Die letzten Retter von Lesbos
15:03 Minuten
Während sich die EU-Staaten noch immer auf kein einheitliches Handeln gegenüber Geflüchteten geeinigt haben, halten einige private Helfer die europäischen Werte hoch. Im Flüchtlingscamp auf Lesbos leisten sie dringend benötigte Hilfe.
Auf einer kleinen Sportfläche spielt eine Gruppe junger Afghanen Basketball. Andere Geflüchtete spazieren in der milden Sonne des Tages oder sitzen auf Bänken und unterhalten sich. Einige Erwachsene trinken Tee, Jugendliche spielen Playstation. Es wirkt friedlich hier im Sozialzentrum "One Happy Family" auf der griechischen Insel Lesbos. Ein kleines Gelände auf dem sich Geflüchtete etwas ablenken können vom bedrückenden Alltag im Flüchtlingscamp Moria ein paar Kilometer weiter nördlich.
Ein Stück Würde für Geflüchtete auf Lesbos
Lena ist Anfang 20, studiert eigentlich in Frankreich, arbeitet aber nun seit ein paar Monaten hier als freiwillige Helferin. Ihr ist wichtig, gleich die Unterstützung aus den Camps zu erwähnen:
"Wir haben viele Geflüchtete aus dem Camp, die uns helfen. Sie haben ein eigenes Büro, wo sie ihre Sachen einschließen können. Hier an der Wand hängen Fotos von Helfern aus Afghanistan, Syrien, Kongo – ständig kommen neue, andere verlassen die Insel. Und das ist das Koordinationsteam: Es besteht zurzeit aus Kerasina und Akis aus Griechenland, Julia und Nicholas aus der Schweiz und Mahmud aus Syrien – sie koordinieren alles."
Dank vieler Helfer ist das Sozialzentrums "One Happy Family" jetzt seit zwei Jahren aktiv auf Lesbos. Sie wollen den ankommenden Geflüchteten "ein Stück Würde und Selbstbestimmung zurückgeben", heißt es auf der Internetseite. Und weiter: "Wären die Bedürfnisse der notleidenden Menschen durch staatliche Institutionen zufriedenstellend gedeckt, zieht sich der Verein aus seinen Aktivitäten zurück". Aber dem ist nicht so, wie Berichte aus dem Camp Moria immer wieder gezeigt haben.
2019 kamen 3000 Geflüchtete nach Lesbos
Also bleiben die Freiwilligen von "One Happy Family" auf Lesbos, genauso wie rund 70 andere Nichtregierungsorganisationen. Darunter auch die Hamburger NGO "Medical Volunteers". Sie betreibt eine Medizinstation in einer Art Frachtcontainer: Darin bringt Maria Fix in ihrem weißen Arztkittel gerade einer jungen afrikanischen Frau eine Tasse Tee. Fix arbeitet erst seit einem Monat auf Lesbos und muss sich an die Anforderungen ihrer Aufgabe noch gewöhnen.
"Was wir halt enorm viel bekommen, das sind viele psychologische Fälle. Zum einen, weil wir dafür bekannt sind, dass wir uns ein bisschen mehr Zeit nehmen können, weil hier nicht ganz so viele Patienten sind wie in Moria selbst. Wir sind auch keine Psychologen und keine Psychiater, ist keiner ausgebildet dafür – aber das Bedürfnis zu reden ist hier enorm wichtig und da kommen manchmal schon sehr schlimme Schicksale mit raus. Die sind schon sehr froh, wenn man alleine ihnen mal eine halbe Stunde zuhören kann."
"Was wir halt enorm viel bekommen, das sind viele psychologische Fälle. Zum einen, weil wir dafür bekannt sind, dass wir uns ein bisschen mehr Zeit nehmen können, weil hier nicht ganz so viele Patienten sind wie in Moria selbst. Wir sind auch keine Psychologen und keine Psychiater, ist keiner ausgebildet dafür – aber das Bedürfnis zu reden ist hier enorm wichtig und da kommen manchmal schon sehr schlimme Schicksale mit raus. Die sind schon sehr froh, wenn man alleine ihnen mal eine halbe Stunde zuhören kann."
Die Nachfrage ist weiterhin da: Laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sind in diesem Jahr rund 3000 Geflüchtete mit Schlauchbooten auf Lesbos angelandet. Vor vier Jahren, in der Hochzeit, waren es 500.000 in einem Jahr – vor allem aus den Kriegsländern Syrien, Irak und Afghanistan.
Deutsche Ärzte helfen bei Traumata
Damals wurde auch Kai Wittstock aktiv. Der Mittfünfziger aus Hamburg ist Gründungsmitglied von "Medical Volunteers" und strahlt eine angenehme hanseatische Direktheit aus. 2016 fuhr er mit anderen Helfern einfach einen Rettungswagen voll mit medizinischem Material nach Griechenland. Die Idee für "Medical Volunteers" war geboren. Seit Beginn seines Einsatzes auf Lesbos habe sich die Situation gewandelt – und damit auch die Anforderungen an seine Organisation.
"Die Struktur der Flüchtlinge hat sich auf Lesbos total geändert. Jetzt sind viele Nordafrikaner hier und die waren teilweise in den Flüchtlingslagern in Libyen und haben unglaubliche Dinge mitgemacht, sodass wir an sich von 'Primary Care' zur psychologischen Betreuung übergegangen sind. In Moria Camp haben sie einen Arztcontainer, da haben sie für jeden zwei Minuten. Und dadurch sind wir jetzt dabei, ein bisschen mehr Betreuung für die posttraumatischen Fälle anzubieten."
Die Situation im größten Flüchtlingscamp auf Lesbos, Moria, ist schlecht. Immer wieder gibt es Selbstmorde, Schlägereien und Vergewaltigungen. Im Januar 2019 ist ein 24-Jähriger Mann erfroren. Im Winter 2017 starben innerhalb einer Woche drei Menschen an Kohlenmonoxidvergiftungen. Sie hatten selbstgebastelte Öfen in ihren Zelten aufgestellt, um warm zu bleiben. Moria Camp ist für etwa 3000 Menschen ausgelegt, zurzeit leben dort jedoch mit 7000 mehr als doppelt soviele. Das Lager platzt aus allen Nähten.
Die letzten privaten Seenotretter in der Ägais
Das kleine Küstendorf Skala Sikamineas am nördlichsten Punkt von Lesbos könnte als Postkartenmotiv durchgehen. Blau-weiße Fischerboote dümpeln im Hafen, zwei ältere Männer unterhalten sich und prüfen ihre Netze. Das Meer ist ruhig heute.
Von hier starten die Einsätze von "Refugee Rescue": die letzten privaten Seenotretter in der Ägäis. Manchmal kommen sie zu spät, wie Anfang Mai, als ein Boot kenterte, mit neun Menschen an Bord auf dem Weg nach Lesbos, vier Frauen und fünf Kinder starben. Aber seit 2015 haben die freiwilligen Helfer auch Tausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet.
Giannis Skenderoglou, ein athletischer junger Mann Ende 20 aus Athen, leitet die Rettungseinsätze. Er spricht konzentriert und bedacht, kommt gerade erst von einer Trainingsmission zurück.
"Wir fahren täglich mit dem Boot raus, um verschiedene Trainingseinheiten mit unserer Crew zu absolvieren. Das kann bedeuten, die Leute an das Meer zu gewöhnen oder auch spezifischere Trainings, die uns auf Situationen vorbereiten sollen, die uns bei Rettungsmaßnahmen begegnen können. Heute haben wir zum Beispiel weiter im Osten eine Rettung von Felsen trainiert. In dieser Gegend müssen wir die Leute von der Steilküste holen, weil sie da zu Fuß nicht hochkommen. Dieser Punkt der Insel ist der Türkei am Nächsten. Lesbos hat seit Beginn der großen Fluchtbewegungen 2015 die höchste Zahl an Ankünften erlebt. Wir sind seitdem hier, weil sich daran auf lange Sicht nichts ändern wird."
2015 gab es noch fünf professionell organisierte, private Seenotrettungsmissionen, unter anderem "Ärzte Ohne Grenzen" und "Sea-Watch" waren daran beteiligt. Nach und nach verließen alle die Insel, weil ihre Arbeit mehr und mehr erschwert wurde – bis nur noch "Refugee Rescue" blieb. Geholfen haben dabei gute Verbindungen zur lokalen Gemeinschaft und den Behörden – und nicht zuletzt ein dickes Fell.
"Es ist offensichtlich, was zurzeit passiert: NGOs verschwinden – weil den freiwilligen Helfern Angst gemacht wird, indem ihren Organisationen Menschenschmuggel vorgeworfen wird. Oder es wird gesagt, dass NGOs nur Geld kassieren, aber nichts dafür tun. Auch von manchen Medien wird diese Darstellung forciert. Natürlich passiert so etwas – aber es ist doch nicht das Erste, über das man sprechen sollte, wenn man über NGOs berichtet, die hier so viel Arbeit leisten. Das ist nicht fair. Früher durften wir mehr und konnten dadurch mehr helfen. Du siehst das auch im Camp Moria, wo die Arbeit von Freiwilligen und NGOs immer stärker eingeschränkt wird und sie so nicht mehr das leisten können, was eigentlich möglich wäre."
NGOs überwachen Frontex und umgekehrt
Viele NGOs, die Geflüchteten helfen, haben zunehmend den Eindruck von den Behörden kriminalisiert zu werden. Das lässt sich ganz deutlich beobachten bei den Seenotrettern im Mittelmeer, die fast alle aufgeben mussten.
In der Ägäis hat längst Frontex, die europäische Agentur für Grenzschutz und Küstenwache, die alleinige Kontrolle übernommen. Die großen, grauen Boote liegen im Hafen der Inselhauptstadt Mytilene. Sie sollen die Rettungseinsätze der NGO "Refugee Rescue" überwachen. Aber es läuft auch andersherum. Die freiwilligen Helfer haben ein Auge auf die Grenzschützer und überwachen, ob die ihre Befugnisse übertreten.
Frontex wurde immer wieder vorgeworfen, sogenannte Push-Backs durchzuführen – also Flüchtlingsboote in nicht-europäische Gewässer zurückzudrängen, damit die Geflüchteten gar nicht erst die Möglichkeit auf eine Asylanhörung in der EU erhalten. Das ist rechtswidrig.
2013 gab der damalige Frontex-Chef Ilkka Laitinen zu, dass Schiffe von Frontex tatsächlich für Push-Backs im Mittelmeer verantwortlich waren. Auf die Frage, ob er solche Aktionen selbst erlebt hat, antwortet der Seenotretter Giannis Skenderoglou von "Refugee Rescue" ausweichend.
"Manchmal sieht man Dinge, die einem nicht gefallen. Situationen, in denen man denkt: Das könnte auch anders gehandhabt werden. Aber wir müssen uns eben auch mit der Situation arrangieren und da helfen, wo Frontex uns ruft und haben will. Ich glaube, die Behörden wissen unsere Arbeit zu schätzen. Sie sehen, dass wir Seite an Seite mit ihnen zusammenarbeiten und unsere Informationen teilen. Wir hatten in der Vergangenheit große Probleme miteinander. Das gibt es auch manchmal jetzt noch. Aber hier gibt es Ecken, wo Boote landen und die Menschen nicht allein wegkommen. Außer uns kann niemand helfen, weil das Wasser sehr flach ist und dort scharfe Felsen sind. Die Schiffe von Frontex sind zu groß. Für uns ist das aber machbar. Deshalb sind wir Teil ihrer Rettungsaktionen – weil sie uns brauchen.
Hannah Wallace Bowman klinkt sich in das Gespräch ein. Die blonde Mitdreißigerin aus England leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei "Refugee Rescue" und hat die Ausstrahlung einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Sie ist überzeugt, dass die NGO noch einen anderen Zweck erfüllt, als Frontex bei Rettungseinsätzen zur Hand zu gehen.
"Ich glaube, du spielst unseren regulierenden Einfluss als Beobachter herunter. Frontex weiß, dass wir hier sind. Wir von 'Refugee Rescue' sind Gründungsmitglied von SAROPMED (Search and Rescue Observatory for the Mediterranean), einer Organisation, die Seenotrettungen dokumentiert und Regelverstöße von Grenzschützern und Küstenwachen zusammenträgt, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wenn wir sehen, dass sich ein Schiff der Grenzschützer falsch verhält, können wir diese Probleme zwar nicht direkt zur Anklage bringen. Aber wir können die Informationen einer größeren Gemeinschaft zugänglich machen. Das ist fundamental als letzte verbleibende Seenotrettungs-NGO in der Ägäis."
NGO hilft queeren Geflüchteten auf Lesbos
Irgendwo in Lesbos' Hauptstadt Mytilene sitzt Ahmed in seinem Zimmer. Es ist in einem geheimen "Safehouse" für queere Geflüchtete. Ahmed ist 19 Jahre, heißt eigentlich anders und will anonym bleiben. Er ist homosexuell und vor seiner eigenen Familie aus dem Irak nach Europa geflohen. Nach der Überfahrt aus der Türkei nach Lesbos landete er im Camp Moria. Ein paar Männer aus Irak und Syrien fanden heraus, dass er homosexuell ist. Eine bedrohliche Situation. Ahmed musste aus dem Camp fliehen und landete auf der Straße. Mit Hilfe einer NGO, die sich speziell um die Probleme von queeren Geflüchteten kümmert, konnte er sicher untergebracht werden, erzählt er. Seine Stimme ist verfremdet.
"Im Lager wollten sie mich umbringen. Sie hielten mir ein Messer an den Hals. Also entschied ich, Moria zu verlassen. Dann habe ich die Gruppe 'Lesvos LGBTIQ+ Refugee Solidarity' getroffen. Sie haben mir sehr geholfen. Als ich kein Geld hatte. Oder wenn ich Kleidung brauchte. Oder jetzt, wenn ich einen Anwalt suche. Und manchmal bin ich einfach nur traurig gewesen und dann kamen sie zu mir nach Hause und haben mich wieder aufgeheitert. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Viele wie ich haben im Camp Moria große Probleme mit dummen, engstirnigen Menschen. Sie können dort nicht frei leben. Denn wenn du etwas tust, was in den Augen dieser Menschen falsch ist, bringen sie dich um. Und auch in der Stadt ist es schwierig. Es ist eben eine Insel – eine kleine Welt und sie werden dich finden."
Ahmed geht nur in Begleitung auf die Straße, sein Leben beschränkt sich auf die vier Wände, in denen wir miteinander sprechen. Als wir kurz rausgehen, merke ich, wie aufgedreht er ist, wenn er nicht drinnen sitzen muss. Er ist ein Teenie und die Langeweile zu Hause ist lähmend. Er schläft viel, damit die Zeit vergeht. Inzwischen hilft er aber auch dabei, Essen für die Verteilung an Geflüchtete vorzubereiten – und als Übersetzer, wenn er gebraucht wird.
"Heute arbeite ich selbst als Übersetzter für Arabisch. Aber nur für Menschen aus der queeren Community, denn ich will mich sicher fühlen. Wenn ich für andere übersetze, wüssten die über mich Bescheid. Ich möchte auf diese Weise der Organisation etwas zurückgeben, aber es ist nicht genug. Wir haben dieses Sprichwort: Nicht das ganze Leben schmeckt süß, wenn doch, wärst du traurig."
Zustände im Camp Moria schlimmer als in Asien und Afrika
Übersetzer, Essensverteilungen, Seenotrettung, psychische und medizinische Hilfe, Freizeit- und Bildungsangebote, Kinderbetreuung, Beistand bei Behördengängen und Rechtsfragen oder einfach nur eine schützende Gemeinschaft. Über 70 NGOs und unzählige freiwillige Helfer und Helferinnen aus aller Welt arbeiten auf Lesbos, um die Auswirkungen der europäischen Flüchtlingspolitik erträglicher zu machen. Oft werden sie bei der Ausübung dieser Arbeit aktiv von Polizei und Behörden behindert. Tausende Geflüchtete auf Lesbos zählen täglich auf ihren Einsatz.
Die Zustände im Camp Moria sind schlimmer als in Flüchtlingscamps in Asien und Afrika, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk 2017 feststellte. Und diese Zustände werden auch weiterhin geduldet.
Die Arbeit der Freiwilligen ist ein Protest gegen diese Politik der EU-Staaten. Und sie ist den ur-europäischen Grundsätzen von Menschenrechten und Gleichheit um Einiges tiefer verbunden als die eigene Grenzpolitik der EU im Jahr 2019, denke ich im Gespräch mit Hannah Bowman von "Refugee Rescue".
"Ich glaube, dass es wichtig ist, immer wieder daran zu denken, worum es hier eigentlich geht: um Mitgefühl. Und das zu entdecken, wo immer du kannst."