Menschen, die bereits existieren, haben wir nach Kräften glücklich zu machen, aber wir haben keine analoge Verpflichtung, gleichzeitig mehr glückliche Menschen zu machen.
Bevölkerungsethik
Können wir mit der Natur im Einklang leben? Auch diese Frage entscheidet über eine lebenswerte Zukunft, sagt der Philosoph Tim Henning. © unsplash / Victoria Strukovskaya
Wem schulden wir eine Zukunft?
31:26 Minuten
Die Menschheit martert den Planeten durch die Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Wäre es für die Erde am Ende besser, wenn die menschliche Spezies einfach ausstürbe, fragt der Philosoph Tim Henning. Sollten wir uns selbst abschaffen?
Lange Zeit haben Religionen Szenarien vom Ende der Menschheit entworfen, nicht zuletzt, um damit moralischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Heute sind es mitunter die Wissenschaften, die unsere Spezies in eine Sackgasse laufen sehen. Vor allem die drohende Klimakatastrophe stellt unser Überleben auf der Erde infrage.
Hoffnung auf eine nachhaltige Lebensweise
Der Philosoph Tim Henning, Professor für praktische Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, stellt in seinem Buch "Die Zukunft der Menschheit" die grundsätzliche Frage: "Soll es uns weiter geben?" Aber Henning redet nicht dem Untergang der menschlichen Spezies das Wort, denn:
"Es steht zu hoffen, dass es die Möglichkeit gibt, dass Menschen durchaus auch im Einklang mit der Natur und in nachhaltiger Art und Weise eine Existenz fristen."
Es stellt sich allerdings die Frage, unter welchen Bedingungen wir ein zukünftiges Leben auf der Erde als lebenswert erachten - und welche Pflichten wir deshalb schon heute gegenüber Menschen haben, die den Planeten nach uns bewohnen könnten.
Rechte und Pflichten sind an einzelne geknüpft
Die Denkschule des sogenannten "Longtermism" vertritt dabei eine besonders anspruchsvolle Position: Sie geht davon aus, dass wir die ethische Pflicht haben, möglichst vielen Menschen zur Existenz zu verhelfen, damit sie die Chance erhalten, ein glückliches Leben zu führen. Tim Henning widerspricht dieser Auffassung.
Henning betont, dass moralische Rechte und Pflichten immer auf konkrete Individuen bezogen seien: "Wir haben sie zu respektieren und zu achten und - aus diesem Grund heraus - ihnen auch zu einem glücklichen Leben zu verhelfen."
Der Longtermism stelle dieses ethische Prinzip auf den Kopf: Indem er das abstrakte Ideal eines "glücklichen Lebens" zum Ideal erhebe und daraus die Forderung ableite, möglichst viele Menschen zu zeugen, so dass sie dieses Glück erleben und vermehren können, behandle er diese Menschen im Grunde als Mittel zum Zweck.
Verantwortung für kommende Generationen
Die Frage, welche Rechte zukünftige Menschen haben und was wir ihnen schulden, sei nichtsdestotrotz für unser heutiges Handeln relevant, sagt Henning. Wenn es im Rahmen unserer Möglichkeiten sei, kommenden Generationen eine Welt zu hinterlassen, in der sie ein ebenso gutes Leben führen können wie wir oder sogar bessere Bedingungen vorfinden, dann seien wir durchaus moralisch dazu verpflichtet.
Wenn es jedoch um die konkrete Entscheidung gehe, ob wir weitere Menschen in die Welt setzen möchten oder nicht, dann sollten wir uns lieber die Frage stellen: "Können wir uns sicher genug sein, dass sie keinen Grund haben, sich darüber zu beklagen?"
"Dann sind es erst einmal wir, die sicherstellen müssen, dass wir das überhaupt dürfen, dass es überhaupt zulässig ist", sagt Henning, "statt, wie Longtermisten gedacht hätten, zu glauben, dass wir erst mal eine Entschuldigung brauchen, wenn wir es nicht tun."
Tim Henning: "Die Zukunft der Menschheit. Soll es uns weiter geben?"
Springer Verlag, Berlin 2022
157 Seiten, 14,99 Euro