Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021, das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Musica Siciliana fantastica
Die ersten Sammlungen sizilianischer Lieder entstanden im 19. Jahrhundert. Insbesondere die Poesie der Araber zeigt bis heute Spuren. Ein musikalischer Streifzug durch die sizilianische Musik vom Mittelalter bis heute – an der Seite von Etta Scollo.
Etta Scollo ist in Sizilien geboren und lebt heute in Catania und Berlin. Mit ihrer kraftvollen Stimme hat sie ein umfangreiches und vielseitiges Repertoire geschaffen. In Deutschland gilt sie als "die Stimme Siziliens".
Mit Lebenshunger hinaus in die Welt
Neben schmissiger Lebensfreude und politischer Anklage gibt es bei ihr auch Blues mit Poesie. Wie viele kreative Sizilianer vor ihr, so ist auch Etta Scollo schon in jungen Jahren aus Sizilien weggegangen:
"Ich wollte die Welt kennenlernen. Also beschloss ich mit achtzehn Jahren, nach Turin zu gehen und dort Architektur zu studieren und zu arbeiten: in der FIAT-Fabrik, in Restaurants, als Babysitter. Ich hielt mich aber auch in Musiktheatern auf und lernte klassische Gitarre.
Ich hatte schon immer eine große Liebe zur Musik. Zu Hause haben alle gesungen, Musik war etwas Alltägliches. Ich lernte in Turin dann Blues-Musiker kennen und warf mich in das Abenteuer des Blues."
Österreichische Gruppen weckten in ihr die Neugier für das Mitteleuropäische, erzählt sie weiter. "Ich zog schließlich nach Wien. Dort besuchte ich das Konservatorium und bin in den Clubs der Stadt aufgetreten. Ich wollte Operngesang studieren, vor allem 'Belcanto' faszinierte mich.
Aber ich bin mit meiner Gitarre zur Aufnahmeprüfung am Konservatorium gegangen und habe ein Lied von Rosa Balistreri gesungen. Der Direktor war von dieser Aufführung sehr beeindruckt und fragte mich, ob ich ein dreijähriges Studium absolvieren wolle, mit Musical, Operette, Jazzgesang und Tanz. Ich habe dieses Studium aufgenommen, aber sagen wir mal so: ich hatte keine große Begabung oder Interesse an Musicals oder Operetten."
Erste Erfolge dank der Beatles
In Wien gewann Etta Scollos erste Preise: Ihre italienische Version des Beatles-Songs "Oh Darling" blieb lange in den österreichischen Charts, zwei goldene Schallplatten machten den Erfolg komplett.
Es folgte ein Vertrag mit der Plattenfirma EMI. Der Weg zur Pop- und Jazzsängerin schien gesichert. Doch sie hat sich für einen anderen Weg entschieden, der mehr ihrer Persönlichkeit entsprach.
Der Weg zur traditionellen Musik
Über ihren musikalischen Werdegang berichtet Etta Scollo:
"Mein Vater wurde am Herzen operiert und ich hielt mich drei Monate an seiner Seite in Sizilien auf. So kam es, dass ich zu meinen Wurzeln in der sizilianischen Musik zurückkehrte, zu den Liedern, die meine Mutter und Großmutter sangen. Songs von Rosa Balistreri und anderen, die ich während meiner Schulzeit von meinen Freunden gelernt hatte und auch welche aus den Tagen der Proteste in den Siebzigerjahren."
Sie schlägt den Weg der traditionellen sizilianischen Musik ein, der ursprünglichen Folklore, die aus dem Leben und der Kraft des Volkes entsteht, den Weg einer Liedermacherin mit sozialem Engagement.
Wenn sie nicht die Liedtexte zusammen mit den Melodien der alten Volkslieder übernimmt, so kommen sie von zeitgenössischen sizilianischen Dichtern wie Ignazio Buttitta, Vincenzo Consolo, Salvatore Quasimodo oder Sebastiano Burgaretta. Etta Scollo komponiert die passende Musik oder gestaltet die Arrangements.
Gerade hat sie auch ein Buch veröffentlicht: "Voci di Sicilia", Stimmen aus Sizilien. Sie alle haben das Leben und die Musik der Sizilianerin Etta Scollo auf ihre Weise geprägt.
Mit Rosa Balistreri kam das Volksmusik-Revival
Mit Rosa Balistreri fand Etta Scollo ihren Weg ans Konservatorium. Balistrei ist auch eine Spur, die von Scollo ausgehend in die Geschichte der sizilianischen Musik führt.
Für die Wiederentdeckung der traditionellen Musik hat Rosa Balistreri in den Sechziger- und Siebzigerjahren Jahren eine Menge getan. Für ihren leidenschaftlichen Ausdruck wurde sie in ganz Italien gefeiert.
Einer ihrer Förderer war der Theatermacher und spätere Nobelpreisträger Dario Fo. Er holte die Sängerin Mitte der 60er Jahre auf seine Bühne und ins staatliche Fernsehen RAI. Ihre bekanntesten Lieder werden noch heute auf Volksfesten gesungen.
Rosa Balistreri ist eine Kulturikone, die sich mit ihren Songs kraftvoll gegen gesellschaftliche Missstände, Elend und Armut in Sizilien und für soziale Gerechtigkeit einsetzte. Dabei sprach sie aus eigener Erfahrung: Rosa Balistreri war eine arme Frau. Sie erzählte, dass sie ihr erstes Paar Schuhe im Alter von zwanzig Jahren geschenkt bekam, als sie als Aufwartefrau bei einer Adelsfamilie in Palermo arbeitete.
1952 hat sie ihre Geburtsstadt Licata in Mittelsizilien im Alter von 25 Jahren verlassen und für fast zwanzig Jahre in Florenz gelebt. Dort lernte sie den Maler Manfredi kennen. Er stellt sie einem in der Toskana lebenden Kreis von sizilianischen Intellektuellen, Künstlern und Musikethnologen vor, über die ihr großes Talent bekannt und gefördert wird.
Sie hat eine faszinierende Stimme und die Intuition, die alten Volkslieder auf traditionelle Weise zu singen. Schon bald geht Rosa Balistreri im ganzen Land auf Tournee, auch ins Ausland. 1964 erhält sie einen ersten Preis auf einem Festival und wird ab da eine der Hauptfiguren des Wiedererwachens der Canzone popolare, des Volksliedes.
Parallel zu dieser Entwicklung entsteht in Amerika, in Deutschland und anderen Ländern das neue Musikgenre Folkmusik, das zu einem Teil der neuen Protestbewegungen wird.
Ab den 50ern wurden die Cantastorie politisch
Ciccio Busacca stellt für die wandernden und singenden Cantastorie im Sizilien der Fünfzigerjahre eine Wende dar. Vor ihm gab es keine Protestlieder, keine politischen Themen, man hätte die Künstler sonst nicht auf den Plätzen spielen lassen.
Ciccio Busacca war der erste, der sich an aktuelle gesellschaftskritische und politische Themen wagte. Eine seiner ersten Geschichten handelt von einem Rachemord: Eine eben verheiratete 16-Jährige wird von dem Arbeitgeber des Vaters vergewaltigt. Daraufhin wird sie von ihrem Ehemann und ihrer Familie verstoßen. Das waren die rauen Gesetze im alten Sizilien.
Doch die junge Frau ist entschlossen sich zu rächen und ihren Vergewaltiger zu töten. Um sich dem Mann unerkannt nähern zu können, verkleidet sie sich als alte Frau und erschießt ihn tatsächlich mit einer Pistole. Ein Geschichtenerzähler, der so etwas singt und dabei Partei für diese junge Frau ergreift, das war mutig und selten.
Ein anderes Stück von Ciccio Busacca ist "Lu trenu di lu suli" (zu deutsch: "Der Zug aus dem Süden"). Es erzählt aus der Sicht einer zurückbleibenden Ehefrau mit sechs Kindern von den Emigranten, die aus Armut mit dem Zug gen Norden, nach Marcinelle in Belgien fahren.
Dort sind 1956 bei einem großen Grubenunglück 136 italienische Bergarbeiter gestorben. Ciccio Busacca hat mit seiner großen Ausdruckskraft diese Nachricht im Land bekannt gemacht.
Sizilianische Musik von heute
Die Brüder Mancuso wurden 1950 in der Ortschaft Sutera in der Provinz Caltanissetta in Innersizilien geboren, Mitte der Siebzigerjahre gehen sie auf Arbeitssuche Richtung England. Acht Jahre lang malochen sie in verschiedenen Fabriken der Metallindustrie. In ihrer Freizeit spielen sie Musik und treten in Londoner Folk-Pubs auf.
Zurück in Italien lassen sie sich 1981 in Umbrien in einem kleinen Bergdorf nieder. Ihre ersten eigenen Lieder komponieren sie in den Achtzigerjahren. Die erste LP trägt den Titel "Nesci Maria". Seitdem reisen sie durch die Welt.
Sie werden von den Russen geliebt, sie gehen nach Tunesien, Japan. Ihre Besonderheit ist, dass ihre Stimme, ihr Gesang – so roh, so innig, so archaisch – mit einem Harmonium verbunden ist.
Ihre raffinierten Arrangements basieren auf Materialien der sizilianischen Tradition. Diese werden gefiltert und in einem persönlichen Stil neu erfunden.
Die Brüder Mancuso haben für zahlreiche Filme die Soundtracks komponiert, etwa für "Der talentierte Mr. Ripley" mit Matt Damon. 2013 haben sie auf dem Filmfestival in Venedig mit "Cumu è sula la strata" den Soundtrack-Preis für den Film "Via Castellana Bandiera" (zu deutsch: Eine Straße in Palermo) gewonnen.
Schlager und Pop aus Sizilien
Über die jüngere Entwicklung in der italienischen Popmusik erzählt Etta Scollo:
"Als ich jung war, spielte mein Vater Gitarre und sang die Lieder von Domenico Modugno. Für Sizilien hat Domenico Modugno eine wichtige Rolle gespielt, weil er zum Sanremo Schlagerfestival ging, ein Festival wie das Eurovision Songfestival. Mit diesem Lied hatte er einen durchschlagenden Erfolg, weltweit! Es hat den Schlager in Italien verändert, bis dahin waren es sehr kitschige Lieder: melodisch, süßlich, aus einer bisschen falschen Welt erzählend, das Lied von der Mamma, das Lied der ewigen Liebe undsoweiter. Aber jetzt, 1958, sang er plötzlich, dieses energiegeladene 'Volare'."
"Er ging seinen eigenen künstlerischen Weg innerhalb der Tradition. Deshalb wurde er auch kritisiert. Wenn man so will, zu Recht. Aber andererseits hat er als populärer Songschreiber dazu beigetragen, dass Volkslieder ein Revival erlebten, auch in der kommerziellen Musik und im Radio."
Domenico Modugno war Cantautore, er textete und komponierte, vorher war er Theater- und Filmschauspieler und trat auch in späteren Jahren immer wieder in Filmen auf, etwa in denen von Pier Paolo Pasolini. Er war ein Multitalent, Hans Dampf in allen Gassen. Später wird er für die Radikale Partei Parlamentsabgeordneter in Rom und engagiert sich für soziale Fragen.
Der Experimentator unter den Cantautori
Auch ein Multitalent, aber eine Generation jünger als Modugno ist Franco Battiato. Geboren ist er 1945 in der kleinen Hafenstadt Ionia in Ostsizilien. Franco Battiato hat in seiner Laufbahn sehr viel experimentiert, mit elektronischer und zeitgenössischer Musik.
Er hat alle Stile und Genres durchquert, mit großer Freiheit und mit einer großen Lust am Entdecken. Berühmt wurde er erst nachdem er schon viel probiert hatte. Etwa 1981 mit dem Lied "Cuccurucucu", diese Art von Elektropop war damals an den Stränden Italiens ein großer Hit.
In den Neunzigerjahren beginnt er arabische Musik zu spielen und Stücke zu komponieren, die gar nichts mehr mit Pop zu tun haben, Opern und Messen. 1989 spielt er in der Vatikanstadt für den Papst das Stück "Oceano di silenzio".
Am 18. Mai 2021 ist Franco Battiato in Milo gestorben. Staatspräsident Mattarella erklärte: "Ein großer Meister hat uns verlassen."