Ethik und Zivilcourage

Was heißt Haltung zeigen?

25:30 Minuten
Ein junger Mann in selbstbewusster Pose bei einem Sprung.
Wer Haltung hat, ist kein Fähnchen im Wind. © unsplash/Drew Graham
Anja Reschke und Philipp Wüschner im Gespräch mit Stephanie Rohde |
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Fehlt es unserer Gesellschaft an Prinzipien und dem Mut, sich für sie einzusetzen? Die Journalistin Anja Reschke und der Philosoph Philipp Wüschner diskutieren, wie wir eine klare Haltung finden – und was diese von bloßer Meinung unterscheidet.
Migration, Digitalisierung, Klimawandel – die Welt ist im Umbruch, und wir sollen immer häufiger und immer schneller dazu Stellung nehmen: Haltung zeigen lautet die Devise. In Zeiten, wo Rechtspopulisten Wahlerfolge feiern und Debatten sich in sozialen Netzwerken extrem aufheizen, lautet die neue Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Haltung?

Hass und Hetze widersprechen

"Wir haben eine Situation, wo man sich dazu verhalten muss, wie wir mit Kräften umgehen, die ein sehr anderes Verständnis von unserem Land haben oder Demokratie und Menschenrechte infrage stellen", sagt die Fernsehjournalistin Anja Reschke. Als sie im August 2015 in einem Tagesthemen-Kommentar dazu aufrief, der Hetze gegen Flüchtlinge im Internet entschieden zu widersprechen und Hetzer an den Pranger zu stellen, erhielt sie eine Flut beleidigender Kommentare – aber auch überwältigenden Zuspruch.
Porträt der Journalistin Anja Reschke in einer ARD-Talkshow.
Anja Reschke© picture alliance/GeislerFotopress/Christoph Hardt
Im Rückblick betrachtet Reschke diese große Zustimmung mit Freude, aber auch nicht ohne Skepsis. Ging es vielen ihrer Unterstützer vielleicht vor allem um das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, "nach dem Motto: Wenn ich jetzt applaudiere, dann habe ich schon Haltung gezeigt"? Reschke erkennt in dieser Art von Sekundärhaltung – dem Auslagern des Haltung-Zeigens an Idole, zu denen man sich gern bekennt – ein Grundprinzip sozialer Medien: Alles, was Menschen posten, liken oder schmähen, "machen sie ja, um nach außen zu zeigen, guck mal, ich habe diese oder jene Haltung." Das Internet als "Bestätigungsmaschinerie".

Klare Haltung verzweifelt gesucht

Aber wo finden wir heute überhaupt Orientierung, um zu einer klaren Haltung zu finden? Für den Philosophen Philipp Wüschner ist "Haltung" zu einem "Fehl- und Sehnsuchtswort" geworden, einem immer schwerer zu erreichenden Ideal. Die weltweite Verflechtung drängender Probleme von heute mache es zunehmend schwierig, "noch eine Haltung zu entwickeln, die dieser ganzen Komplexität gerecht werden soll", sagt Wüschner. Gleichzeitig beobachtet er: "Je schwieriger es wird, desto mehr und klarere Haltungen fordern wir ein."
Porträt von Philipp Wüschner, der der Arbeit am Laptop.
Philipp Wüschner© privat
In der Antike sei die Fähigkeit, die eigenen Emotionen im Zaum zu halten, als wichtige Voraussetzung für ethisch begründetes Handeln betrachtet worden: "Derjenige, der keine Haltung hat, wird immer ein Getriebener sein – von dem, was ihm zustößt, und von den Gefühlen, die er dabei hat." Umso mehr beeindrucken uns Menschen, denen es gelingt, dieses hin und her gerissen Sein zu überwinden, so Wüschner:
"Was wir an Haltung bewundern, ist, dass wir merken: Diese Person hat irgendetwas gefunden, was es ihr ermöglicht, nicht mehr getrieben zu sein – sondern als sie selber in einer komplexen Situation zu bestehen. Das ist sehr attraktiv."

Werte und Prinzipien prägen die Persönlichkeit

Wer Haltung hat, ist kein Fähnchen im Wind. Wer sie gefunden hat, dessen Tun und Lassen ist von bestimmten Werten und Prinzipien gelenkt. Weil Haltungen, anders als Meinungen, also tief in uns verankert sind, sogar unsere Persönlichkeit prägen, kann man sie auch nicht einfach ablegen und austauschen, betont Anja Reschke: "Menschen, die nicht eine grundtolerante oder grundoffene Haltung haben, sondern eher eine ängstliche oder eine sehr konservative, die vielleicht eher glauben, das Recht des Stärkeren müsse sich durchsetzen oder Leistung ist das, was zählt, werden sich wahrscheinlich immer schwer tun mit denen, die sagen: Moment mal, man muss den Menschen betrachten in seinem gesamten Umfeld und aus seinem Kontext und in seinen Umständen."

Überzeugungen infrage stellen

Um zu einer Haltung zu finden, brauchen wir Beispiele, sagt Philipp Wüschner. Dabei gehe es nicht darum, dass wir die Haltung anderer Menschen teilen oder uns ihr anschließen müssten, sondern darum, dass wir uns von ihrem inneren Gefestigtsein beeindrucken lassen - und um die Bereitschaft, eigene Überzeugungen infrage zu stellen: "Haltung lernen funktioniert vor allem auch darüber, seine eigene Haltung zu überdenken, häufig – was sehr schmerzhaft ist – auch abzulegen und zu verändern, also: sie nicht unbedingt zu schärfen, sondern die Haltung anderer Leute auch dazu zu nutzen, die eigene Haltung flexibel und weich zu halten."
(fka)

Anja Reschke: "Haltung zeigen!"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2018
96 Seiten, 5 Euro

Philipp Wüschner: "Eine aristotelische Theorie der Haltung"
Meiner Verlag, Hamburg 2016
348 Seiten, 68 Euro

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