter Mensch gestorben ist. Es gibt noch einen anderen Toten, an den erinnert wird, es sind aber auch sehr genaue poetische Beschreibungen der Umgebung, dessen, was die Erzählerin da sieht. Und Sie nennen das "Geländeroman" – was ist denn das für ein Gelände für Sie, was verbinden Sie mit diesem Begriff?
Kinsky: "Gelände" ist für mich als Begriff insofern wichtig, weil es nicht so festgelegt ist wie "Landschaft", es weckt weniger Erwartungen, es ist offener als Begriff, würde ich mal sagen. Und ist für mich auch eigentlich so oberflächenorientierter. Es ist nicht jetzt so das Bild der Landschaft, sondern für mich hat es auch sehr viel mit der Oberfläche zu tun, und das ist einfach was, was mich immer sehr interessiert.
Gerk: Aber auch mit der Innenfläche, würde ich fast sagen, denn dieses Gelände, dachte ich, bezieht sich ja auch auf das Innenleben der Erzählerin.
Kinsky: Ja, natürlich. Ich meine, Gelände ist erst mal ein nicht näher definierter Raum. Für mich ist es aber auch etwas sehr Offenes. Diese Offenheit. Unter Gelände stelle ich mir immer in erster Linie dann was, etwas nicht so Festlegbares vor.
"Der Text entsteht aus einer Begegnung"
Gerk: Und das ist ja unglaublich genau, finde ich, wie Sie das beschreiben, was da gesehen wird, und mit was für einem unglaublich vielfältigen Vokabular Sie da hantieren können. War Ihnen das, als Sie da als Stipendiatin 2015 nach Casa Baldi in Olevano gingen, schon klar, was Sie da machen wollen, was Sie schreiben werden?
Kinsky: Nein. Also, ich glaube, so könnte ich nie an einen Text herangehen. Der Text entsteht aus der Begegnung mit einer Gegend oder einem Gelände. Und ich denke, das muss man erst mal abwarten, was für ein Verhältnis sich entwickelt zwischen betrachtendem Ich und dem, was man sieht, also mir als Betrachter und dem Betrachteten, und dann kann Text entstehen.
Gerk: Wie läuft denn das konkret ab? Ich habe mich gefragt, wenn man das so genau beschreiben kann, was man sieht, und Sie beschreiben ja, wie die Erzählerin dann da herumgeht und irgendwie Einkaufen geht und wieder zurück. Machen Sie sich da ständig Notizen, oder haben Sie ein phänomenales Gedächtnis?
Kinsky: Ich glaube, mein Gedächtnis ist ganz gut. Aber ich mach mir natürlich auch sehr viele Notizen. Ich hab sehr viel einfach aufgeschrieben, was ich gesehen habe in dieser Zeit. Aber natürlich muss man hinterher das irgendwie durch Erinnerung auch ordnen.
"Die Fotografie ist eine andere Art von Annäherung"
Gerk: Es gibt ja auch eine sehr schöne Szene, die sehr berührend ist, finde ich. Da erzählen Sie, wie Sie nach dem Tod Ihres Vaters mit dem Bruder alte Dias anschauen. Und das ist ja eben auch ein Erinnerungsbuch, dieser Geländeroman. Haben Sie so was auch tatsächlich gemacht, dass Sie sich – weil Sie auch so filmisch schreiben, so bildhaft. Haben Sie sich viele Bilder noch mal angesehen?
Kinsky: Ich würde sagen, Fotografie ist für mich sehr wichtig, und es ist auch ein sehr – ich fotografiere selbst, und die Fotografie ist einfach eine andere Art von Annäherung an Oberfläche, an Gelände, an das, was ich sehe. Es gibt das Beschreiben, und es gibt dieses fotografierende Abbilden, was ja aber auch immer gleichzeitig so ein Rahmen ist. Und Fotografie, finde ich, greift auch immer … Also wenn man jetzt die Fotografien sieht, die ein anderer aufgenommen hat, die sich aber irgendwie decken oder Dinge behandeln oder darstellen, die man in der eigenen Erinnerung hat, sind das auch immer solche Eingriffe. Es entsteht so eine Spannung zwischen dem von jemand anderem gesehenen Objekt, was dann festgehalten ist. Und man muss sich ja immer klar machen, dass das auch so ein Dialog ist mit dem Blick des anderen. Das ist ein Thema, was mich sehr interessiert.
Gerk: Hat das, wie Sie Dinge, wie Sie Umgebung, wie Sie Bilder betrachten, auch was von Lektüre? Weil mir kam das vor, als würden Sie das so ausbuchstabieren, richtiggehend lesen, was Sie sehen?
"Ein Buchstabieren von Welt"
Kinsky: Ja, ich würde gern das so bezeichnen, wie ein Lesen von Welt. Ja, ich finde das einen schönen Ausdruck, den Sie da brauchen. Es ist so ein Buchstabieren von Welt vielleicht.
Gerk: Und was macht das mit Ihnen? Weil Sie fahren ja da doch, also wenn man Sie jetzt mal gleichsetzt mit der Erzählerin, was natürlich auch wieder eine Konstruktion ist und sicher nicht eins zu eins zutrifft, aber die Erzählerin fährt ja da auch sehr trauernd los. Und ist dieses sich dann so In-die-Landschaft-vertiefen, dieser Lesevorgang, auch ein Vorgang, sich seiner selbst wieder zu versichern?
Kinsky: So würde ich es nicht unbedingt sehen. Natürlich, was mein Thema so ein bisschen ist, wie eine Verlusterfahrung den Blick einfach filtert und beeinflusst. Man sieht die Welt durch einen anderen Filter. Anders kann ich es nicht bezeichnen. Und das finde ich einen wichtigen Vorgang, auch darzustellen. Und ja, natürlich geht es – es geht eigentlich in dem ganzen Buch ums Sehen. Wie setzt man das Sehen um in Sprache. Das ist etwas, was mich überhaupt immer beschäftigt. Was passiert zwischen dem Sehen, dem Erkennen, dem Benennen. Und das passiert natürlich unter unterschiedlichen Vorzeichen. Ein trauernder Mensch sieht die Welt anders, liest sie einfach anders. Und das ist Thema, im ersten Teil auf jeden Fall.
Gerk: Jetzt gibt es ja neuerdings ja etwas, was Dichter schon immer gemacht haben, nämlich über die Umgebung, die Natur zu schreiben. Da hat man jetzt so einen Begriff dafür gefunden, dieses Nature Writing, wo eben auch Menschen oft in Krisen sich in die Natur begeben und das dann beschreiben. Sehen Sie sich da irgendwie angedockt an diese erzählerische Tradition?
"Ich mag diesen Begriff Nature Writing überhaupt nicht"
Kinsky: Nein, also das würde ich so vollkommen ablehnen, weil ich diese Art, mich der Welt anzunähern und sie zu beschreiben, die verfolge ich seit langer Zeit. Und das ist einfach ein Prozess. Und ich mag auch diesen Begriff Nature Writing überhaupt nicht.
Gerk: Warum nicht?
Kinsky: Erstens mal weiß ich nicht, warum man sich eines Terminus aus dem Englischen bedient, um jetzt ein Phänomen zu bezeichnen, das im deutschsprachigen Raum, finde ich, ganz andere Wurzeln hat. Ich denke, im Amerikanischen, wo es ja eigentlich herkommt, hat es einen vollkommen anderen gedanklichen Hintergrund auch. Und es gibt ja auch eine ganz andere Auffassung von Natur. Es ist diese überwältigende Natur. Es gibt viel mehr Natur auch da als Fluchtpunkt, als in Europa, würde ich mal sagen, wenn man jetzt den Norden ausnimmt. Ich glaube auch, dass es eben – es wird einfach auch zu vieles unter diesen Begriff gepackt. Ich kann verstehen, wenn man sagt, jemand in einer Krise flüchtet sich in die Natur und fängt an, darüber zu schreiben. Das kann ich noch gelten lassen. Aber hier ist Nature Writing einfach ein Begriff geworden, wo viel zu viel drunter gefasst wird.
Gerk: In irgendeinem Interview von Ihnen habe ich gelesen, dass Sie aber sagen, dass Sie einen, der sehr mit diesem Nature Writing verbunden wird, nämlich Thoreau, schon sehr schätzen, aber nicht dieses berühmte Buch von ihm, "Walden", sondern die Journale.
Kinsky: Ja. Seine Tagebücher, das ist eigentlich sein größtes Werk. Ich sage ja auch nicht, dass ich das nicht schätze. Und ich sehe Thoreau natürlich auch vor dem Hintergrund auch der Naturphilosophie seines Lehrers Emerson und wie sich das entwickelt hat bei ihm. Und diese "Journals" sind wirklich, finde ich, sein größtes Werk. "Walden" leidet etwas daran, dass es mit zu viel Absicht geschrieben ist. Er möchte etwas demonstrieren. Aber die "Journals" sind absichtslos. Es sind einfach Einträge, Tag für Tag, über das, was er sieht, was er hört, was er riecht, was er findet. Und das gefällt mir unglaublich gut, weil es eine unglaubliche Dichte hat in der Zufälligkeit.
Gerk: Und das klingt so, als hätten Sie jetzt gerade Ihren eigenen Roman beschrieben, finde ich, was Sie da gesagt haben.
Kinsky: Ja, ich würde schon sagen, ich habe wahrscheinlich viel von Thoreaus "Journals" gelernt.
Gerk: Esther Kinsky, vielen Dank, dass Sie hier bei uns waren!
Kinsky: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.