Esther Safran Foer: "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind"
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020
288 Seiten, 22 Euro
Auf den Spuren der ermordeten Halbschwester
05:52 Minuten
Esther Safran Foer hat - wie bereits ihr Sohn Jonathan Safran Foer - ein Buch über ihre von Deutschen ermordeten jüdischen Vorfahren geschrieben. Die Ergebnisse ihrer Recherche sind ein beeindruckendes Zeugnis gegen das Vergessen.
Geschichte und Erinnerung sind die zentralen Begriffe in Esther Safran Foers neuem Buch. Auf der einen Seite die Fakten. Auf der anderen die persönlichen Erlebnisse, die verdrängten Empfindungen und Traumata, die über Generationen weitergegeben werden und denen sich die US-Amerikanerin nun behutsam nähert. "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind" ist eine fesselnde, traurige, erschütternde, aber auch Mut machende Spurensuche.
Überlebende eines Massakers 1942
Foers Eltern stammen aus Trochenbrod und Kolky (nahe Lemberg) und sind die einzigen Verwandten, die 1942 ein von Deutschen verübtes Massaker überlebten: Die Mutter war schon Monate zuvor geflohen, der Vater war auf einem Arbeitseinsatz außerhalb des Gettos und wurde dann von einer Familie versteckt.
Eine deutsche Einsatzgruppe hatte Juden Massengräber ausheben lassen und erschoss sie dann am Rand der Grube. Historiker schätzen, dass insgesamt bis zu 2,2 Millionen Menschen bei solchen Massenerschießungen in Osteuropa ermordet wurden.
Auf zwei Fragen sucht Esther Safran Foer Antworten: Wer versteckte ihren Vater? Und wie hieß ihre Halbschwester?
Erst als sie selbst schon über 40 Jahre alt war, erfuhr sie von ihrer Mutter, dass der Vater zuvor schon einmal verheiratet gewesen war. Seine erste Frau und seine Tochter wurden bei dem Massaker getötet.
Der Vater beging 1954 Selbstmord. Er war depressiv, ausgelöst vermutlich durch das Schweigen über sein Schicksal und den Druck, der oftmals unter jüdischen Immigranten herrschte, immer nach vorne sehen zu müssen, sich nicht mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
Recherche in Datenbanken
Esther Safran Foer recherchiert in Datenbanken mit DNA-Analysen und führt Gespräche mit Zeitzeugen in Nord- und Südamerika, Israel und der Ukraine. Sie schreibt über den Antisemitismus in der US-Einwanderungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, über ihre Subjektivität und die Sehnsucht nach einer großen Familie - und darüber, wie sie allmählich Antworten auf ihre Fragen findet.
Manches glückt nach harter Recherche, manches durch aneinandergereihte Zufälle. Schließlich trifft sie Nachfahren der Familie, die ihren Vater gerettet hatte, und eine alte Frau, die sich an ihre damals fünf- oder sechsjährige, schwarzhaarige Halbschwester erinnert.
Ein Erinnerungsbuch mit doppeldeutigem Titel
Esther Safran Foer schreibt in einer lakonischen, unprätentiösen Sprache und doch oft auch sehr stimmungsvoll. Ihr gelingt im besten Sinne ein Erinnerungsbuch.
Dessen doppeldeutiger Titel zieht eine Verbindungslinie zu ihren Vorfahren – seht, uns gibt es noch - und ist zugleich ein wundervoll selbstbewusster Satz der Überlebenden: Wir sind noch da.