EU-Abgeordnete Sylvie Goulard zur US-Wahl

US-Wahlkampf, ein Déjà-vu für Europa

Sylvie Goulard ist eine französische Politologin, für die Partei Mouvement démocrate im Europaparlament.
Sylvie Goulard ist Mitglied der Liberalen Fraktion im Europa-Parlament. © picture alliance / dpa / Mathieu Cugnot
Moderation: Annette Riedel |
Die französische EU-Abgeordnete Sylvie Goulard hat bezüglich des US-Wahlkampfs eine Art "Déjà-vu-Gefühl": Das Auftreten Trumps, die Wut und Frustration der Bevölkerung sei nicht weit entfernt von den Tönen in Frankreich. Der Westen scheine Schwierigkeiten "mit der Entwicklung der Gesellschaft in einer Welt, die sich verändert", zu haben.
Deutschlandradio Kultur: Sind die USA am Scheideweg? Und was heißt das für Europa und die transatlantischen Beziehungen? Das ist das Thema mit meiner Gesprächspartnerin, der Französin Sylvie Goulard. Sylvie Goulard ist Politologin und Mitglied der Demokratischen Bewegung, der Mouvement Démocrate, einer liberalen französischen politischen Partei. Seit 2009 ist sie Abgeordnete im Europäischen Parlament. Unter anderem gehört sie der parlamentarischen Delegation für die Beziehung zu den USA an.
Frau Goulard, was geht Ihnen durch den Kopf, nachdem Sie den Präsidentschaftswahlkampf in den USA in den letzten Wochen verfolgt haben? Erkennen Sie diese USA, die Sie kennen, die Sie gut kennen, überhaupt noch wieder?
Sylvie Goulard: Es ist eine schwierige Frage. Einerseits sind wir alle, glaube ich, überrascht worden von dem Ton dieses Wahlkampfes. Andererseits habe ich auch das Gefühl leider von einem Déjà-vu oder – wie sagt man – schon gehört, weil es auch die Situation in Europa widerspiegelt. Diese extremen Töne von Herrn Trump, auch die Frustration oder sogar die Wut, die man in der Bevölkerung spürt, sind nicht so weit entfernt von den Tönen in Frankreich – zum Beispiel beim Front National. Insofern will ich auf keinen Fall arrogant klingen oder beurteilen, was dort passiert.
Ich habe das Gefühl, dass der Westen insgesamt Schwierigkeiten hat mit der Entwicklung der Gesellschaft in einer Welt, die sich verändert. Vielleicht haben wir mehr Gemeinsames als wir denken. Insofern keine Beurteilung, aber besorgniserregend ist es.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht kann man es nachvollziehen, was den einen oder anderen treibt, so wie Sie es umschreiben, aber dass es so viele sind, die einem Mann begeistert folgen, der eigentlich hauptsächlich durch Pöbeleien aufgefallen ist.

"Es wird Spuren hinterlassen – auch nach der Wahl"

Goulard: Ich hoffe, wie viele Leute, die die Demokratie mögen und sich Debatten wünschen, die sich mehr auf Substanz fokussieren, vielleicht wird es bei vielen Wählern auch in den letzten Minuten ein paar andere Gedanken geben. Was sicher ist: Es wird Spuren hinterlassen – auch nach der Wahl, auch wenn Frau Clinton gewinnt.
Deutschlandradio Kultur: Das werden wir durchdeklinieren in unserem Gespräch. Ich wollte nochmal nachfragen, weil Sie auch vor Arroganz gewarnt haben. – Sollten sich vielleicht die Europäer hüten, genauso sehr wie sie Obama zu einer Lichtfigur verklärt haben vor seiner ersten Wahl, Trump jetzt zu sehr zu verteufeln, ganz unabhängig davon, ob er jetzt gewählt wird oder nicht?
Goulard: Es ist immer gut, wenn man auch eine ausgewogene Meinung von Personen hat, bevor man wirklich sieht, was sie tun. Was Obama angeht, würde ich nicht unterschätzen, was es bedeutet, dass Amerika zum ersten Mal nicht nur einen schwarzen Präsidenten bekam, sondern einen sehr kompetenten schwarzen Präsidenten. Das war schon etwas Besonderes. Und eine gewisse Begeisterung für ein System, das so etwas produziert, war auch gerechtfertigt.
Wir müssen immer auch warten, bis die Menschen handeln, um diese Handlungen beurteilen zu dürfen. Ich wünsche mir nicht, dass wir beurteilen können, was der Trump konkret in White House macht. Aber ich würde fast sagen, das wäre auch ein bisschen so, wenn man sagt, wenn Frau Clinton jetzt gewählt wird, es ist ein riesiger Sieg für Frauen. Es wäre sicherlich eine andere Etappe, aber wir müssen das dann auch nach den Ergebnissen beurteilen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben eine Parallele zu sich in Europa verstärkenden populistischen Bewegungen gezogen. Wie konnte den USA so etwas wie Trump als Kandidat zunächst erst einmal passieren? Aus den gleichen Gründen wie bei uns populistische Bewegungen stark werden? Ist es diese Angst der Verlierer vor der großen weiten Welt der Globalisierung? Ist es ein Hass auf Politiker? Was ist der Nährboden für diese Art von Begeisterung?

"Die Finanzkrise war viel tiefer als bei uns"

Goulard: Ich bin nicht in den USA und würde nicht behaupten, ich kann das ganz genau analysieren. Mir scheint zuerst, wir dürfen nicht vergessen, dass die Krise in den USA, die Finanzkrise der Jahre 2008, 2010, 2012 viel tiefer war als bei uns. Viele Leute haben einfach das eigene Haus verloren. Sie haben auch das Geld, das sie gespart haben für das Studium der Kinder, für die Pension, total verloren. Das ist etwas, das in Europa, wo wir Gott sei Dank ein soziales Netz haben, nicht in dieser Form passieren könnte. Das heißt, die Wunden oder die Spuren der Krise sind wahrscheinlich auch im Nachhinein da.
Dazu kommt noch eine Reihe von Problemen, die wir kennen, auch wenn sie in den USA anders sind. Ich denke zum Beispiel an Migration, Migranten aus dem Süden, die auch das Wir-Gefühl in der Gesellschaft ändern, weil sie Latinos sind, weil sie kein Englisch sprechen und so weiter – das kennen wir auch in unseren Gesellschaften. Auch die Kluft zwischen den reichsten Bürgern und den ärmsten, die in den USA besonders breit ist. Aber das hat man auch in Großbritannien beobachtet. Das war auch Teil der...
Deutschlandradio Kultur: Muss man nicht gerade in den USA auch sehen, dass die Republikaner einen großen Teil Mitschuld, wenn wir von Schuld sprechen wollen, für diesen Kandidaten tragen? Denn zumindest ein mächtiger Zweig innerhalb der Republikaner, die Tea-Party-Bewegung, hat den Rest der Partei vor sich her getrieben und hat auch dafür gesorgt, im Übrigen auch mit Hohn und Spott, Unwahrheiten und Beschimpfungen. Es ist ein Klima entstanden, wo Verunglimpfungen letztlich stubenrein wurden.
Goulard: Sie haben vollkommen Recht. Es trägt dazu bei, und das beobachten wir auch in Frankreich, wenn Leute mit Gedanken spielen, die extrem sind, Ideen, die vor zehn Jahren als schockierend angesehen worden wären, werden langsam akzeptiert. Und das kommt immer aus einer Minderheit, die plötzlich sehr laut wird und die langsam auch die ganze Diskussion verschmutzt und manchmal auch einen relativ guten – das sage ich in Anführungsstrichen – Kandidaten hat.
Am Anfang hat Herr Trump meiner Meinung nach die Leute ein bisschen amüsiert. Sie haben geglaubt, es ist nicht ernst.

"Es ist einfach Theater, es ist sehr oberflächlich"

Deutschlandradio Kultur: Nicht ernst genommen, vielleicht ein Fehler.
Goulard: Ja. Sie haben ihn nicht ernst genommen. Warum? Weil, provozieren gefällt den Journalisten. Bei solchen Kandidaten hat man immer das Gefühl, es wird etwas passieren. Es ist auch viel einfacher für die Kommentatoren. Sie brauchen nicht die Substanz anzuschauen. Es ist einfach Theater, es ist sehr oberflächlich. Aber langsam wird ein neuer Ton gesetzt und alle anderen sehen wie graue Mäuschen aus.
Das erleben wir in Europa permanent. Jeder Politiker, der versucht mit Argumenten, Ziffern, Fakten in die Debatte einzugreifen, wird sofort disqualifiziert, weil diese Theaterleute so viel Echo finden.
Deutschlandradio Kultur: Selbst für viele Demokraten ist auch die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, also die erste Frau, die ins Weiße Haus einziehen will, eigentlich schwer wählbar – unter anderem wegen ihrer Verbindung zu großen Geld, zur Wallstreet. Viele Wähler werden sich an den Wahlurnen wahrscheinlich nicht für sie, sondern gegen Trump entscheiden. Ist es eher das Erschrecken vor Trump als der Wunsch, Hillary Clinton im Weißen Haus zu haben, das sie ins Amt tragen könnte?
Goulard: Es passiert oft in den Wahlen, dass man nicht wirklich eine Wahl hat. Sondern man eliminiert, man versucht nicht nur den Besten oder die Beste, sondern das Schlimmste zu vermeiden. Das ist wirklich schade, weil es meiner Meinung nach nicht gut für die Demokratie ist.

"Zumindest scheint Frau Clinton kompetent zu sein"

Ich würde trotzdem sagen, aber das ist von außen natürlich schwierig zu beurteilen, zumindest scheint Frau Clinton kompetent zu sein. Was Außenpolitik angeht zum Beispiel, hat sie eine Erfahrung. Man darf das nicht komplett unterschätzen in einer Welt, wo die internationalen Beziehungen immer mehr Einfluss auch auf die Innenpolitik haben. Das heißt, vielleicht ist sie nicht die ideale Kandidatin, von außen nüchtern gesehen, so dass man das mit etwas Distanz sehen kann und sich wieder auf Kompetenz und Erfahrung fokussiert.
Deutschlandradio Kultur: Aber kann einen das beruhigen, dass sie zwar in der Tat, das kann ja keiner bestreiten, eine erfahrene Außenpolitikerin ist, aber auch Themen vertreten hat, die nicht jeden unbedingt jeden erleichtern müssen? Man sagt, sie ist eine Falkin, also wahrhaftig keine Friedenstaube. Mit ihr wird dieses Amerika vielleicht wieder kriegerischer werden. Sie wird vielleicht sogar, wenn sie ihre Idee durchsetzt, dass es Flugverbotszonen in Syrien zum Schutz der Zivilbevölkerung geben muss, mit Russland zusammenkrachen. Also, kann man sich wirklich entspannen bei der Vorstellung, dass sie die außenpolitischen Geschicke lenkt?
Goulard: Frieden ist wichtig. Aber ich habe auch das Gefühl: Würde man das Gleiche von einem Mann sagen? Das heißt, man wirft den Frauen immer vor, sie sind entweder zu mild oder zu kriegerisch oder autoritär oder was auch immer. Ich glaube, es ist sowieso zu früh, um einzuschätzen, was dem nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika passieren könnte. Es ist sicherlich ein sehr schwieriger Job.
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch eine Sekunde dabei bleiben. Sie war unter Obama, als sie Außenpolitiker war, diejenige, die Obama in den Libyen-Krieg gedrängt hat.
Goulard: Ja, aber was wäre Trump? Das wäre noch schlimmer. Ich meine, für die Maßstäbe der Demokraten ist sie vielleicht kriegerischer. Noch einmal: Ich will weder verteidigen, noch beurteilen. Das ist nicht mein Job. Ich sage nur: Wer an die Spitze der ersten militärischen Macht der Welt kommen will, darf kein Engel sein. Meiner Meinung nach ist das auch ein Widerspruch an sich. Ich glaube, die Amerikaner haben eine ganz andere Kultur. Ich bin sehr froh, in Europa geboren zu sein, weil, ich teile nicht immer diese Vision der Welt.
Wir müssen uns aber auch daran erinnern in Europa, dass wir unsere Sicherheit seit Dekaden dank der Amerikaner haben. Es ist immer sehr einfach, als Taube angesehen zu werden, wenn man den Dreck den anderen überlässt, das heißt, die Verantwortung für diese Weltordnung.
Libyen war sicherlich keine gute Idee. Das will ich nicht verteidigen. Frankreich war auch involviert. Und wir sehen jetzt, dass militärischer Einsatz ohne Friedenslösung, ohne dauerhaften Wiederaufbau eines Landes uns sowieso nirgendwo hinbringt. Ich hoffe, dass die Europäer nicht nur die Friedensbedingungen liefern, sondern auch Einfluss auf die Art und Weise nehmen, ausüben können, wie wir die Krisen regeln.
Deutschlandradio Kultur: Die jüngsten Umfragen besagen, dass es wahrscheinlich auf Hillary Clinton hinausläuft. Dazu gleich nochmal mehr. Aber lassen Sie uns noch beim was wäre wenn bleiben. Denn Trump ist nicht völlig ausgeschlossen. Bekämen wir ein verändertes Amerika? Er kann tausende von Schlüsselpositionen neu besetzen. Er prägt die Außenpolitik. Er ist derjenige, der über den Einsatz von Nuklearwaffen beispielsweise mehr oder weniger im Alleingang entscheiden kann. Muss man sich vor einem solchen Amerika tatsächlich fürchten?
Goulard: Ich glaube schon. Egal, wer der Präsident ist, er hat auch Berater. Er hat einen Außenminister. Er muss mit dem Kongress arbeiten. Die Vereinigten Staaten sind eine Demokratie. Es ist nicht ein Mann allein, der entscheidet.
Deutschlandradio Kultur: Atomwaffen schon!
Goulard: Ja, aber nicht so. Auch in Frankreich, wo letztendlich der Präsident alleine entscheidet, gibt es Gott sei Dank Verfahren und Kontrolle. Insofern bleibe ich bei der Meinung, dass es sehr gefährlich wäre – aus ganz einfachen Gründen:
Zuerst, was er von Russland erzählt hat: Eine gewisse Entspannung mit Russland wäre wünschenswert, aber nicht unbedingt nach den russischen Maßstäben. Er hat Sympathie für Putin, der Territorien invadiert hat usw. Das wäre meiner Meinung nach sehr gefährlich.

"Was wird passieren, wenn der Supreme Court von Trump-Freunden gefüllt ist"

Aber auch intern, wie Sie gesagt haben, der nächste Präsident wird in den kommenden Monaten mehrere Richter für den Supreme Court ernennen, die dann lebenslang, das heißt, weit über ein Mandat von vier Jahren für einen Präsidenten, an der Spitze des Staates bleiben. Das ist auch erschreckend. Ich nehme nur dieses Beispiel. Ich weiß, für die Deutschen ist das Bundesverfassungsgericht besonders wichtig – mit Recht. Ich glaube, wir müssen daran denken, was wird in den nächsten zehn, zwanzig, vielleicht mehr Jahren passieren, wenn der Supreme Court von Freunden von Trump gefüllt ist.
Deutschlandradio Kultur: Legen wir uns darauf fest, es wird Clinton werden: Bekommen wir dann wieder eine stärkere Betonung des Transatlantischen, also der Beziehungen zur EU und mit der EU? Auch wenn sich Obama zum Schluss auch im Rahmen der Nato stärker auf Europa orientiert hat als vielleicht zu Beginn seiner achtjährigen Amtszeit, so kann man doch sagen, dass Europa nicht mehr die allererste Geige spielt, wie man es in Washington betrachtet. Glauben Sie, dass eine Hillary Clinton das wieder anders sehen würde?
Goulard: Die Europäer sollten die Illusion aufgeben, sie seien immer noch die erste Geige im Orchester der Welt. Aber umgekehrt halte ich es für wirklich notwendig, dass wir uns die Zeit nehmen, ruhig mit der neuen amerikanischen Administration ein paar Themen zu diskutieren.
Sie haben die Nato erwähnt. Sicherheit wäre notwendig, weil wir sowieso wissen, das war die Rede Obamas in Hannover, dass eines Tages, sooner or later, die Amerikaner weniger Engagement in Europa leisten werden. Dafür müssen auch die Europäer die eigene Verantwortung übernehmen. Frau von der Leyen hat ein Weißbuch verabschieden lassen. Ich glaube, das geht in die richtige Richtung. Wir wünschen uns Fortschritte. Es wurde auch in Bratislava in dieser sonst etwas leeren Erklärung der 27 betont. Also, Sicherheit und Verteidigung ist ein Thema. Aber das ist nicht alles.
Wir merken jetzt schon, wie die Diskussion mit Amerika über TTIP angespannt ist. Können wir wirklich füreinander sterben, wie in Artikel 5 des Nato-Vertrags Schwarz auf Weiß steht, wenn ein Mitglied bedroht ist, obwohl wir nicht in der Lage sind, miteinander ein Geschäft zu machen? Das ist sehr komisch. Wir brauchen einen neuen Impuls für die transatlantische Beziehung mit mehr Sinn für die gemeinsame Verantwortung.

"Wir dürfen nicht so arrogant sein"

Deutschlandradio Kultur: Diesen Impuls trauen Sie Hillary Clinton zu?
Goulard: Ich hoffe, ja, bin aber nicht sicher. Ich glaube, die Zeit der Generation von George Bush, Vater, Secretary of State Madeleine Albright, die hatten ganz besondere Beziehungen zu Europa, diese Zeit ist vielleicht vorbei. Aber was bleibt, wenn man sich die Welt anschaut, sind die zwei größten demokratischen Blöcke immer noch Amerika und Europa, Indien wahrscheinlich auch dazu, aber die Inder sind noch in einer Wachstumssituation.
Aber sonst gibt es China. Und China ist keine Demokratie – in unserem Sinne zumindest. Das heißt, wenn wir manche Werte zusammen verteidigen wollen, auch z. B. der muslimischen Welt gegenüber, über die Rolle der Frauen, über die Gleichheit, die Nichtdiskriminierung von Homosexuellen usw., da haben wir viel Gemeinsames. Da haben wir auch viel zu verlieren, wenn die Welt sich so verändert, dass unsere Thesen langsam nicht mehr – ich würde nicht sagen: gelten. Wir dürfen nicht so arrogant sein. Aber es ist wichtig, dass wir gemeinsam weiter für Freiheit, für Nichtdiskriminierung, für Förderung der beiden Geschlechter usw. zusammen kämpfen. Dafür müssen wir mit den Amerikanern arbeiten. Das schließt den Rest der Welt nicht aus, aber es ist uns nicht klar, meiner Meinung nach, in unseren nationalen Debatten, wie gefährdet diese Werte sind.
Deutschlandradio Kultur: Nun sind Freihandelsabkommen im Moment ein etwas schwieriges Thema vor dem Hintergrund, den Problemen, die wir hatten und haben mit dem EU-kanadischen Freihandelsabkommen. Aber wenn man sich anschaut…
Goulard: Ja, aber was die Werte angeht, haben wir mit Kanada kein Problem. Wir müssen den Unterschied machen zwischen Verhandlungen über Käse, Schinken und Finanzdienstleistungen, wo es gegenseitige Interessen gibt. Und ich respektiere auch die Ängste der Menschen. Vielleicht haben wir Fehler gemacht und wir müssen das verbessern. Aber wer denkt, dass die Welt von morgen ohne Abkommen zwischen Kanada und Europa, Europa und Amerika besser sein wird, diese Leute sind einfach Lügner. Es wird der Welt nichts Gutes bringen, weil, wir sind eine offene Gesellschaft. Wir haben immer dafür plädiert, dass Zusammenarbeit vor Konfrontation im Vordergrund steht. Das ist immer noch wichtig. Da müssen wir einen Unterschied machen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wissen wir, ob Hillary Clinton das ähnlich sehen wird? Wir wissen von Donald Trump, dass er sich gegen Freihandel ausgesprochen hat. Also, es geht immer um die Interessen der USA.
Goulard: Ist seine Vision wirklich im Interesse der USA? Das glaube ich nicht. Wir sollten nicht so defensiv sein. Noch einmal, ich wiederhole: Probleme gibt es in jeder Menge. Aber was wir jetzt erleben über Freihandelsabkommen, ist auch bis zu einem gewissen Punkt übertrieben.
Wenn ich in Amerika bin und so viele deutsche Autos und französischen Wein oder italienischen Mozarella sehe, es gibt bei uns Arbeitsplätze, die davon abhängen, ob die Amerikaner weiter unsere Produkte kaufen. Und weit über diese Ebene der Produkte und des Business gibt es etwas mehr, was wir gemeinsam haben. Ich weiß nicht, ob Hillary Clinton das glaubt, aber unsere Pflicht als Europäer ist, mindestens etwas anzubieten, wo wir das Gemeinsame betonen und wo wir vielleicht eine neue und bessere Qualität in der Diskussion erreichen können.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie, dass Hillary Clinton ein starkes Europa möchte? Sie hat nicht von sich gesagt, dass sie Mrs. Brexit ist. Donald Trump hat auch dem Referendum der Briten applaudiert. Dem ist erkennbar nicht an einem starken Europa gelegen. Glauben Sie, dass Hillary Clinton das anders sieht, um letztendlich aber auch mehr von den Europäern fordern zu können?

"Zurzeit sind wir auch manchmal sehr kurzsichtig"

Goulard: Die Beziehung ist immer zweideutig. Alle Länder der Welt wünschen sich einerseits, dass Europa stark ist, damit sie einen Gesprächspartner haben, damit sie wissen, das ist der größte Markt der Welt. Wir sind der größte Markt. Sie wünschen sich diese Stärke. Gleichzeitig spielen sie jeden Staat gegen den anderen in Europa aus, weil es auch manchmal und kurzfristig in deren Interesse ist.
Die einzige Antwort sollte auf unserer Seite sein. Deswegen bin ich für die Einigung Europas. Deswegen bin ich für Free-Trade-Agreements, die auf der europäischen Ebene verhandelt werden. Wir müssen in Europa als Mannschaft handeln. Wir müssen das langsam lernen. Es ist nicht einfach für alte Nationen, aber wenn wir weiter gegeneinander spielen, dann verlieren wir sicherlich.
Frau Clinton wird sofort spüren, ob auf dieser Seite des Atlantiks die Gesprächspartner ernst sind und miteinander arbeiten und eine starke Antwort auf Amerikas legitime Fragen oder Forderungen geben will und manchmal auch eine Ablehnung, wenn es nicht in unserem Interesse ist. Sie werden das sofort spüren. Und das Endergebnis ist in unseren Händen. Das hängt davon ab, wie wir uns benehmen.
Zurzeit sind wir auch manchmal sehr kurzsichtig. Wir wollen Europa, die Einheit, aber zerstören auch die Einheit, weil, wir rennen – die Franzosen vor den Deutschen – nach China oder nach Amerika. Wenn wir so weitermachen, ist es auch normal, dass der Gesprächspartner vor uns sehr wenig Respekt hat.
Deutschlandradio Kultur: Ein Kommentator hat geschrieben, dass wir uns darauf einstellen müssen, in Europa erstmal die kommenden Monate ohne Amerika auskommen zu müssen – ganz einfach, weil die USA nach diesem Schlammwahlkampf, wir haben darüber gesprochen, nach den Zerwürfnissen, die es gegeben hat, eigentlich sich neu sortieren müssen nach dem, was in diesen Monaten jetzt passiert, und erstmal gar nicht ihren Blick nach außen werden richten können.
Goulard: Glauben Sie, wenn die Deutschen einen Koalitionsvertrag nächstes Jahr verhandeln, werden sie sehr viel Sinn für die äußere Welt haben werden? Oder die Franzosen, wenn sie dabei sind, eine neue Regierung zu bilden? It’s life. Aber so viel Zeit haben wir nicht. Für manche Fragen, für Klimawandel, für die Stabilität der Finanzen, für den Kampf für etwas mehr Gleichheit haben wir letztendlich nicht so viel Zeit.
Das heißt, wenn die Demokratien permanent eine Konsequenz haben, dass ein Jahr vor der Wahl nichts passiert, weil, diese Leute sind bald weg, sie machen nichts mehr, ein Jahr nach der Wahl machen wir nichts, weil wir nicht in der Lage sind zu handeln, dann verlieren wir fast die Hälfte der Zeit eines Mandats. Das können wir uns nicht erlauben.
Ich habe das Gefühl, es wird selbstverständlich auch davon abhängen, was das Ergebnis der Wahl ist. Wenn – noch einmal, ich bin sehr vorsichtig – Frau Clinton gewinnt und eine Mehrheit im Kongress hat, ist es für sie viel einfacher, zum Beispiel ein Freihandelsabkommen unterzeichnen zu können. Wenn sie gegen eine Mehrheit, die aus Republikanern Trumpscher Art besteht, dann wir es selbstverständlich viel schwieriger sein.
Deutschlandradio Kultur: Und mit Trump unmöglich!
Goulard: Wissen Sie, der Mann ist für mich so unzuverlässig, dass ich nicht einmal weiß, ob er nicht letztendlich die eigenen Wähler betrügen wird. Wer weiß? Ich bin keine Trumpologin. Gott sei Dank!
Deutschlandradio Kultur: "Hillary Clinton im Weißen Haus, das bedeutet Krieg." Das sagt die rechtspopulistische französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen und hat sich hinter Trump gestellt. – Welche Schlüsse kann man aus dem, was wir jetzt in den USA gesehen haben, ziehen für den anstehenden oder langsam heiß laufenden Wahlkampf um die Präsidentschaft in Frankreich?
Goulard: Zuerst betrachte ich auf keinen Fall Frau Le Pen als eine respektierte Politologin. Was sie von Hillary Clinton sagt, ist mir egal. Das halte ich nicht für das Evangelium. Und die deutschen Zuhörer müssen wissen, dass sie sehr enge Beziehungen zu Putin hat, sogar finanzielle Beziehungen, was sehr besorgniserregend ist.
Die Präsidentschaftswahl in Frankreich schafft eine gewisse Unsicherheit. Das ist vollkommen klar. Nie in der Geschichte der Fünften Republik war ein Präsident so schwach wie François Hollande. Viel ist noch unklar. Und dazu, wissen Sie, fürchten wir, dass wir andere Terrorangriffe erleben könnten bis zur Wahl. Das wünsche ich mir selbstverständlich nicht, aber es könnte passieren. Das sagen viele Experten. Insofern bin ich zurzeit sehr vorsichtig. Man darf aber nicht glauben, dass Le Pen schon eine Mehrheit hat in Frankreich.
Deutschlandradio Kultur: Und muss man glauben, dass Le Pen sich durch den Zuspruch, den Trump bekommen hat, bestärkt fühlt, vielleicht auch gestärkt ist?
Goulard: Wissen Sie, es wäre witzig, weil sie die USA, wie würde ich sagen, als Teufel bezeichnet. Für sie ist es wirklich der Teufel und es darf kein Modell sein für Frankreich. Es wäre sehr lustig, wenn sich die Wähler von Frau Le Pen Trump als Modell aussuchen. Das glaube ich nicht.
Aber es stimmt. Die Botschaft, die nicht nur aus Amerika, sondern auch aus Großbritannien kommt, der Wind, der jetzt dreht, dieser kalte Wind des Populismus, der auch in Deutschland zu spüren ist mit Pegida oder in Italien mit Lega Nord und Cinque Stelle, die mit UKIP schon schreckliche Ergebnisse gebracht hat, da müssen wir vorsichtig sein. Weil, es geht weit über ein Land. Es ist meiner Meinung nach eine Krise der westlichen Gesellschaften. Und es ist auch bis zu einem gewissen Punkt nicht erstaunlich. Was die Globalisierung für unsere Länder bedeutet, das ist das Ende von einer Ära, sagen wir mal, die am Ende des Mittelalters mehr oder weniger angefangen hat, das heißt, wo wir die Welt dominiert haben, wo wir sowohl im Bereich der Industrie, aber auch der intellektuellen Entwicklung und auch aus schrecklichen Gründen, wie Kolonialismus, den Rest der Welt dominiert haben. Diese Ära geht zu Ende.

"Die Demokratie ist nicht nur ein Vergnügen"

Und da viele Politiker nichts Positives anbieten und den Sinn der europäischen Integration auf diesem Kontinent verloren haben, diese wunderschönen Vision der Einheit von Menschen durch freiwillige Kooperationen, das Ganze schafft ja Unsicherheit und Ängste bei der Bevölkerung.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie am 8. November wählen müssten oder dürften, wüssten Sie genau, wo Sie Ihr Kreuz hinmachen? Oder würden Sie zu denjenigen zählen, es gibt ganze Studentenbewegungen beispielsweise, die schon sagen, wir machen nirgendwo ein Kreuzchen, wir gehen vielleicht zur Wahl, um für die Wahlbeteiligung gezählt werden, geben aber einen ungültigen Stimmzettel ab, weil wir Trump nicht wollen, aber Hillary Clinton letztendlich auch nicht?
Goulard: Nein, ich würde wirklich für Hillary Clinton stimmen und ohne Zweifel. Weil, wissen Sie, das Wahlrecht ist ein Recht, es ist aber auch eine Pflicht. Ob die Kandidaten mir gefallen oder nicht, es ist am Tag der Wahl ein bisschen zu spät. Was habe ich vorher gemacht? Und in diesem Fall ist es auch, ich würde sagen, sehr gewagt von mir zu sagen, ich in Amerika machen würde. Ich antworte gern, weil wir jetzt im Radio sind. Ich glaube, das gilt aber auch für uns in Europa. – Wenn du die Politiker nicht magst, engagiere dich, tu was, und nicht nur in den Parteien, sondern vielleicht auch in der Zivilgesellschaft, damit sich etwas verändert. Aber du kannst nicht nur passiv sagen, ach, das gefällt mir nicht, das schmeckt nicht, das will ich nicht ausprobieren. Insofern ist es eine Pflicht.
Die Demokratie ist nicht nur ein Vergnügen, ein Recht, es ist auch ab und zu eine Pflicht, die uns zwingt, eine Wahl zu machen, die vielleicht keine Wahl ist. Ich fürchte, wir könnten in Frankreich auch in einer solchen Situation sein, wo wir im zweiten Wahlgang eher jemanden eliminieren, statt jemanden zu wählen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Goulard, herzlichen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Sylvie Goulard, geboren 1964 in Marseille, ist Mitglied der Liberalen Fraktion im Europa-Parlament. Dort gehört die Absolventin der französischen Elite-Hochschule ENA der Delegation für die Beziehungen zu den USA an. Zuvor war Goulard, die fließend Deutsch spricht, im französischen Außenministerium u. a. an der Vorbereitung des Zwei-plus-Vier-Vertrags zur deutschen Einheit beteiligt.

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