Krieg und Verrat
Mit ihrem Roman "Fegefeuer" wurde die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen im Jahr 2008 mit einem Schlag international bekannt. Jetzt erscheint ihr neuer Roman, der von der Besatzung Estlands durch die Nazis erzählt.
Die Kirche strahlt weiß und warm, als Sofi Oksanen am späten Nachmittag den Friedhof des 300-Seelen-Dorfs Kullamaa betritt. Passt ja, denkt man unwillkürlich. Denn die finnisch-estnische Autorin zelebriert den Gothic-Look: Sie trägt einen langen schwarzen Mantel, hat schwarze Dreadlocks mit violetten Akzenten. Auf ihrem Mund violetter Lippenstift. Der springt geradezu hervor aus Sofi Oksanens bleich geschminktem Gesicht.
"Dies ist der Friedhof meiner Familie. Ich habe ihn schon sehr oft besucht, schon als Kind, immer, wenn wir nach Estland einreisen durften. Damals war das Land noch von der Sowjetunion besetzt. Deshalb war alles sehr bürokratisch. Und wir haben auch nicht immer ein Visum bekommen, um nach Haapsalu zu reisen. Aufs Land zu fahren war für Ausländer auch eigentlich generell verboten. Und hier sind wir nun wirklich auf dem Land!"
Hier, im Westen Estlands, am Rande eines Dorffriedhofs, lässt Sofi Oksanen ihren neuen Roman "Als die Tauben verschwanden" beginnen. Der Este Roland, Ich-Erzähler des Buchs, kämpft für die Freiheit seines Landes. Zuerst gegen die Rote Armee. Als 1941 die Nazis die Rote Armee zurückdrängen und im Land die Macht übernehmen, verschwindet Roland im Untergrund. Seine Verlobte aber ist tot, ist, während seiner Abwesenheit, still und heimlich begraben worden:
"Ich ging an der Mauer entlang, stolperte über Gräber und wich Kreuzen aus. Wenn irgendwo, dann erwartete ich hier, ihre Stimme zu hören. In der Kirche dort sollten wir getraut werden, vor dem Altar sollte ich den Schleier meiner Braut sehen, über den sie sich so gefreut hatte und auf den sie mit schüchternem Lächeln angespielt hatte. Die Nacht war sternklar, und als ich zum Komposthaufen kam, suchte ich eine Stelle, an der kürzlich gegraben worden war. Ich fandsie leicht, Kreuz und Blumen fehlten, selbst ein Hund hätte einen besseren Platz im Schoß der Erde bekommen."
"Dies ist der Friedhof meiner Familie. Ich habe ihn schon sehr oft besucht, schon als Kind, immer, wenn wir nach Estland einreisen durften. Damals war das Land noch von der Sowjetunion besetzt. Deshalb war alles sehr bürokratisch. Und wir haben auch nicht immer ein Visum bekommen, um nach Haapsalu zu reisen. Aufs Land zu fahren war für Ausländer auch eigentlich generell verboten. Und hier sind wir nun wirklich auf dem Land!"
Hier, im Westen Estlands, am Rande eines Dorffriedhofs, lässt Sofi Oksanen ihren neuen Roman "Als die Tauben verschwanden" beginnen. Der Este Roland, Ich-Erzähler des Buchs, kämpft für die Freiheit seines Landes. Zuerst gegen die Rote Armee. Als 1941 die Nazis die Rote Armee zurückdrängen und im Land die Macht übernehmen, verschwindet Roland im Untergrund. Seine Verlobte aber ist tot, ist, während seiner Abwesenheit, still und heimlich begraben worden:
"Ich ging an der Mauer entlang, stolperte über Gräber und wich Kreuzen aus. Wenn irgendwo, dann erwartete ich hier, ihre Stimme zu hören. In der Kirche dort sollten wir getraut werden, vor dem Altar sollte ich den Schleier meiner Braut sehen, über den sie sich so gefreut hatte und auf den sie mit schüchternem Lächeln angespielt hatte. Die Nacht war sternklar, und als ich zum Komposthaufen kam, suchte ich eine Stelle, an der kürzlich gegraben worden war. Ich fandsie leicht, Kreuz und Blumen fehlten, selbst ein Hund hätte einen besseren Platz im Schoß der Erde bekommen."
Intensive Recherche für den Roman
Roland glaubt nicht an einen Selbstmord seiner Verlobten, vermutet stattdessen, ein Nazi habe sie umgebracht. Rolands Cousin Edgar, ein ebenso feiger wie skrupelloser Opportunist, der seine eigenen Papiere und überhaupt sein gesamtes Leben fälscht, macht bei den Nazis Karriere und arbeitet am Aufbau eines Konzentrationslagers in Estland mit.
Später, in den 60er Jahren, als Estland Teil der Sowjetunion ist, wird Edgar zum propagandistischen Buch-Autor, stellt sich selbst als Widerstandskämpfer dar und seinen Cousin Roland als Kriegsverbrecher. Edgars Frau Juudit wiederum will nur eine eigene glückliche Familie haben und gerät doch auf gefährliche Weise zwischen die beiden so verschiedenen Cousins.
Raffiniert arrangiert Sofi Oksanen die Lebenswege ihrer drei Hauptfiguren. Sie hat intensiv für ihren neuen Roman recherchiert, hat Geschichtsbücher gewälzt, Archivmaterial durchforstet und Geheimdienstberichte der Nazis gelesen:
"Natürlich habe ich auch Geschichten über die Zeit der deutschen Besatzung Estlands gehört. Menschen, die damals Kinder waren, haben sich daran erinnert, wie irgendwann die Tauben aus Estland verschwunden waren und zuvor deutsche Soldaten den Tauben hinterherliefen. Die Kinder wussten nicht, warum, verstanden nicht, dass die Soldaten die Tauben gejagt haben, um sie zu essen. So kam mir die Idee zum Titel des Romans."
"Natürlich habe ich auch Geschichten über die Zeit der deutschen Besatzung Estlands gehört. Menschen, die damals Kinder waren, haben sich daran erinnert, wie irgendwann die Tauben aus Estland verschwunden waren und zuvor deutsche Soldaten den Tauben hinterherliefen. Die Kinder wussten nicht, warum, verstanden nicht, dass die Soldaten die Tauben gejagt haben, um sie zu essen. So kam mir die Idee zum Titel des Romans."
Unprätentiöse, präzise und schöne Sprache
Wie leicht hätte "Als die Tauben verschwanden", bei so viel Geschichte und so viel Krieg, ermüdend wirken können. Aber wie schon in ihrem Roman "Fegefeuer" gelingt es Sofi Oksanen auch in ihrem neuen Buch, die Spannung zu halten, bis zum grandiosen Schluss. Da sind die dramatischen Bilder, die die Widerwärtigkeit des Kriegs brutal vor Augen führen: der verrückt gewordene Soldat, der dem bereits toten Gegner noch den Schädel zertrümmert; der Nazi, der bei der Hinrichtung eines KZ-Häftlings eine Erektion hat.
Da ist die Kunst der Autorin, sich in ihre Figuren bis in die tiefsten Ecken der Seele hineinzuversetzen, um so dem Leser das Schwanken zwischen Misstrauen und Vertrauen in Zeiten des Verrats näherzubringen. Und nicht zuletzt ist da Sofi Oksanens unprätentiöse, aber ebenso präzise wie schöne Sprache.
"Das ist das Grab von Sitta Kodt Matz, von Scheiß-Taschen-Matthias."
"Das ist das Grab von Sitta Kodt Matz, von Scheiß-Taschen-Matthias."
"Gothic-Subkultur hat nicht zwangsläufig mit dem Tod zu tun"
Sofi Oksanen ist auf dem Friedhof von Kullamaa vor einem fast 400 Jahre alten Stein stehengeblieben, der wie ein gestutztes Keltenkreuz aussieht. Der estnische Bauer Matz war ein Leibeigener. Während der Arbeit sammelte Matz in einer Tasche Pferdekot und düngte damit am Abend sein eigenes Feld, verdiente so schließlich genug Geld, um sich von seinem deutschen Lehnsherrn freizukaufen.
"Diese Geschichte hat man mir schon als Kind erzählt. Es ist die Geschichte von der Sehnsucht nach Freiheit. Aber für mich hat sie noch eine andere Bedeutung: Egal, aus welcher Familie du stammst, du kannst immer noch tun, was du wirklich willst."
Sofi Oksanen legt ein Münze zu den anderen Münzen auf dem Grabstein und zündet sich eine Zigarette an. Die Sonne ist untergegangen. Die schwarze Kleidung der Autorin wirkt nun noch schwärzer. Ihre voluminösen silbernen Fingerringe leuchten im Dämmerlicht. Hier auf dem Friedhof scheint die Gothic-Anhängerin ganz in ihrem Element zu sein.
"Die Gothic-Subkultur hat nicht zwangsläufig mit dem Tod zu tun, auch wenn das viele Menschen glauben. Die beste Definition der Gothic-Subkultur ist folgende: Es ist das nostalgische Gefühl gegenüber einer Welt, die nie existiert hat."