"Viele DDR-Heimkinder fühlen sich traumatisiert"
Etwa 440.000 Kinder in der DDR waren in Kinderheimen untergebracht. Dort waren sie mit Gewalt und fragwürdigen Erziehungsmethoden konfrontiert. Der Ethik-Professor Karsten Laudien erforscht die Geschichte dieser Heime und engagiert sich für die Opfer.
Wer als Kind ein DDR-Spezialkinderheim von innen kennengelernt hat, wird diese Zeit ein Leben lang nicht vergessen. Der Ethik-Professor Karsten Laudien von der Evangelischen Hochschule Berlin erforscht seit mehreren Jahren die Geschichte der Kinderheime in der DDR, und er engagiert sich, um ehemaligen Heimkindern bei der Aufarbeitung ihres Schicksals zu helfen. Rund 440.000 Kinder und Jugendliche durchliefen zwischen 1949 und 1990 eines der 720 Kinderheime, Spezialheime und Jugendwerkhöfe der DDR.
Viele können nicht vergessen, was ihnen angetan wurde
Viele von ihnen seien als gebrochene Menschen entlassen worden, sagt Karsten Laudien.
"Man fasst das immer unter der Rubrik posttraumatische Belastungsstörungen zusammen. Sie fühlen sich traumatisiert. Deren Leben ist rückwärts ausgerichtet, um es mal plakativ zu sagen. Sie können nicht vergessen, was ihnen in den Kinderheimen angetan worden ist. Sie leben zum Teil mit offenen Türen, weil sie keine geschlossenen Türen ertragen können. Sie kriegen Angst, wenn sie ein Schlüsselbund klappern hören. Sie können nicht mit der Bahn fahren, weil das ihnen zu eng ist.
Sie haben gewissermaßen ihr Lebenszentrum in der Vergangenheit gelassen. Und schaffen es einfach nicht - oder häufig nicht, man darf das natürlich nicht pauschalisieren - aber häufig eben nicht, eine unauffällige Partnerschaft zu führen. Sie schaffen es nicht, einem Beruf nachzugehen. Viele sind sozial sehr deklassiert. Viele haben Kinder, denen es ähnlich schlecht geht wie ihnen selbst, weil sich solche Phänomene auch zwischen den Generationen vererben."
Kollektivstrafen für "Kollektiv-Menschen"
Seit 2010 erforscht Karsten Laudien die Geschichte der DDR-Heimerziehung. Das Ausmaß an Gewalt in den Heimen hat ihn überrascht und lässt ihn bis heute nicht los. Die Kinder sollten zu "Kollektiv-Menschen" gemacht werden.
"In den Heimen hat man versucht, dass die Kinder ihre Erziehung zum Teil auch selbst übernehmen. Und das war eben auch bei Bestrafung so."
Es wurden "Kollektivstrafen" verhängt, etwa wenn eines der Heimkinder zu langsam beim Waschen gewesen sei oder sich zu spät in die Essensschlange eingereiht habe.
"Dann hat eben die ganze Gruppe nichts zu essen bekommen oder die ganze Gruppe hat Ausgehverbot bekommen oder die ganze Gruppe durfte abends kein Fernsehen schauen. Und das zu lösen, diesen Konflikt, dass einer die Ursache war und die Gruppe musste leiden, das hat man häufig dem Kollektiv überlassen. Und da sind unter den Kindern auch gewaltförmige Dinge passiert, die eben die Erzieher nicht weiter interessiert haben."
"Jahrhundertkind" arbeitet die Geschichte der Opfer auf
Im Jahr 2013 gründete Karsten Laudien zusammen mit seiner Kollegin Anke Dreier-Horning das Deutsche Institut für Heimerziehungsforschung. Daraus entwickelte sich auch die Internet-Plattform www.Jahrhundertkind.de.
"Wir versuchen, die ehemaligen Heimkinder in einen Prozess mit reinzunehmen, in dem sie ihre eigene Aufarbeitung mit voranbringen können. Und wir versprechen uns davon, dass sie selbst durch den Akt der Tätigkeit und durch die Wahrnehmung dieser Tätigkeit in der Öffentlichkeit Anerkennung erfahren. Und zwar nicht symbolische, sondern reale Anerkennung. Das heißt, sie verfassen ihre Lebensläufe, sie berichten über die Heime, sie machen Fotos, Bilder und Gedichte. Wir stellen sie auf unsere Jahrhundertkind-Plattform und wir hoffen, dass durch diese Art die Gesellschaft den Kindern ein Stück der Anerkennung zurückgibt."