Christian Schüle, 48, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Gemeinsinn lohnt sich!
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Anerkennung, damit punkten Populisten und Extremisten bei den Schwächsten der Gesellschaft. Wer ihren Erfolg stoppen will, muss kommende Generationen im Glauben erziehen, dass jede und jeder Einzelne zählt, meint Autor Christian Schüle – und verrät wie.
Die zentrale gesellschaftspolitische Grundfrage der Zukunft lautet: Warum soll ich mich dem anderen gegenüber noch verpflichtet fühlen, selbst wenn ich mit ihm nichts zu tun habe - oder zu tun haben will?
Die Gegenwelt der National- oder Sozialchauvinisten neutralisiert man nur, indem man ihre Fundamente kulturell unterminiert. Indem man ihnen entzieht, was ihre Macht stützt: Anerkennung. Es gilt also, beim schwächsten Glied der gesellschaftlichen Kette anzusetzen: dem Individuum mit seinen Verlustängsten, Selbstwertdefiziten und dem Gefühl, weder wertgeschätzt noch gebraucht zu werden.
Wer den erstaunlichen und anhaltenden Erfolg von Propagandisten und Extremisten strukturell stoppen will, muss alles daran setzen, die Angehörigen der kommenden Generationen im Glauben zu erziehen und bilden, dass jede und jeder Einzelne zählt.
Rechte, Ansprüche und Pflichten
Man schwächt die neue Politgattung der Populisten nur, indem man den Einzelnen stärkt. Indem man das für Deutschland so wichtige meritokratische Versprechen des Aufstiegs durch eigener Hände und Köpfe Arbeit in die Arbeitswelt 4.0 rettet und für die Zukunft erneuert. Indem man überzeugend darlegt, dass der Bürger nicht nur Rechte und Ansprüche, sondern auch Pflichten hat; indem man vorlebt, dass sich Gemeinsinn lohnt, und zwar aus Eigeninteresse.
Der Zusammenhalt einer superdiversen Gesellschaft, in der jeder doch nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung kennt, ist in hohem Maße abhängig vom Vertrauen aller einander unbekannten Teilnehmer der Gesellschaft in die Gegenseitigkeit der Verpflichtung zur Gegenseitigkeit. Eine Fiktion. Ja, eine Simulation. Aber jeder muss darauf vertrauen, dass jeder andere direkt und indirekt bereit ist, für ihn einzustehen, sonst schwindet die Solidaritätsbereitschaft der Menschen.
Neue reale Orte sozialer Begegnung
Die beste Prophylaxe gegen eine fortschreitende Verrohung und den Verlust von Anstand und Respekt sind frühkindliche Bildung und Armutsprävention im Sinne des Human Development Index der Vereinten Nationen. Das bedeutet vor allem, das Niveau nichtmonetärer Wohlstandsfaktoren, wie Schul- und Ausbildungsdauer, Kultur- und Sportangebote, Lebenserwartung und Selbstachtung zu erhöhen. Statt in Klein- und Großstädten und auf dem Land Jugendzentren zu schließen oder Sportstätten verkommen zu lassen, müssen dringend neue reale Orte sozialer Begegnung ermöglicht werden, in denen Verbindlichkeit und Gespräch gelernt, geübt und praktiziert werden können.
Darüber hinaus müsste in einem "Curriculum Verantwortung" – verstanden als institutionalisierter Ethikunterricht an allen Arten von Schulen, an Hochschulen, Fachoberschulen, Universitäten, Business-Schools und Management-Seminaren – künftig jedem Gesellschaftsmitglied sozialethische Leitmotive anhand folgender Fragen vermittelt werden: Was sind die sozialen, psychischen und ökologischen Folgekosten meines Handelns? Und: Trägt mein Handeln oder Nichthandeln zu Wohlergehen von Beteiligten und Nichtbeteiligten bei?
Eine neue soziale Ethik
Die spektakuläre Ichbezogenheit des radikalen und zunehmend sich selbst isolierenden Individualisten, dessen bester Freund das Smartphone ist, hat vergessen lassen, dass jeder Mensch von Anfang bis Ende seines Lebens auf Kooperation angewiesen ist. Ziel einer neuen sozialen Ethik der gegenseitigen Verpflichtung wäre also der aktive Staatsbürger mit dem Bewusstsein von Loyalität für das Gemeinwesen, in das er eingewoben ist: Geschult in der Souveränität, Paradoxien auszuhalten, die der faszinierende Pluralismus der Lebensformen mit sich bringt; und befähigt, jene Differenz zu ertragen, die aus Diversität notwendigerweise entsteht.
Die Pflicht zur Selbstverpflichtung zu lernen, erfordert vor allem exzellente, seriös evaluierte, intrinsisch motivierte und entsprechend gut entlohnte Lehrerinnen und Lehrer, denen die kulturprägende Aufgabe der Zukunft zukommt, einer gar nicht gespaltenen, sondern vielmehr fragmentierten und zergliederten Gesellschaft wieder soziale und humanistische Ideale zu vermitteln.