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Um noch Schlimmeres zu vermeiden, gebietet die Corona-Krise im Moment die Einschränkung wichtiger Freiheiten. Aber welcher genau? Philipp Hübl meint, an einer zentralen Stelle sollten wir umsteuern, so schnell wie möglich.
Erst kommt die Ordnung, dann die Moral?
44:45 Minuten
Griechenlands Asyl-Stopp sei ein massiver Rechtsbruch, urteilt die Philosophin Dana Schmalz. Europa blende seine Verantwortung für Fluchtgründe aus, so ihr Kollege Robin Celikates. Beide fordern mehr Solidarität mit Menschen auf der Flucht.
Mit Tränengas und Wasserwerfern haben Grenzschutz, Polizei und Militär tausende geflüchtete Menschen daran gehindert, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Seitdem Präsident Erdoğan die türkische Grenze wegen der Corona-Pandemie wieder geschlossen hat, ist es etwas ruhiger geworden. Doch bis vor wenigen Tagen spielten sich dort dramatische Szenen ab.
"Ein erschütternder Rechtsbruch"
Viele Geflüchtete versuchten, nach der einseitigen Öffnung der Grenze durch die Türkei, in die EU zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen. Daraufhin verstärkte Griechenland die Abschreckung an der Grenze. Menschen, die bereits EU-Boden betreten hatten, wurden gewaltsam zurückgedrängt. Ministerpräsident Mitsotakis setzte die Annahme von Asylanträgen für einen Monat aus und berief sich dabei auf einen nationalen Notstand.
"Wir erleben dort momentan einen Rechtsbruch, der erschütternd ist", sagt die Rechtsphilosophin Dana Schmalz. Ein Aussetzen des Asylrechts, wie es Griechenland beschlossen habe, verstoße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention: Geflüchtete, die Asyl beantragen wollen, dürften von Unterzeichnern nicht zurückgewiesen werden, wenn sie deren Staatsgebiet bereits betreten haben, so Schmalz. Auch die europäische Menschenrechtskonvention verpflichte die Mitgliedsstaaten auf diesen Grundsatz.
Der zugespitzte Konflikt an der griechisch-türkischen Grenze führe vor Augen, wie das Asylrecht zum "Spielball politischer Interessen" werde, sagt der Berliner Sozialphilosoph Robin Celikates. Indem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland als "europäischen Schild" bezeichnet und dem Land für die Verteidigung der gemeinsamen Grenze gedankt habe, stilisiere sie Asylsuchende "zu einer externen Bedrohung" und trage auf skandalöse Weise "zur Entmenschlichung der dringend schutz- und hilfsbedürftigen Menschen bei."
Keine "Obergrenze" für Grundrechte
Ähnlich wie von der Leyen hatte auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer den Eindruck erweckt, angesichts des von der Türkei provozierten Andrangs Geflüchteter an der Grenze müsse das Grundrecht auf Asyl gegen Sicherheit und Ordnung im EU-Mitgliedsstaat Griechenland abgewogen werden. Beide verlautbarten sinngemäß: Erst kommt die Ordnung, dann kommt die Moral.
Doch diese Auslegung widerspreche dem Asylrecht, betont Dana Schmalz. Der Anspruch auf Asyl sei ein individuelles Recht und stehe daher nicht "unter einem zahlenmäßigen Vorbehalt": Er sei an keine "Obergrenze" geknüpft, sondern in jedem einzelnen Fall zu prüfen.
Wie wenig die Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union mit dem eigenen moralischen Anspruch der Staatengemeinschaft vereinbar ist, zeigen auch die heillos überfüllten Flüchtlingslager auf Lesbos und anderen griechischen Inseln. Die verzweifelte Lage der Menschen, die dort oft unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren, wird durch die Corona-Pandemie noch verschärft.
Europas Verantwortung wird ausgeblendet
Umso wichtiger sei ein realistischer Blick auf Europas Verantwortung für Menschen auf der Flucht, sagt Robin Celikates. Debatten über Asyl und Migration würden häufig so geführt, als würden Geflüchtete "in gar keinem Verhältnis zu uns stehen", und als ob es uns freigestellt sei, "zu überlegen, ob wir helfen oder nicht". Doch wie Fluchtursachen überhaupt entstehen, werde dabei ausgeblendet, so Celikates:
"Es gibt politische, ökonomische, historische Verbindungen mit genau dem Elend, das die Leute aus ihren Ländern wegtreibt. Die massive Not, die Menschen dazu zwingt, ihr Zuhause zu verlassen, ist eben kein Naturereignis, sondern etwas, in das auch die reicheren Nationen direkt involviert sind: in die Produktion dieser Bedingungen. Ich glaube, diese direkte Involviertheit sollte auch dazu führen, dass wir viel größere Verantwortung empfinden und auch übernehmen, als das momentan der Fall ist."
Eintreten für das Recht der Schwächsten
Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, könne jede und jeder Einzelne sich politisch engagieren, unterstreicht Dana Schmalz. Zivilgesellschaftliche Initiativen gehen aus ihrer Sicht mit gutem Beispiel voran: "Wir sehen schon eine große Bewegung, die gegen die Rechtsbrüche an den Grenzen protestiert und einfordert, dass eine großzügigere Migrationspolitik stattfindet."
Das sei umso wichtiger, da Menschen, die auf der Flucht sind, in potenziellen Aufnahmeländern kaum die Möglichkeit haben, ihre Stimme zu erheben und selbst für ihre Rechte einzutreten. Mit Blick auf die zunehmende Polarisierung demokratischer Gesellschaften, die sich auch und vor allem an Fragen der Migration entzündet, plädiert Schmalz dafür, im Gespräch zu bleiben und die richtigen Fragen zu stellen:
"Mit Rechten reden, ja oder nein? Sollen Menschenleben gerettet werden, ja oder nein? Das sind die falschen Fragen. Aber wenn man sich darüber verständigt: Woher stammt die Unsicherheit, die viele auch in Angst treibt? Was sind eigentlich die fehlenden sozialen Absicherungen, die plötzlich dazu führen, dass gegen die aller Verletzlichsten, die Schwächsten in den Gesellschaften getreten wird? Dann ist das vielleicht ein Schritt gegen eine Polarisierung und für ein Miteinanderreden."
Solidarisch dank Corona?
In der gemeinsamen Erfahrung der Corona-Pandemie, die derzeit auch relativ wohlhabende und stabile Demokratien in einen Ausnahmezustand versetzt, erkennt Robin Celikates durchaus eine Chance dafür, dass Bürgerinnen und Bürger der Industriestaaten "sensibilisiert werden für die Faktoren, die Menschen in die Flucht treiben aus Notsituationen, die um ein Vielfaches schlimmer sind als das, was wir - im Moment jedenfalls - in Deutschland erleben."
Aber ob wir der Krise mit Solidarität begegnen oder mehr und mehr zu Abschottung und der "Idee eines Kriegs aller gegen alle" neigen, sei schwierig vorherzusagen, so Celikates: "Diese Frage wird man wahrscheinlich erst mit einigem zeitlichen Abstand beantworten können."
(fka)