"Etwas entdeckt, was so vorher noch nicht da gewesen war"

Arnon Goldfinger
Arnon Goldfinger © picture alliance / dpa
Arnon Goldfinger im Gespräch mit Frank Meyer |
70 Jahre haben die Großeltern des Filmemachers Arnon Goldfinger in ihrer Wohnung in Tel Aviv gelebt. Unter den Dokumenten findet Goldfinger Belege aus deren Leben in Deutschland in den 30er Jahren und forscht dieser Vergangenheit nach. Mit seinem Film über die ganz verschiedenen Aspekte dieses Lebens bricht er ein Tabu vieler Familien in Israel: Dass nicht über die Vergangenheit gesprochen wurde.
Meyer: Wir haben ja gerade schon gehört, dass Sie als Kind oft in der Wohnung Ihrer Großeltern waren. Das muss ja wie eine Zeitkapsel gewesen sein, diese Wohnung, in der eine Vergangenheit mitgereist ist in die Gegenwart. Wie ist Ihnen diese Wohnung denn vorgekommen als Kind, als Jugendlicher?

Goldfinger: Für mich war das damals als junger Mensch etwas sehr Besonderes. Es war ja so, dass Kinder damals gar nicht gereist sind, und es war, als ob ich gereist wäre. Jede Woche habe ich sozusagen ein paar Stunden in einer anderen Welt verbracht. Ich habe andere Gerüche wahrgenommen, ich habe andere Dinge gesehen, ich war sozusagen nicht mehr in Israel, und das alles ohne Flugticket. Es hatte eine gewisse Magie, in diese Wohnung zu kommen. Auf der anderen Seite aber, weil es sich ja auch um eine deutsche Wohnung handelte, um Deutschland sozusagen, was ja damals in Israel ja auch etwas sehr Beängstigendes hatte, war es für mich auch eine Erfahrung sehr gemischter Gefühle.

Meyer: Und obwohl das so eine erstaunliche Erfahrung war, in Israel in diese deutsche Wohnung zu gehen, trotzdem war das nie ein Thema zwischen Ihnen und Ihren Großeltern, die Verbindung Ihrer Großeltern zu Deutschland?

Goldfinger: Ja, das stimmt, und das ist etwas, das ich erst durch die Arbeit am Film wirklich so erfahren, so entdeckt habe. Ich habe durchaus auch Geschichten über die Vergangenheit gehört, aber das war nicht das, um was es wirklich ging, das waren dann eher so positive Erfahrungen oder Geschichten darüber, dass sie früher ein leichteres Leben hatten in einem größeren Haus. Aber nie habe ich etwas über den Krieg gehört.

Meyer: Ihr Film war ja für Sie auch eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit Ihrer Großeltern. Es fängt damit an, dass Sie einfach da mit der Kamera zuschauen, wie hunderte Handschuhe ausgepackt werden aus dem Schrank Ihrer Großmutter und andere Dinge, also es hat erst mal etwas sehr Harmloses alles, und dann finden Sie Exemplare eines nationalsozialistischen Hetzblattes, des "Angriffs", und finden da einen Artikel, aus dem hervorgeht, dass es eine Verbindung zwischen Ihren Großeltern und einem SS-Offizier gab, Leopold von Mildenstein. Was ging Ihnen da durch den Kopf, als Sie da zuerst auf diese Verbindung gestoßen sind?

Goldfinger: Ja, zunächst einmal war das natürlich ein Schock, ein absoluter Schock, und ich denke, dass während der Filmarbeiten sich immer komplexere Gefühle aufgebaut haben. Ich war ja auf der einen Seite der Regisseur, der auf diese unglaubliche Geschichte gestoßen ist, etwas entdeckt hat, was so vorher noch nicht da gewesen war, unfassbar für mich. Aber auf der anderen Seite war ich auch der Enkel dieser Familie, und ich habe als Enkel diese unglaubliche Geschichte gefunden. Und das waren sozusagen zwei Stimmen in mir, die nicht immer ganz im Einklang miteinander waren, also einerseits der Regisseur - und der dachte natürlich beeinflusst von der Stimme des Enkels. Und ich kannte ja meine Großeltern, ich wusste ja, wer das war. Und da war eine gewisse Spannung, die sich immer weiter aufgebaut hat, je weiter ich in meiner Arbeit fortgefahren bin.

Meyer: Jetzt wollten Sie natürlich wissen, wer war dieser Leopold von Mildenstein, und Sie haben dem nachgeforscht und gefunden, dass er der Vorgänger von Adolf Eichmann war im sogenannten Judenreferat der SS, und Sie zitieren dann in Ihrem Film eine Aussage von Adolf Eichmann aus dem Eichmann-Prozess in Israel, und da sagt Eichmann, Leopold von Mildenstein sei sein bedeutendster Meister und Lehrer gewesen. Heißt das nun, dieser Mildenstein war der Vordenker des Holocaust?

Goldfinger: Es ist so: Wenn man sich in die Geschichte hineingräbt, dann denkt man in diesem Fall: "Das ist Deutschland und es handelt sich um einen Deutschen." - Und in Deutschland gibt es alles in den Archiven, da kann man alles finden. Man braucht nur den Namen von Mildenstein einzugeben und dann zeigt einem der Computer alles, was es dazu gibt. Aber diese Annahme war vollkommen falsch, das stimmte überhaupt nicht. Es gab sehr viele Beweise, die verschwunden waren, viele waren unauffindbar, ein Archiv wusste nicht, was das andere macht, es gab da keine Verbindungen. Meine Arbeit war also wirklich wie ein Puzzle, ich hatte da viel zusammenzusetzen. Und ich denke, man sollte die Funktion von Mildenstein nicht zu sehr überbetonen im Holocaust.

Interessant finde ich in dem Fall vielmehr, was in den 30er Jahren passiert ist, 33, 34, 35. Es war so, was ich auch nicht wusste, dass die SS selber nicht viel über das jüdische Volk wusste. Man hatte da nicht wirklich Vorbildung. Und Heidrich hatte nun gehört, dass von Mildenstein sich auskannte durch seine Reise nach Palästina, und beschloss daraufhin, dass er das Judenreferat übernehmen sollte. Und bis dahin, so vermute ich - ich bin jetzt kein Historiker,aber ich vermute, dass die SS noch gar nicht so sehr interessiert war an den Juden und dass man erst später das natürlich geändert hat und dass mit Eichmann dann alles komplett anders geworden ist. Aber man kann das auch nicht schön reden: Mildenstein war SS-Mitglied und er hat die ganze Judenfrage sozusagen mitbestimmt, und man konnte da auch nicht vorbei. Aber das Interessante an dem Film sind meiner Meinung nach nicht die hohen Nazis oder die hochrangigen Zionisten, sondern es geht um zwei Leute, einen Nazi und einen Zionisten, die aber gleichzeitig eben auch Menschen waren.

Meyer: Ja, das ist interessant an Ihrem Film, dass es diese mehreren Schichtungen gibt: Also es gibt die private Geschichte Ihres Großvaters und dieses SS-Mannes, ihrer gemeinsamen Reise nach Palästina. Aber das ist eben Teil auch einer größeren Geschichte, eben der gemeinsamen Interessen von Zionisten und von Nationalsozialisten in diesen frühen 30er Jahren, eben des Interesses, Juden nach Palästina zu bringen. Das ist ja womöglich auch ein unbequemes Stück Geschichte für Israel heute. Wie hat man denn auf diesen Teil Ihres Filmes reagiert, als Sie ihn in Israel gezeigt haben?

Goldfinger: Ich war wirklich sehr überrascht von den Reaktionen. Die Geschichte, die Sie erwähnen, die praktisch die Grundhandlung des Films darstellt, ist ja auch eine Art Tabubruch, wenn man sich das anschaut. Und ich war davon geschockt, und ich denke, die meisten anderen waren auch geschockt davon. Aber dieser Film war ein unglaublich großer Erfolg in Israel und die Reaktionen des Publikums, die Briefe, die ich bekommen habe, die E-Mails, die Anrufe, die erzählten sehr viel über die eigenen Familien der Leute, die den Film gesehen haben. Sie berichteten von Ihren Erfahrungen, von ähnlichen Erfahrungen Ihrer Familien nach dem Krieg, über diesen Code des Schweigens. Und ich denke, das ist das Wichtigste, um was es hier geht: der Fakt, dass dieses Schweigen in vielen Familien so Bestand hatte, dass nicht über die Vergangenheit gesprochen wurde. Das war nicht nur in meiner Familie so, das war in den meisten Familien so.

Man erzählte mir, dass die Eltern den Leuten selber nichts erzählt hatten, dass sie wiederum ihren Kindern nichts erzählt haben, und was interessant daran war: dass die Leute dann auch tatsächlich zwei Mal oder mehrfach in den Film gegangen sind, den sich anzuschauen, erst alleine, dann mit ihren Kindern, um ihnen das zu zeigen, dann haben sie noch ihre Eltern mitgenommen, um diese wiederum mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Also der Film hat in dieser Art Diskussionen innerhalb der Familien geöffnet, und ich hätte nicht erwartet, dass es so passiert, aber das Gegenteil ist eingetreten.

Meyer: Es ist wirklich ein erstaunlicher Film, ein kunstvoller, ein spannender Film, "Die Wohnung" von Arnon Goldfinger, heute Abend läuft der Dokumentarfilm beim Jüdischen Filmfestival in Berlin, und am Donnerstag wird er in unsere Kinos kommen. Arnon Goldfinger, thank you for joining us!

Goldfinger: Thank you very much!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema