"Etwas, was auf kommunaler Ebene nicht geregelt werden kann"

Franziska Giffey im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Nach Einschätzung von Franziska Giffey (SPD), Stadträtin von Berlin-Neukölln, fehlt es an politischer Akzeptanz der europäischen Armutswanderung. Abschieben sei "überhaupt keine Option". Sie selbst mache die Erfahrung, dass in ihrem Bezirk teilweise 20 Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebten und der soziale Frieden gefährdet sei.
Gabi Wuttke: Sie sind auch in ihrer Heimat Bulgarien und Rumänien nicht wohl gelitten, die Roma. Ihre äußerst prekären Lebensumstände bringen sie mit, auch in die deutschen Städte. Dem europäischen Problem will sich der Bundesinnenminister nicht stellen, sondern abschieben, zurück in die Herkunftsländer. Bevor wir mit der zuständigen Stadträtin von Berlin-Neukölln über die AG Roma sprechen, schildert Anja Nehls, weshalb die Integration so schwierig ist.

Beitrag

Und was versteht man unter der Position der Bundesregierung? Franziska Giffey ist Sozialdemokratin und als zuständige Stadträtin in Berlin-Neukölln verantwortlich für die AG Roma des Bezirks, ein 2008 gegründetes Netzwerk. Einen schönen guten Morgen, Frau Giffey!

Franziska Giffey: Guten Morgen!

Wuttke: Was ist der eben geschilderten Situation aus Ihrer Sicht dringend hinzuzufügen?

Giffey: Na ja, ich sage mal, Sie hatten jetzt im Bericht natürlich den Bildungsfokus, das ist auch bei uns in Neukölln so, die Schulsituation ist ganz präsent. Aber ich würde gerne noch zwei weitere Bereiche erwähnen, das ist zum einen das Thema Gesundheit – die Menschen, die hierher kommen, sind zu großen Teilen nicht krankenversichert, die Kinder, die kommen, sind nicht ausreichend geimpft, das ist eine große Sorge, die wir auch haben in den Schulen, wir bereiten deshalb zum Beispiel jetzt eine Impfaktion auch vor in den Schulen, die im März starten wird –, und der weitere große Bereich ist das Thema wohnen. Denn die beengten Wohnverhältnisse, teilweise in sehr schlechten Zuständen, mit überfüllten Wohnungen, sind natürlich etwas, was wir eigentlich in der Stadt so nicht wollen, was sich aber inzwischen sehr, sehr negativ auch entwickelt hat.

"Häufig Beschwerden von Anwohnern"
Wuttke: Es ist ja auch eine Zumutung für die Anwohner, das muss man sagen.

Giffey: Wir haben in der Tat auch häufig Beschwerden von Anwohnern. Es ist ganz klar, wenn 20 Personen in einer Dreizimmerwohnung leben, dann kommt es zu Lärm, dann kommt es zu der Verlagerung des Lebens auf die Straßen, und das tangiert natürlich Nachbarn und Anwohner, die teilweise da auch die Welt nicht mehr verstehen. Und das ist etwas, das auch eine Gefährdung des sozialen Friedens ist, wenn man eben solche Armutswanderung in den Größenordnungen in bestimmte Gebiete Berlins hat, die sowieso schon sozial benachteiligt sind.

Wuttke: Die Bundesregierung, der Bundesinnenminister sieht vor allen Dingen jetzt die Kommunen sozusagen in der Pflicht, sich des Problems anzunehmen. Wir hören, Sie tun das schon seit vielen Jahren, die Städte und Kommunen rufen deshalb ja auch nun laut um Hilfe. Hört der Berliner Senat Sie inzwischen?

Giffey: Es hat sich durchaus auf Landesebene etwas verändert. Wir haben am Anfang, als wir merkten, wir haben immer mehr Kinder in den Schulklassen, das war das erste, was so sichtbar wurde als Zeichen, hieß es immer noch, die Kinder müssen integriert werden in die Regelklassen, und man müsse mit den vorhandenen Ressourcen flexibel umgehen.

Inzwischen ist ein Umdenken erfolgt, es ist ganz klar, die Kinder können nicht einfach in die Regelklasse gesteckt werden, die müssen erst einmal vorbereitet werden, sie brauchen erst einmal grundlegende Deutschkenntnisse. Es gibt inzwischen Willkommensklassen in der Stadt, wir haben inzwischen in Neukölln 27 solcher Willkommensklassen - nicht nur mit Kindern aus Rumänien und Bulgarien, aber mit Kindern eben aus aller Welt, die kein Deutsch können.

Man muss sagen, dass wir zum größten Teil eben Kinder aus Rumänien auch haben, die zu uns kommen. Es gibt ein gewisses Umdenken im Senat, eine Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen, aber es gibt bei Weitem noch nicht die Mittel, die wir eigentlich bräuchten, um vor allen Dingen die Kinder, die hier ankommen, adäquat in der Schule zu fördern.

Wuttke: Aber genau die finanzielle Unterstützung des Landes ist es ja, nicht?

Giffey: Ja. Also es ist natürlich einmal erst mal die Akzeptanz, dass sie hier eine Armutswanderung haben, dass die auch nicht abwendbar ist. Aus meiner Sicht ist das Ausweisen oder Abschieben überhaupt keine Option. Wir haben diese Menschen hier, es sind europäische Unionsbürger, sie haben ein Recht, sich hier aufzuhalten, sie werden ab dem Jahr 2014 auch die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, insofern können wir da gar nicht anders, als überlegen, wie wir damit umgehen, denn die Menschen sagen uns, sie wollen hier bleiben.

Wuttke: Auch die deutsche Wirtschaft, das muss man ja vielleicht in diesem Zusammenhang mal betonen, verdient gut durch die EU-Partner Rumänien und Bulgarien, durch billige Arbeitskräfte vor Ort. Vielleicht könnten Sie noch mal konkretisieren, was aus Ihrer Sicht der Bundesinnenminister, die Bundesregierung übersieht oder möglicherweise auch ignoriert, wenn jetzt eine Rückforderung ohne Wiederkehr gefordert wird.

"Wir reagieren auf diesen extremen Zuzug"
Giffey: Der Punkt ist einfach, dass die Menschen sich ja nicht ohne Grund auf den Weg machen. Sie leben teilweise eben in prekärsten Verhältnissen, sie werden diskriminiert, sie haben Kinder, die haben noch nie eine Schule besucht, oder einige wenige Wochen nur, sind aber in einem Lebensalter von neun bis zwölf Jahren bereits, das ist natürlich extrem schwierig, diese Kinder hier auch in den Schulbetrieb zu integrieren, wenn sie im Prinzip Analphabeten sind und noch keine schulische Vorerfahrung haben.

Das ist nicht bei allen Kindern so, aber bei einem Teil. Das heißt, es sind da Schieflagen in den Heimatländern, wenn eben das Bildungswesen diese Kinder, diese Familien nicht berücksichtigt, und die Leute sagen, wir machen uns auf den Weg. Und dieses sich auf den Weg Machen wird anhalten, solange sich die Bedingungen in den Heimatländern nicht verändern.

Und das ist eine Aufgabe, die zu lösen können wir als Städte und Gemeinden nicht leisten. Wir reagieren auf diesen extremen Zuzug – ich habe im letzten Jahr 215 bulgarische und rumänische Kinder in Neuköllner Schulen untergebracht –, aber wir können es in keiner Weise steuern, und das ist eine Aufgabe auf Bundes- und europäischer Ebene, hier auch mit der rumänischen, mit der bulgarischen Regierung viel stärker noch zu versuchen, auch über die Europäische Kommission Einfluss zu nehmen, dass sich bestimmte Lebensbedingungen der Menschen in den Heimatländern ändern.

Wuttke: Das heißt, Sie sehen, dass der Ball eigentlich innerhalb der EU gespielt werden muss?

Giffey: Auf jeden Fall! Das ist etwas, was auf kommunaler Ebene nicht geregelt werden kann, wir sind diejenigen, die direkt als allererstes jeden Tag vor Ort die Auswirkungen der europäischen Armutswanderung spüren, ich habe in jedem Monat eine Schulklasse etwa, die aus Rumänien und Bulgarien in der Größenordnung zu uns kommt, zwischen 20 und 30 Kinder unterschiedlichen Alters, und darauf müssen wir reagieren.

Wir haben inzwischen fast 3000 Gewerbeanmeldungen rumänischer und bulgarischer Unternehmen, das sind enorme Zahlen. Wir gehen davon aus, dass wir bereits über 10.000 Menschen aus diesen beiden Ländern in Neukölln in den letzten Jahren aufgenommen haben, davon sind nicht alle Roma, aber ein großer Teil, und das sind Größenordnungen, da hat keine Schulentwicklungsplanung, keine sonstige Planung einer Stadt, sich drauf vorbereitet, und das geht eben allen anderen Städten in Deutschland ähnlich.

Wuttke: Sagt Franziska Giffey von der SPD, sie ist als Stadträtin in Berlin-Neukölln die Verantwortliche für die AG Roma. Frau Giffey, besten Dank und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen!

Giffey: Ja, danke vielmals!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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