"Rassismus hat ein doppeltes Gesicht"
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Rassismus sei ein Machtsystem der Ungleichheit und stehe als Denksystem für eine zugespitzte Form der Fremdenfeindlichkeit, sagt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba. Aktionen wie der Sturz von Kolonialdenkmälern könnten eine Symbolkraft entfalten.
Ute Welty: Die Menschen in Deutschland und auch der ganzen Welt bewegt vieles in diesen Tagen: Corona, Kindesmissbrauch, das Klima und nicht zuletzt Rassismus. Auch für heute sind etliche Demonstrationen und Aktionen angekündigt. Aber inwieweit das alles mehr sein kann als ein Symbo. Dazu holen wir Expertise bei Wolfgang Kaschuba ein. Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler ist Abteilungsleiter am Institut für Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität Berlin. Welchen Sinn macht es, eine Statue zu stürzen, die aus heutiger Sicht für Rassismus und Sklaverei steht?
Wolfgang Kaschuba: Eine Statue zu stürzen, bedeutet, dass im Moment viel Emotion im Spiel ist. Symbole stehen auch für Gefühle, für Erfahrungen, für Geschichte - gerade im Blick darauf, was Rassismus in der Weltgeschichte, aber auch in der deutschen Geschichte bedeutet hat. Dafür könnte man eine ganze Reihe von Symbolen nennen.
In der englischen Stadt Bristol war es so, dass es nach dem Motto ging, es reicht nun. Und damit wurden auch intensiv Ziele gesucht, an denen man sich abarbeiten kann. Wir haben ja Erfahrungen damit.
Wenn man daran denkt, wie die Frauenbewegung symbolische Aktionen brauchte, um an Breite, Tiefe und Wucht zu gewinnen. Ich erinnere nur im letzten Jahrhundert an die Aktion gegen den Paragraf 218 "Ich bekenne" bis heute zu MeToo. Da sieht man, dass es nicht nur kurzfristige Symbolpolitik im schlechten Sinne ist, sondern dass es solche symbolischen Aktionen braucht, auch um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen.
Denksystem und Machtsystem
Welty: Aber was verändert sich denn tatsächlich dadurch, wenn zum Beispiel in den USA über die Ehrung von Südstaatengenerälen oder über die Konföderiertenflagge gestritten wird? Reißt das nicht nur noch mehr Wunden auf, spaltet das ein Land nicht noch zusätzlich?
Kaschuba:Das Land ist gespalten. Da ist nicht mehr viel zu spalten. Wenn man den obersten Spalter zum Präsidenten hat, hat man im Moment schlechte Karten. Wir müssen einfach immer mitdenken: Rassismus hat ein doppeltes Gesicht.
Auf der einen Seite ist es ein Machtsystem, also ein System, das Ungleichheit durch Rassenungleichheit erklärt. Wir hatten das in Südafrika, Apartheid, oder in den USA bis heute. Auf der anderen Seite ist es ein Denksystem. Man würde sagen, Rassismus ist eine extreme Zuspitzung von Fremdenfeindlichkeit.
Beides muss bearbeitet werden und beides hängt zusammen. In dem Moment, wo man bestimmte Flaggen, bestimmte Denkmäler oder vielleicht bei uns im Grundgesetz das Wort Rasse herausnimmt, delegitimiert man bestimmte Vorstellungen. Man spricht ihnen das Recht ab, wirksam zu sein, wahr zu sein, wirklich zu sein. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft beginnt, anders zu handeln und zu denken.
Wir wissen natürlich aus den Erfahrungen gerade der deutschen Geschichte, dass nichts wichtiger ist als zwei Eigenschaften, die eine Gesellschaft und jeder Einzelne haben muss: Empathie – ich muss an die anderen denken – und Reflexivität. Nicht alles, was ich denke, ist wahr und richtig. Die beiden Eigenschaften werden durch solche symbolischen Aktionen zumindest mal thematisiert. Es gibt eine öffentliche Debatte darüber, und das ist die Voraussetzung für Veränderung.
"Rasse ist ein lebensfeindlicher Begriff"
Welty: Wir haben auch mit der FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Begriffe gesprochen, auch über eine mögliche Streichung des Rassebegriffs aus dem Grundgesetz. Inwieweit haben solche Debatten, Begriffe und Namen praktische Relevanz?
Kaschuba: Sie bedeuten zunächst mal, dass die Weltordnung, die eben nicht gerecht, fair und wahr ist, immer wieder verändert werden muss. So wie man in meiner Jugend und Kindheit noch nicht darüber nachgedacht hat, ob das Wort "Neger" oder "Sklave" in der Kinderbuchliteratur ein Problem ist, so sagen heute sehr viele Leute, es reicht nicht aus, zu sagen: "Rasse ist vielleicht ein überholter Begriff", sondern: "Rasse ist ein lebensfeindlicher Begriff."
Das spüren gerade die Leute, die mit einer anderen Hautfarbe, als schwarze Deutsche oder farbige Deutsche, durch das Leben gehen und das tagtäglich erleben. Es gab gestern in einem Drogeriemarkt einen Vorfall, der ganz typisch ist für das, was man rassistisches Denken nennen kann. Da meint niemand was Böses, aber denkt einfach falsch.
Welty: Ihr Institut befindet sich in der Berliner Mohrenstraße. Können oder wollen Sie sich der Forderung einer Umbenennung anschließen?
Kaschuba: Das beschäftigt mich, denn wir sind seit fast 20 Jahren in der Mohrenstraße. Das zeigt, die einfachen Rezepte sind nicht immer die guten Rezepte. Ich habe immer gesagt, ich bin nicht unbedingt dafür, diesen Straßennamen zu ändern. Viele andere auch, weil so knapp unterhalb von Hitler und Stalin wird es sehr schwierig.
Welty: Warum machen Sie diese Unterscheidung?
Kaschuba: Ich will jetzt keine Vorlesung halten über die Geschichte des Wortbegriffs "Mohren", aber "der Mohr" steht in der europäischen Geschichte vor tausend Jahren für den Täter, der ganz Südeuropa – Spanien, Italien, Griechenland – erobert hat. Sie finden heute noch ungefähr 150 Gemeinden in Italien, die Gedenktage abhalten für ermordete Christen vor tausend Jahren, die nicht zum Islam übertreten wollten. Später steht dann "der Mohr" für das Opfer, also für die Sklavenwirtschaft der europäischen Kolonialmächte. Es gibt also immer Ambivalenzen in der Geschichte. Wir werden sie nicht dadurch einebnen können, dass wir einfach die Straßennamen alle paar Jahre umschreiben.
Für mich ist es sehr viel wichtiger, dass solche Namen und Denkmäler Stolpersteine sind. Sie müssen in Erinnerung bleiben, damit wir aus Fehlern lernen können. Wenn wir sie einfach begradigen, vergessen wir schnell. Ich bin für eine nachdenkliche Geschichte, aber nicht für eine begradigte Geschichtslandschaft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.