"Etwas extrem Romantisches und Reduziertes"

Christoph Terhechte im Gespräch mit Christine Watty |
"The Grandmaster" handelt von Sehnsucht, chinesischer Geschichte und von Kung Fu. Für den Leiter des Forums der Berlinale Christoph Terhechte stellt er einen Bruch im Werk Wong Kar-Wais dar. Er spiegele aber die Sehnsucht vieler Chinesen nach einer Einordnung ihrer Kultur wieder.
Christine Watty: Wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Kino von Wong Kar-Wai in Berührung gekommen und war das eine neue Seherfahrung für Sie?

Christoph Terhechte: Das war ganz gewiss eine neue Seherfahrung. Es war in den frühen Neunzigern im Forum der Berlinale, wo sein zweiter Film "Days of Being Wild" gezeigt wurde und Maggie Cheung die Hauptdarstellerin war auch da, und es war eine wunderbare Atmosphäre. Aber ich habe auch gar nicht geglaubt, was ich da sehe, weil asiatisches Kino kannte ich bis da – zumindest das Hong-Kong-Kino und das chinesische Kino – eher als ein recht martialisches Bahnhofskino mehr oder weniger, Bruce-Lee-Filme.

Und das war jetzt was völlig anderes, das war was extrem Romantisches, extrem Reduziertes und auch von der Kamera sehr, sehr Eigenes. Christopher Doyle, der australische Kameramann, hat in den frühen Filmen von Wong Kar-Wai ganz stark dessen visuellen Stil geprägt. Und die Darsteller hatten so verhalten gespielt, wie ich das noch nie gesehen hatte in Filmen aus dieser Region.

Watty: Dieses Romantische, was Sie gerade auch beschrieben haben, das haben dann wahrscheinlich sehr, sehr viele miterlebt, als "In the Mood for Love" rauskam. Damit gelang Wong Kar-Wai der endgültige internationale Durchbruch, auch ein Film, in dem auch – wie im neuen Film "The Grandmaster" – die Liebe eine Rolle spielt, in diesem Fall dann sogar eine Hauptrolle. Wie würden Sie diese Vorstellung von Liebe beschreiben, um die es Wong Kar-Wai in seinen Filmen geht?

Terhechte: Es geht immer um unerfüllte Liebe, oder es geht zumindest um eine Liebe, die keinen Bestand hat, der man nachtrauert. Es geht um Sehnsucht ganz stark, das Wort Sehnsucht ist, glaube ich, passender bei Wong Kar-Wai. Und für ihn scheint also die Liebe sich erst zu erfüllen, wenn sie unerfüllbar ist – ein Paradox, aber ein recht schönes Paradox, aus dem er unglaubliche Bilderwelten zelebriert, weil es immer wieder um Erinnerungen geht, um ganz kleine Details, die einen zurücktragen in andere Zeiten, manchmal auch in die Zukunft – also es kann auch eine auf die Zukunft gerichtete Erwartung sein.

Aber "In the Mood for Love" hat diese unglaubliche Atmosphäre einfach in einer Weise stilisiert, wie man das vorher noch nicht gesehen hatte, und ist ein Höhepunkt in seinem Werk gewesen. Ich persönlich finde die früheren, schlichteren Filme interessanter als "In the Mood for Love", aber das war einfach der Kombinationspunkt in seinem Werk.

"Es geht ganz stark um chinesische Geschichte"
Watty: Jetzt hat Wong Kar-Wai einen sogenannten Martial-Arts-Film gedreht, ein sehr populäres Genre in China und in Hong-Kong speziell. In "The Grandmaster" steht, so hat es unsere Kritikerin schon formuliert, auf jeden Fall auch die Liebe, die Kampfkunst und auch politische Umstände als Themen im Vordergrund. Würden Sie dem noch was hinzufügen oder beziehungsweise, was daraus steht für Sie in diesem Film ganz weit vorne?

Terhechte: Ich glaube, dass der Film auch einen Bruch in seinem Werk darstellt. Er ist visuell nicht mehr so verspielt wie seine frühen Filme, extrem opulent, aber nicht verspielt in diesem Sinne, und ich glaube, die Liebe ist auch nur ein Motiv, was gar nicht so sehr im Vordergrund steht. Die bleibt zwar, wie das immer bei Wong Kar-Wai ist, mehr oder weniger unerfüllt, die von Zhang Ziyi gespielte Gong Er, seine Rivalin und gleichzeitig auch Attraktion, die kommt mit ihm ja eigentlich kaum zusammen, und die Liebe überträgt sich ja eigentlich eher durch die Martial Arts, durch die Kampfkunst. Nein, ich glaube, es steht auch nicht wirklich die Kampfkunst so sehr im Vordergrund, obwohl uns da sehr viel entgeht – die Chinesen haben natürlich ein anderes Verständnis für die Details. Es ist so, als müsste man bei einem deutschen Fußballfilm erst mal die Abseitsregel erklären. Das tut man natürlich nicht, und entsprechend finden wir da auch einiges, was wir rätselhaft finden.

Aber ich glaube, es geht ganz stark um chinesische Geschichte. Es geht sehr stark darum, dass dieses Bedürfnis der Chinesen – und ich rede jetzt vor allen Dingen vom Festland China – nach einer Einordnung ihrer eigenen Kultur, die durch so viele Umwälzungen gegangen ist, dass dieses Bedürfnis hier sehr stark erfüllt wird und dass man den Chinesen in diesem Film quasi erklärt: Was für Traditionen habt ihr eigentlich, wo kommt ihr her, welche verschiedenen Ausrichtungen gibt es? Und für mich steht das im Vordergrund bei dem Film.

Watty: Das heißt, deshalb auch ist der Film erfolgreich in China?

Terhechte: Ich würde sagen, das ist einer der Hauptgründe für den Erfolg. Also die Geschichte von Ip Man ist sicherlich auch fast jedem Chinesen bekannt, Hong-Kong-Chinesen natürlich noch mehr als den Festland-Chinesen. Aber es hat auch in letzter Zeit eine Art Revival gegeben dieses Mannes, der ja der Lehrer von Bruce Lee gewesen ist. Und ich glaube, man muss diese Geschichte nicht mehr erzählen. Da ist vieles, was in diesem Film einfach vorausgesetzt wird.

Und der Film, der sehr nostalgisch ist in gewisser Weise – aber eben nicht jetzt sentimental nostalgisch, sondern eher nostalgisch im Sinne einer verlorenen Geschichte, die er wieder aufbaut –, der gibt eben den Chinesen etwas, wonach sie sich meines Erachtens gesehnt haben in den letzten Jahrzehnten durch all diese Umwälzungen: dass man einfach sich vergewissern kann, wer sind wir, woher kommen wir? Und er baut ganz stark auf die entsprechenden Traditionen.

Der chinesische Regisseur Wong Kar Wai zeigt auf der Berlinale seinen Kung Fu-Film "The Grandmaster"
Der chinesische Regisseur Wong Kar-Wai© picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke
Kampfkunstmeister ist der Gesellschaft gegenüber verpflichtet
Watty: Kommen wir dennoch mal an dieser Stelle auf die Kampfszenen, Kampfballett geradezu, hat es Anke Leweke vorhin genannt. Sind diese Szenen nur schön anzuschauen, was sie auf jeden Fall in einem Wong-Kar-Wai-Film sein werden, oder erzählen sie uns auch etwas?

Terhechte: Ja, das hat ja Anke Leweke eben auch schon gesagt: Sie erzählen natürlich gleichzeitig auch die Liebesgeschichte mit. Sie erzählen aber auch mit – und das finde ich ganz wichtig –, wie sehr sich der einzelne Grandmaster, in diesem Fall ein Mann, auf eine Tradition von anderen Grandmasters beruft. Ich glaube, der Arbeitstitel des Filmes war auch tatsächlich im Plural mal: Es geht ja um eine Abfolge.

Und jeder Kampfkunstmeister steht in einer extremen Verantwortung, einer Verantwortung dieser Tradition gegenüber, er muss sozusagen seine Rolle erfüllen und kann sich nicht einfach auf seine Persönlichkeit berufen. Also er ist der Gesellschaft gegenüber ganz stark verpflichtet. Und davon erzählt dieser Film auch. Und das ist irgend eine konfuzianische Tradition, die im Fernen Osten ganz sicherlich auf sehr viel Verständnis stößt.

Watty: Es gab vorhin auch ein schönes Zitat: "Beim Kung Fu geht es um Präzision." Diese Präzision, wie würden Sie die mit dem Werk von Wong Kar-Wai verbinden? Denn die spielt natürlich eine große Rolle, egal, ob es in dem Liebesfilm, in den Liebesszenen ist, oder jetzt in diesem Fall in den Kampfszenen und in der Verknüpfung mit der Historie?

"Jemand, der extrem detailversessen ist"
Terhechte: Ja, Wong Kar-Wai ist ja auch als Perfektionist bekannt. Er hat an einigen Filmen über Jahre gearbeitet. Als er den Film "2046" gemacht hat, haben seine Mitarbeiter schon gewitzelt, der Film würde wahrscheinlich erst 2046 fertig, und man hat Jahr zu Jahr immer wieder darauf gewartet, dass er endlich rauskommt, und es hieß, die Premiere in Cannes findet dieses Jahr statt und dann war sie doch erst im übernächsten Jahr. Er ist jemand, der extrem detailversessen ist und eigentlich selten zufrieden mit dem, was er gemacht hat.

Und diese Präzision entspricht natürlich der Präzision dieser Kampfkunst. Es geht ja nicht einfach um Schlägerei und wer jetzt der Stärkere ist, sondern es geht ganz stark um Zurückhaltung. Im Kung Fu geht es um Selbstbeherrschung. Und es gibt ja sogar diesen wunderbaren Kampf, in Anführungsstrichen, am Beginn des Films, wo eigentlich nur gesprochen wird und der ein philosophischer Austausch ist.

Das heißt, diese Bewegungen, die er zeigt, sind immer auch ein Zeichen für bestimmte Philosophien, für bestimmte Schulen, etwas, was uns im Detail so entgeht wie jemandem, der mit dem Fußball nicht vertraut ist, die verschiedenen Aufstellungen, die eine Mannschaft haben kann. Das ist einfach kulturell so verankert. Und trotzdem ist es für uns ein großes visuelles Vergnügen, gerade weil es so präzise und reduziert ist und weil man nicht einfach nur amerikanische Action mit explodierenden Autos hat, sondern es ganz stark eben am Menschen bleibt und an der Körperbeherrschung, und vor allen Dingen an der intellektuellen und philosophischen Beherrschung.

Festland- und Hong-Kong-Kino unterscheiden sich nicht mehr stark
Watty: Sagt Christoph Terhechte, Leiter der Berlinale-Sektion "Forum", über Wong Kar-Wais neuen Film "The Grandmaster". Das ist eine chinesische Koproduktion. Sie beobachten als Leiter des "Forums" seit Jahren das filmische Geschehen in Hong-Kong. Wie hat sich das Kino dort in den letzten Jahren verändert, seitdem Hong-Kong auch nicht mehr Kronkolonie ist?

Terhechte: Extrem verändert, eigentlich muss man fast sagen, es ist so gut wie tot, das alte Hong-Kong-Kino, in dem eben auch Ip Man und Bruce Lee eine Rolle gespielt haben, die diese Martial-Arts-Filme geprägt haben. Das Actionkino Hong-Kongs kann so heute nicht mehr überleben. Das ist damals etwas gewesen, was in China nicht gemacht wurde und wo Hong-Kong einen einzigartigen nicht nur Markt bot, sondern eben vor allen Dingen eine einzigartige Produktionsstätte für die Kinos der Welt. Das gibt es nicht mehr, weil man heute einfach nur noch mit China drehen kann.

Wong Kar-Wai ist ja selbst auch in China geboren, er kommt aus Shanghai, er hat sich dann erst als Kind das Kantonesische beigebracht – und natürlich zieht es die Regisseure aus Hong-Kong nach China: Peter Chan, solche Leute arbeiten heute in China. Der Einzige, der immer noch sehr stark dem traditionellen Action-Hong-Kong-Kino verpflichtet ist, ist Johnnie To.

Es ist leider was zu Ende gegangen da, und deswegen kann ich auch eine gewisse Nostalgie verstehen. Aber es gibt eine neue Zeit, und China ist stärker vereint. Natürlich hat das Festland-chinesische Kino auch einiges verändert in dem Erzählstil, und natürlich gibt es auch so was wie eine Zensur, die es unmöglich macht, von bestimmten Dingen zu erzählen. Aber das wird aufgeweicht, und man kann das chinesische Kino heute kaum noch in Hong-Kong-Kino und Festland-Kino unterscheiden. Das Einzige, was sich da immer noch abhebt, ist das Taiwanesische.

Watty: Und wie wirkt sich diese Zensur, die Sie angesprochen haben, denn konkret auf die Filme aus und was heißt das auch für die Arbeit der Filmemacher?

Terhechte: Man kann unter anderem nicht von Taiwan erzählen oder nicht wirklich von Taiwan erzählen, nur mit einem bestimmten Vorzeichen. Ich glaube, das ist Wong Kar-Wai in diesem Film auch begegnet. Da gibt es schon eine gewisse Schwelle, die man nicht übertreten kann. Und auf der anderen Seite: Beim unabhängigen Festland-chinesischen Kino gibt es die Schwierigkeit, überhaupt von politischer Gegenwart zu erzählen und das muss immer verschlüsselt werden. Da ist aber Mu Chang, also diese Martial Arts eigentlich ein gutes Mittel. Über diese Genres lässt sich vieles erzählen – kennt man ja auch aus dem Westen aus Genrefilmen –, was man explizit nicht ausdrücken kann.

Watty: Wenn man Wong Kar-Wai sieht, zumindest auch auf Fotos im Internet und auch wenn er sich auf Festivals präsentiert, dann sieht man ihn immer nur mit seiner Sonnenbrille. Was ist er denn eigentlich für ein Typ? Sie haben ihn ja schon kennenlernen dürfen.

Terhechte: Ja, der ist natürlich ziemlich cool hinter seiner Sonnenbrille und kommt da auch nicht so leicht raus. Das war lange Zeit sein Markenzeichen, damit ist er bekannt geworden. Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, das war in einer extrem dunklen Bar in New York, und er hatte seine Sonnenbrille auf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich wirklich erkennen konnte dort oder irgendwas erkennen konnte.

Inzwischen habe ich ihn auch ohne Sonnenbrille gesehen, als er dieses Jahr zur Berlinale kam und hier Jurypräsident war, hat er sie auch mal abgenommen. Er hatte, soweit ich weiß, im Januar einen kleinen Unfall in Hong-Kong, wo er mit Sonnenbrille in einem dunklen Raum in eine Glastür gelaufen ist. Vielleicht spielt das eine Rolle. Vielleicht seht er sich aber inzwischen auch ein bisschen nach Anonymität, weil: Er wird natürlich wirklich weltweit erkannt mit dieser Brille.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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