Ethik

"Das Sterben ist eine Form von Leben"

Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), kurz vor der Erklärung seines Rücktritts
Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), kurz vor der Erklärung seines Rücktritts © picture alliance / dpa
Moderation: Philipp Gessler |
Nikolaus Schneider, scheidender EKD-Ratsvorsitzender, plädiert dafür, ganz neu über die Sterbebegleitung nachzudenken. Seine kranke Frau zum Sterben in die Schweiz zu begleiten, allein für das Inbetrachtziehen dieser Möglichkeit wurde Schneider stark kritisiert. Doch er sieht sich auch an die Postionen der Kirche gebunden.
Deutschlandradio Kultur: Zu dieser Ausgabe von Tacheles begrüßt Sie Philipp Gessler. Mein Gast heute ist Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD, der oberste Repräsentant der Evangelischen Kirche hierzulande. Zu ihr gehören derzeit rund 23 Millionen Gläubige. Sprechen wollen wir in den kommenden gut 30 Minuten über Sterbehilfe und den assistierten Suizid – ein schweres Thema.Dennoch: Guten Tag, Herr Schneider.
Nikolaus Schneider: Schönen guten Tag, Herr Gessler.
Deutschlandradio Kultur: Herr Ratsvorsitzender, wie geht es denn Ihrer Frau Anne?
Nikolaus Schneider: Wir erleben im Augenblick die Chemotherapie. Die Therapie hat drei Phasen, erst Chemo, dann Operation, dann Bestrahlung. Und die Chemotherapie hat Nebenwirkungen, und im Augenblick kämpfen wir sehr mit den Nebenwirkungen. Und es ist schon gut, dass ich sehr bald richtig viel Zeit habe für meine Frau und dass ich es auch schon sehr viel besser kann als vorher.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Frau Anne und Sie sind ja Mitte Juli mit der Nachricht in die Öffentlichkeit gegangen, dass Ihre Frau schwer Krebs hat. Vor neun Jahren ist Ihre Tochter Meike an Leukämie gestorben. Die Erkrankung Ihrer Frau ist der Grund dafür, dass Sie Ihr Amt als EKD-Ratsvorsitzender nun im November abgeben werden, ein Jahr früher als geplant. – Was ist denn seit Juli, seit dieser Nachricht geschehen? Hat sich Ihre Hoffnung verstärkt, dass es dann doch irgendwie gut ausgehen könnte?
Nikolaus Schneider: Es ist so, dass die Therapie anschlägt. Das kann man nachweisen. Das sieht man. Und insofern ist unsere Hoffnung gewachsen, dass die Therapie zum Erfolg führt, dass entweder der Krebs besiegt wird, dass er vollständig besiegt wird oder dass wir viel Zeit gewinnen und noch eine gute Zeit miteinander haben werden. Diese Hoffnung ist bei uns doch stark gewachsen.
Deutschlandradio Kultur: Damals, Mitte Juli, sind Sie in die Öffentlichkeit gegangen mit der Aussage, Sie würden Ihre Frau begleiten, wenn sie in die Schweiz fahren würde, um dort an einem assistierten Suizid teilzuhaben, ihn vorzunehmen etwa durch das Trinken eines Giftgetränks. Sie sagten aber gleichzeitig, das würden Sie tun aus Liebe und "gegen meine Überzeugung“, wie Sie sagen. Haben Sie diesen Gang in die Öffentlichkeit und auch diese Offenheit jemals bereut seitdem?
Nikolaus Schneider: Nein, das haben wir nicht bereut. Wir haben diese Themen schon immer miteinander diskutiert. Wir haben dies auch in einer gewissen Öffentlichkeit getan, sei sie nun gemeindlich oder kirchlich, und waren auch geübt im Austausch der Argumente. Wir halten es auch für richtig, dass diese Fragen öffentlich diskutiert werden, und zwar auf dem Niveau, wie wir es im Augenblick auch erleben.
Denn der Umgang mit Menschen am Anfang des Lebens und am Ende des Lebens ist ganz entscheidend für das Niveau der humanen Qualität in unserem Land. Es zeigt sich wie in einem Focus, was menschliches Leben für uns bedeutet, welche Aufmerksamkeit wir ihm widmen, was wir bereit sind an Ressourcen, an Zeit, an Kraft einzusetzen, um Menschen in den Extremsituationen des Lebens zu begleiten und ihnen beizustehen und ihnen auch zu helfen, diese Situationen zu bewältigen.
Und diese Diskussion bedauern wir nicht, sondern wir begrüßen sie. Denn das ist etwas, was jeden Menschen potenziell betrifft, weil. Wir werden alle einmal sterben. Und wie unser Sterben sein wird, das wird ganz am Ende nochmal eine ganz entscheidende Lebensphase für uns sein. Und aus diesem Grunde sind die Fragen auch ernsthaft zu diskutieren.
"Alles tun, dass Menschen dann nicht auch noch alleine sind"
Deutschlandradio Kultur: Gab es denn eigentlich Kritik auch von Kirchenseite, so nach dem Motto: Du hättest mit dieser Angelegenheit, auch mit deiner Bereitschaft, notfalls in die Schweiz zu fahren, nicht in die Öffentlichkeit gehen sollen. Du weichst damit unsere Position als Kirche auf.
Nikolaus Schneider: Ganz vereinzelt hat es diese Kritik gegeben, aber von keinem einzelnen leitenden Geistlichen. Da habe ich Unterstützung und Verständnis erfahren. Und auch von allen wesentlichen Ethikern unserer Kirche habe ich Unterstützung erfahren, die alle gesagt haben, dass die Liebe uns natürlich dazu bringt, geliebte Menschen zu begleiten, und dass in dieser Begleitung die Bedürfnisse des geliebten Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht unsere eigene Überzeugung im Mittelpunkt stehen kann, damit wir den Menschen gerecht werden.
Ich muss allerdings auch hinzufügen, die Liebe meiner Frau zu mir bringt es mit sich, dass sie nie etwas durchsetzen würde, wozu ich denn nun überhaupt nicht bereit wäre, was mir gar nicht möglich wäre. Also, sie sozusagen aktiv umzubringen, ihrem Leben aktiv ein Ende zu setzen, das würde sie nie von mir erwarten. Und das kann ich mir auch überhaupt nicht vorstellen. Aber ihre Hand zu halten und sie nicht allein zu lassen und bei ihr zu sein auf diesem schweren Weg, das kann ich mir vorstellen.
Wobei ich auch sagen muss, die Schweiz steht für etwas. Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Frau, wenn es nun schlecht geht mit der Therapie und wenn sie ihre Krebserkrankung nicht überleben sollte, da bin ich aber fest davon überzeugt, dass es nicht nötig sein wird, dass sie in die Schweiz fährt, sondern dass sie die Hilfe bekommt, die sie auch braucht. Denn auch bei ihr ist die Frage: Werde ich Schmerzen haben, wenn ich sterben muss? Werde ich allein sein? Wird das in einer Weise geschehen, die einem würdigen Leben entspricht, so wie ich mir das vorstelle? Und da bin ich ziemlich sicher, dass wir das hinkriegen werden. Aber, wie gesagt, ich stehe zu dem Wort. Im äußersten Fall wäre ich auch dazu bereit, Schritte zu gehen, die ich selber nicht für mich akzeptieren könnte und die ich auch ethisch nicht rechtfertigen könnte.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schneider, ich fürchte, wir müssen jetzt vielleicht ein paar Begriffe und auch ein wenig die Rechtslage klären. Ich darf mal etwas referieren: Also, der Suizid oder besser der Suizidversuch, also der Versuch der Selbsttötung, ist in Deutschland straflos. Deshalb wird auch die Beihilfe dazu, also der assistierte Suizid, etwa das Reichen eines Giftbechers, nicht geahndet, auch wenn es da unter Umständen bei den Suizidhelfern nach dem Betäubungsmittelrecht ein paar Unklarheiten gibt. Die aktive Sterbehilfe, also das Setzen einer Spritze etwa, von wem auch immer, ist – anders als in Belgien zum Beispiel – strafbar.
Sie haben jetzt in einer Talkshow gesagt, es sei ganz wichtig, dass der assistierte Suizid grundsätzlich nicht verboten ist. "Ja“, haben Sie gesagt, "Assistenz beim Suizid, etwa durch eine nahestehende Person, sei da nötig“, wenn Sie da richtig zitiert wurden. – Warum haben Sie diese Ansicht?
Nikolaus Schneider: Weil gerade in extremen Notsituationen, wo Menschen für sich keinen anderen Weg mehr sehen, eine seelsorgerliche Begleitung sozusagen das Mindestmaß an Liebe ist, was wir aufzubringen haben, auch an gesamtgesellschaftlicher Solidarität.
Wenn Menschen an den Punkt kommen, dass sie ihr Leben nicht mehr leben können, dann ist das ja Ausdruck dafür, dass das sozusagen ausweglos für sie geworden ist. Sie dann auch noch alleine zu lassen, wäre eine Härte, die wir als Gesellschaft vermeiden sollten, wo wir alles tun sollten, dass Menschen solche Härten nicht erleben. Und das ist der Grund, weshalb ich sage: In solchen Situationen müssen wir Menschen begleiten, müssen wir alles tun, dass Menschen dann nicht auch noch alleine sind.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt sagt ja die Katholische Kirche dazu, ich darf mal zitieren: "Aus ethischer Sicht ist die Beihilfe zur Selbsttötung sowohl durch Organisationen als auch durch Ärzte und andere nahestehende Personen“ - also, es ist eine sehr weite Definition - "abzulehnen.“ Der evangelische Landesbischof von Bayern, Heinreich Bedford-Strohm, der ja auch ganz gute Chancen hat, was man so hört, Ihr Nachfolger zu werden im Amt des Ratsvorsitzenden, verweist gleichzeitig in einem Interview auf die Position der Evangelischen Kirche, die sagt, dass die rechtliche Freigabe des assistierten Suizids abzulehnen sei. - Ihre Aussage, eine Assistenz bei einem Suizid sei nötig, weicht dann doch diese Position etwas auf. Oder sehe ich das falsch?
Nikolaus Schneider: Wir müssen klären, welches Verhalten wir im Einzelnen meinen. Ich lehne ab die organisierte Form von Beihilfe.
Deutschlandradio Kultur: Aber das lehnt eigentlich jeder ab.
Nikolaus Schneider: Kein Verein, auch kein Geschäftsmodell – das lehne ich ab. Was den ärztlich assistierten Suizid angeht, sage ich: Da bin ich auch zurückhaltend. Denn Ärzte sollen für das Leben stehen. Ärzte sollen Leben bewahren. Ärzte sollen Schmerzen lindern, natürlich, dies auch. Und Ärzte sollen das Sterben begleiten. Aber das Sterben ist eine Form von Leben. Und diese grundsätzliche Lebensorientierung, die muss durchgehalten werden. Und das halte ich auch für absolut nötig.
Bleiben die Menschen, die anderen nahestehen, die einen solchen Weg für sich gehen wollen: Und hier halte ich es für eine Menschenpflicht, sich einer solchen Assistenz nicht zu verweigern. Wir können dies nicht als eine ethische Norm einführen und wir müssen auch darauf achten, dass die Lebensorientierung durch die gesetzlichen Regelungen klar durchgehalten wird. Aber es ist ja jetzt schon klare gesetzlich Regelung, da der Versuch, wie Sie es richtig sagen, der Versuch zum Suizid nicht strafbar ist, ist auch die Beihilfe bei diesem Versuch nicht strafbar. Und ich finde, in diesem Rahmen können wir uns bewegen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie definieren tatsächlich Assistenz in dem Augenblick als "Handhalten" und nicht als "den Giftcocktail mischen"?
"Menschliche Solidarität gehört in den Vertrauensraum persönlicher Beziehungen"
Nikolaus Schneider: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Im Bundestag wird ja auch derzeit diskutiert, ob die organisierte Form der Suizidbeihilfe etwa durch so genannte Suizidvereine, Selbsthilfevereine für Sterbehilfe, zu verbieten seien. Sie lehnen, wenn ich das richtig sehe, wie die Kirchen die gewerbsmäßige Suizidhilfe ab, Sie haben es eben nochmal gesagt, auch die nichtkommerzielle organisierte Suizidhilfe durch Vereine, wie man sie zum Beispiel in der Schweiz ja häufiger findet.
Aber mal ganz grundsätzlich gefragt, weil mir das nicht ganz klar ist: Was wäre denn eigentlich falsch an einer organisierten Suizidhilfe durch Vereine auch hierzulande, wenn diese Suizidhilfe nicht kommerziell ist?
Nikolaus Schneider: Ich denke, dass diese menschliche Solidarität in den Vertrauensraum persönlicher Beziehungen gehört und dass sie nicht anonymisiert werden darf über Vereine und dass sie nicht einrücken darf sozusagen in das Berufsbild eines Arztes oder so. Sondern sie ist eine humanitäre Haltung. Sie ist ein grundsätzlicher menschlicher Beistand, den wir einander leisten. Und der gehört in den Vertrauensbereich von Menschen, die einander nahestehen und die eben auch dieses Vertrauen zueinander haben. Das ist für mich der Grund.
Deutschlandradio Kultur: Wäre es denn dann eigentlich auch möglich, dass es eine organisierte, eine nichtkommerzielle organisierte Hilfe zum Suizid gäbe? Und wäre das dann in dem Fall so ähnlich wie bei einer Abtreibung, dass es zwar illegal ist, aber nicht strafbewehrt?
Nikolaus Schneider: Also, die organisierte Form lehne ich ab, weil ich meine, dass hier dieser Vertrauensbereich, um den es mir geht, nicht mehr gegeben ist. Aus diesem Grund wirklich keine Organisation! Und aus diesem Grunde würde ich auch nicht weiter darüber nachdenken, ob man dann zu anderen Formen kommt, wo man sagt, verbieten, aber dann straffrei setzen. Ich kenne den Vorschlag, der ja nun kürzlich von vier herausragenden Persönlichkeiten unterbreitet wurde, die also verbieten wollen die Beihilfe, dies aber durchaus dann eben auch organisiert geschehen lassen wollen, aber dann sagen, wir verzichten auf die Strafverfolgung, ähnlich wie bei der Schwangerschaftskonfliktberatung bzw. wie bei der Abtreibung.
Ich habe auch den Eindruck, dass die Erfahrungen, die wir da gemacht haben, auch problematisch sind. Ich weiß von Berichten, dass etwa bei einer Diagnose, dass eine Mutter ein Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit der Behinderung in sich trägt, dass nach dieser Diagnose und der Bekanntgabe sehr häufig die automatische Frage erfolgte: Und wann treiben wir ab? Wann machen wir den Termin für die Abtreibung?
Das heißt, das Bewusstsein löst sich auf, dass das eigentlich ein Schritt ist, den man nicht machen kann.
Deutschlandradio Kultur: So ähnlich ist es ja anscheinend auch in Belgien. Dort sind im letzten Jahr die Anträge auf Sterbehilfe um 27 Prozent gestiegen. Das heißt, es scheint in Belgien nach und nach etwas relativ Normales zu sein, dass man sogar aktive Sterbehilfe in Anspruch nimmt.
Nikolaus Schneider: Tötung auf Verlangen, aktives Töten darf kein Normalfall in unserer Gesellschaft werden. Das ist genau der Punkt, um den es mir geht. Deshalb bin ich da so zurückhaltend. Deshalb sage ich, eine grundsätzliche menschliche Solidarität dürfen wir nicht verweigern. Die Hand müssen wir halten. Wir dürfen den Menschen nicht alleine lassen, gerade wenn es eben so ausweglos für ihn ist. Das ist einfach ein Gebot der Nächstenliebe, dem wir uns nicht entziehen dürfen. Aber das ist eben ein menschliches Basisverhältnis.
Und alles, was gesellschaftliche Normen und gesellschaftliche Grundordnungen verändert, das lehne ich ab. Das dürfen wir nicht ermöglichen. Und die Sorge ist eben, dass wir durch organisierte Formen ein verändertes Bewusstsein in unserer Gesellschaft an dieser Stelle bekommen – wie Sie es gerade am Beispiel Belgien ja auch genannt haben. Und aufgrund dieser Sorge lehne ich die anonymisierte Form, auch die organisierte Form ab.
Deutschlandradio Kultur: Herr Ratsvorsitzender, für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass alte Menschen, wenn es tatsächlich eine Liberalisierung geben sollte in diesem Bereich, dann vielleicht tatsächlich eines Tages oder vielleicht schon in den nächsten Jahren immer stärker unter Druck geraten, so nach dem Motto, Mama, du leidest doch so viel, mach endlich Schluss?
Nikolaus Schneider: Oder: Mama, ich kann deinem Leiden nicht mehr zuschauen, mute mir das nicht länger zu. Oder: Mama, nun haben wir schon so viele Jahre auf das Erbe gewartet, und es steht gerade der Hausbau an, und wir könnten es gut gebrauchen… - Also, das Allerletzte war jetzt sehr böse, aber es gibt so was. Es ist sicher nicht der Normalfall, aber es kommt vor.
Und wir kennen ja Berichte und auch Untersuchungen – etwa aus Holland, dass alte Menschen diesen Druck auch empfinden. Und dass ein solcher Druck bei uns entsteht, ich finde, das darf nicht sein. Eine Gesellschaft sollte sich dadurch auszeichnen, dass sie lebensorientiert ist, dass sie alles tut, was dem Leben hilft, und dass sie alles vermeidet, was den Tod und das Sterben herbeiführt oder Druck in Richtung Sterben und Tod erzeugt, dass Menschen ihrem Leben dann ein Ende setzen wollen, weil sie nicht zur Last fallen wollen, weil sie die Sorge haben, zu viele Kosten zu produzieren, oder weil sie dem Lebensglück anderer entgegenstehen, das, finde ich, darf nicht sein. Das Sterben gehört zum Leben hinzu.
Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie weit sie bereit ist und in der Lage ist, das Sterben zu begleiten, das Sterben auszuhalten und das Sterben so zu gestalten, dass Menschen auch gut und in Frieden sterben können.
Deutschlandradio Kultur: Nun wird ja bei diesen ganzen Diskussionen immer wieder gesagt, die Palliativmedizin, also die Therapien zur Schmerzlinderung, könnte ein gewisser Ausweg sein, dass eben, wenn man das ausbaut, tatsächlich der Wunsch nach einer irgendwie gearteten Sterbehilfe weniger ist. Aber was wissen Sie darüber, über die Palliativmedizin? Ist es wirklich möglich, da am Ende schmerzfrei zu sterben? Wie wahrscheinlich ist das?
Nikolaus Schneider: Ich denke, der Ausbau der Palliativmedizin und auch von ambulanten und stationären Hospizen ist ein großer Segen. Wir haben da schon ein gutes Niveau erreicht, aber das ist verbesserungsfähig. Vor allen Dingen in der Fläche haben wir da noch einiges zu tun.
Wir wissen, dass einer der Gründe für den Wunsch nach Beendigung des Lebens darin besteht, dass Menschen Angst vor Schmerzen haben, Angst davor, gequält und unter Schmerzen zu sterben. Insofern ist der Ausbau der Palliativmedizin und der ambulanten und stationären Hospize ein ganz, ganz wichtiges Instrument, damit ein solcher Druck auf Menschen, solche Ängste bei Menschen nicht entstehen. Denn die zweite Angst ist ja, allein zu sein. Also, da kann man viel erreichen.
Deutschlandradio Kultur: Darf ich da mal einhaken: Das Problem aber mit der Palliativmedizin ist ja, dass man tatsächlich dann in manchen Fällen die Situation hat, dass ein Mensch tatsächlich keine Schmerzen mehr hat, aber de facto bewusstlos stirbt. Ist das immer noch dann ein würdiger Tod oder auch, pathetisch gesagt, ein guter christlicher Tod?
Nikolaus Schneider: Also, dass ein Mensch bewusstlos stirbt, kommt ja auch so häufig genug vor. Das wäre für mich wieder in Kauf zu nehmen. Das glaube ich, ja. Die Schmerzfreiheit ist das Vorrangige. Sie ist das Vorrangige gegenüber der Stundenzahl mit Bewusstsein und der Lebenszeit. Das würde ich so einschätzen.
Ich wollte nur eben noch weiter ausführen: Man darf sich nichts vormachen. Bei allem Ausbau von Palliativ und Hospiz, es wird auch noch zwei Kategorien geben, die bleiben einfach als Problem. Das eine ist: Es wird Situationen geben, wo man Menschen die Schmerzen eben nicht nehmen kann. Das wird’s geben. Und die Frage wird dann brennend: Was tun wir in solchen Situationen, wenn wir eben die Schmerzfreiheit nicht garantieren können? Das wird’s geben.
Das andere Problem ist: Es gibt Menschen, die haben einen Wunsch zu sterben, den sie nicht loswerden. Und dann kann man noch so viel tun und organisieren, und dann kann es objektiv noch so sehr gesichert sein, dass sie nicht alleine sind und dass keine Schmerzen sind, sie wollen trotzdem sterben. Das gibt es. Und das ist die Herausforderung, wie wir dann mit solchen Situationen umgehen. Und hier, meine ich, ist eine Begleitung angesagt, also dürfen wir die grundsätzliche menschliche Solidarität nicht verweigern und die Nächstenliebe nicht verweigern - aber auf das Verlangen eingehen, dass wir sie dann töten, das dürfen wir eben auch nicht. Tötung auf Verlangen kommt dannnicht infrage, sondern dann ist nur eine Begleitung, auch bei einem solchen Verhalten dann das, was nötig ist.
Deutschlandradio Kultur: Vor neun Jahren, das habe ich ja schon angesprochen, ist Ihre Tochter Meike an Leukämie, also einer Art Blutkrebs, gestorben. Mit Ihrer Frau haben Sie darüber ein bewegendes Buch geschrieben. Haben Sie sich manchmal überlegt in den letzten Monaten, was Ihre Tochter wohl zu dem Wunsch Ihrer Frau sagen würde, notfalls in die Schweiz zu gehen und dort einen assistierten Suizid zu begehen?
Nikolaus Schneider: Also, die Frage habe ich mir – offen gesprochen – nicht gestellt. Bei mir war eher ein Gefühl, das hieß: Also, jetzt bitte das nicht auch noch. Wir haben schon einiges zu tragen gehabt.
Aber wenn Sie mich jetzt so fragen und ich darüber nachdenke, es ist natürlich reine Spekulation, was Meike wohl dazu gesagt hätte, kann ich nur sagen, meine Frau und Meike waren in einem sehr, sehr engen Gespräch und einem sehr engen Austausch. Und die haben füreinander ganz viel Verständnis gehabt. Ich vermute fast, dass Meike den Wunsch meiner Frau verstanden hätte.
"So viel zu tragen und zu leiden"
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie denn manchmal in den letzten Monaten auch gedacht oder vielleicht sogar gebetet, warum schon wieder wir?
Nikolaus Schneider: Das habe ich in der Tat gedacht, dass es nun wirklich genug war und dass es uns auch wieder trifft. Das habe ich schon gedacht. Andererseits, das haben meine Frau und ich einander auch häufig gesagt, wenn man mal nach links und nach rechts schaut, dann ist so besonders unsere Situation auch wieder nicht. Es gibt so viele Menschen, die so viel zu tragen und zu leiden haben und häufig unter viel schwierigeren Bedingungen, dass wir immer noch unglaublich privilegiert sind, auch durch die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir mit unserem Leid und mit diesen Krankheitserfahrungen umgehen müssen, dass wir doch immer noch ein sehr dankbares Leben führen.
Deutschlandradio Kultur: Ich muss Sie das, glaube ich, als Theologe fragen: Die klassische Theodizeefrage stellt sich ja da im Grunde auch. Warum kann ein liebender, ein guter Gott so etwas zulassen?
Nikolaus Schneider: Die kann ich nicht beantworten, die klassische Theodizeefrage. Und ich denke, die kann kein Theologe beantworten. Aber wir werden sie nicht los. Wir müssen uns mit dieser Frage rumschlagen.
Was mich einfach tröstet, ist, dass auch Gottes Sohn in der berühmten Gethsemane-Szene gebeten hat, "lasst den Kelch an mir vorübergehen“, der also auch "warum“ fragte oder das ablehnte, am Ende aber sagen konnte: "Dein Wille geschehe.“ – Das ist auch unsere Erfahrung, dass wir auch in unseren Verzweiflungen gehalten sind.
Unser Glaube ist dadurch nicht infrage gestellt. Warum Gott solche Wege mit uns geht, das verstehen wir nicht, also bei diesem Punkt verstehen wir es nicht. Und das wird auch rätselhaft bleiben. Das werden wir vielleicht irgendwann mal direkt mit ihm von Angesicht zu Angesicht sozusagen, um das im Bild zu sagen, klären können. Darauf setzen wir. Meine Frau ist davon auch ganz fest überzeugt. Das ist übrigens ein Grund für sie, weshalb sie sagt, ich kann das Leben aus Gottes Hand nehmen, ich kann es aber auch zurückgeben hier auf der Erde, denn ich werde ja in meinem ewigen Leben wieder bei ihm sein. Also, das ist auch eines ihrer Argumente, und das glaubt sie wirklich. Da ist sie fest von überzeugt. Und das glaub auch ich. Und vielleicht können wir es dann mal klären.
Deutschlandradio Kultur: Wie Paulus sagt, "im Augenblick sehen wir nur durch Spiegel. Dann werden wir von Angesicht zu Angesicht sehen.“
Nikolaus Schneider: Ganz genau. Erster Korinther 13.
Deutschlandradio Kultur: Aber ich höre da heraus und – ehrlich gesagt – das überrascht mich schon etwas, dass anscheinend die Erkrankung Ihrer Frau den Glauben von ihr und vielleicht auch Ihren eher gestärkt hat.
Nikolaus Schneider: Er ist vertieft. Er musste sich mit Not auseinandersetzen. Er musste sich mit Rätselhaftigkeit auseinandersetzen. Wenn Sie so wollen, ist er ein Stückchen erwachsener geworden. So würde ich das empfinden, weil er einfach eben sozusagen durch die Krisen hindurch musste, die ja die Anfragen für uns auch bedeutet haben. Die Fragen stellen wir natürlich auch alle.
Und wir haben miteinander die Erfahrung gemacht, dass unser Glaube getragen hat und dass die Geschichten, die wir kennen, und die biblischen Texte, die wir kennen, und das Gebet, das wir miteinander sprechen und das wir eben auch täglich miteinander sprechen, dass all diese geistlichen Kraftquellen uns wirklich Kraft schenken und uns wirklich weiterhelfen. Und das hat unseren Glauben ja, wenn Sie so wollen, wie in einem etwas zerfurchten Gesicht, da sind ein paar Narben, aber es hat dann auch Charakter, also, es ist ein Stückchen reifer.
Deutschlandradio Kultur: Wobei natürlich die Anfrage an Ihre Frau noch härter ist als die Anfrage an Sie selbst.
Nikolaus Schneider: Ja, das ist so.
Deutschlandradio Kultur: Und wie gehen Sie damit um?
Nikolaus Schneider: Meine Frau geht so damit um, wie ich es auch gerade für mich beschrieben habe. Und meine Frau empfindet das nicht als jetzt noch eine besondere Bösartigkeit Gottes. Und meine Frau kann das Ganze auch einordnen. Die ist sehr nüchtern und sehr rational. Meine Frau sagt etwa: Sie will sich mit Meike im Ansatz nicht vergleichen, weil sie ein so erfülltes und reiches Leben bisher schon hatte, dass man nicht sagen kann, da fehlt noch was oder das alles müsse sie noch erleben, damit das Leben wirklich voll und rund wird. Sie hatte ein sehr reiches und erfülltes Leben. Das gilt auch für mich. Aus diesem Grunde ist doch diese Infragestellung des Lebens nicht der große Strich durch einen Lebensentwurf, der nun alles sinnlos machen würde. Das ist es nun gar nicht.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Schneider.
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