EU-Flüchtlingspolitik

Faire Verteilung von Verantwortung

Eine afghanische Familie wartet in Bayern auf ein Asylverfahren.
Eine afghanische Familie wartet in Bayern auf ein Asylverfahren. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Steffen Angenendt im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der Migrationsforscher Steffen Angenendt hofft mit einer Studie über die europäische Flüchtlingspolitik, eine neue Debatte über die gerechte Verteilung von Flüchtlingen anzustoßen. Der Wissenschaftler von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sagte, das Dublin-Abkommen habe die ungleiche Verteilung zunächst festgeschrieben.
Dieter Kassel: Heute treffen sich die EU-Innenminister in Mailand, um über eine europäische Flüchtlingspolitik zu reden, eine gemeinsame. Aber sie werden sich wohl nicht sehr schnell einig werden, denn eigentlich sind sich alle Länder nur in einem Punkt einig, darin, dass jedes für sich aus eigener Betrachtung doch schon so viele Flüchtlinge aufnimmt, wie es maximal verkraften kann. Da scheint eine direkte Verteilung wirklich schwierig. Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat anhand von vier ausschlaggebenden Faktoren ausgerechnet, wie viele Flüchtlinge jedes EU-Land eigentlich aufnehmen müsste, und das dann mit den tatsächlichen Zahlen verglichen – mit, wie ich finde, erstaunlichen Ergebnissen. Einer der Autoren dieses Rechenbeispiels war Steffen Angenendt. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der SWP und jetzt bei mir im Studium. Schönen guten Morgen, Herr Angenendt!
Steffen Angenendt: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Machen wir es mal ganz konkret: Wahrscheinlich passiert das heute auch wieder, ein Land wie Italien behauptet gerne, es sei völlig überlastet vom Flüchtlingsstrom, allein schon aus geografischen Gründen, da kommen ja viele an. Und Länder in Zentral- und Westeuropa sagen dann, das stimmt gar nicht. Wenn man Ihr Rechenbeispiel nimmt, dann stimmt das wirklich nicht, Italien hat nicht so viele Flüchtlinge aufgenommen, wie es statistisch, nenne ich es mal, sollte!
Überraschende Zahlen
Angenendt: Das hat uns auch ein bisschen erstaunt. Uns ist es da wie Ihnen gegangen. Wir waren immer der Meinung, Italien und Spanien und Griechenland hätten relativ viele aufgenommen. Wenn man aber einige Kriterien anlegt, die zum Beispiel eine faire Aufnahmequote zeigen könnten, dann stellt man fest, dass andere Länder sehr viel mehr aufgenommen haben, zum Beispiel Schweden. Schweden führt die Liste an. Die haben sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen, als ihnen eigentlich fairerweise zuzumuten gewesen wäre, und auf der anderen Seite stehen dann eben Länder wie Portugal oder wie Estland, wie Lettland, die sehr viel weniger aufgenommen haben.
Kassel: Wir erklären natürlich gleich noch die Kriterien, nach denen Sie das berechnet haben, aber wir müssen, glaube ich, an dieser Stelle über das Dublin-Abkommen reden, das ja im Kern besagt, dass Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union nur dort Asyl beantragen können, wo sie zunächst angekommen sind. Haben Sie da eine Erklärung dafür, warum Länder wie Italien, auch Spanien – mit Enklaven wie Ceuta und Melilla in Nordafrika – so eine niedrige Quote haben können?
Angenendt: Zunächst muss man sehen, dass das Dublin-Abkommen ein ganz einfaches Prinzip beinhaltet, dass nämlich der Asylantrag da gestellt werden muss, wo der Flüchtling das erste Mal EU-Boden betreten hat. Und damit sind natürlich die Staaten, die an den EU-Außengrenzen liegen, besonders stark beeinträchtigt oder haben eine besondere Last zu tragen. Das sagt noch nicht aus, wo dann de facto der Asylantrag gestellt wird. Wenn die Flüchtlinge dann innerhalb der EU weiterwandern und in einem anderen Land ihren Asylantrag stellen, sind die Antragszahlen in den Erstaufnahmeländern natürlich geringer.
Es gibt keine wissenschaftliche Aufnahmegrenze
Kassel: Sie haben vier Indikatoren im Kern genommen für Ihre Zahlen: die jeweilige Wirtschaftskraft eines Landes, die Einwohnerzahl, auch die Fläche, also die räumliche Ausdehnung, und die Arbeitslosenquote. Kann man denn mit diesen Faktoren, was Sie ja gemacht haben, so habe ich es verstanden, Sie haben geguckt, wie viele Flüchtlinge gab es in einem gewissen Zeitraum in der EU, und versucht zu berechnen, wie hätte man die aufteilen müssen. Aber kann man mit diesen vier Faktoren auch berechnen, wo die berühmte „Das-Boot-ist-voll-Grenze" ist, also wie viel Flüchtlinge ein Land verträgt?
Angenendt: Nein, es gibt wissenschaftlich gesehen keine Aufnahmegrenze. Wir haben ja in verschiedenen politischen Diskussionen in sehr vielen EU-Staaten in der Vergangenheit immer wieder solche Diskussionen gehabt. Die Begriffe haben sich dann unterschieden, die hießen dann in Frankreich „seuil de tolérance" oder bei uns eben Belastungsobergrenze oder wie auch immer. Das ist wissenschaftlich gesehen Unsinn, man kann keine absoluten Oberzahlen berechnen und sagen, bis dahin kann man Flüchtlinge aufnehmen und ab da wird es dann gefährlich, das macht die Bevölkerung nicht mehr mit. Das ist Quatsch. Wie weit ein Land Flüchtlinge aufnehmen kann, hängt von sehr vielen Faktoren ab und eben ganz gewichtig von Politik. Wenn man eine gute Politik macht, eine gute Integrationspolitik macht, ist eine Gesellschaft sehr viel eher in der Lage, viele Flüchtlinge aufzunehmen, als wenn man das nicht tut. Und deshalb gibt es keine absoluten Obergrenzen.
Kassel: Wir haben jetzt schon ein paar Beispiele genannt, Italien ist weiter unten, Spanien, Portugal sind sehr weit unten, neben Schweden ist unter anderem Österreich sehr weit über dem, was Sie sich ausgerechnet haben. Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt laut Ihren Berechnungen fast ihr Soll, sie liegt knapp drunter, drei, vier Prozentpunkte. Kann man daraus jetzt schließen, die deutsche Flüchtlingspolitik ist richtig?
Angenendt: Nein, das würde ich so nicht sagen. Es sagt was darüber aus, dass Deutschland seine Verantwortung in der EU durchaus ernst nimmt. Und man muss ja auch sehen, dass wir auch noch darüber hinaus was tun. Also, die Diskussion über die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen, die eben nicht als Asylbewerber kommen, sondern über andere Wege kommen, da ist Deutschland eben auch eins der führenden EU-Länder und, ich finde, auch durchaus vorbildhaft, was die Aufnahme betrifft. Deutschland liegt jetzt wirklich zufällig bei den Quoten in der Mitte. Aber das heißt eben nicht, dass man nicht mehr machen könnte. Und ich glaube, wir können auch ein bisschen stolz darauf sein, was wir an Flüchtlingsaufnahme geleistet haben in den vergangenen Jahren, und ich glaube, dass wir auch noch mehr tun könnten. Und wir sollten vor allem auch die anderen EU-Staaten anhalten, eben mehr Verantwortung zu übernehmen.
Kassel: Anhalten ist ein schönes Wort, aber wenn ich mir vorstelle ... Ich muss dazu sagen, ich kann Ihren Berechnungen einiges abgewinnen, gerade weil sie – und das meine ich positiv – relativ simpel sind, das ist gar nicht so kompliziert, das kann man auch schnell nachvollziehen, was Sie meinen. Aber wenn ich mir jetzt vorstelle, man würde diesen oder einen ähnlichen Index in Brüssel zum Gesetz machen und die EU würde jetzt zum Beispiel Großbritannien oder anderen Ländern, die nicht so EU-freundlich sind im Moment, vorschreiben, wie viele Flüchtlinge sie genau aufnehmen würden, glauben Sie, das hätte positive Folgen?
EU fehlt eine Diskussion über Verantwortungsteilung
Angenendt: Ich muss noch mal sagen, warum wir das eigentlich gemacht haben. Was in der EU fehlt, ist eine Diskussion darüber, was eigentlich Verantwortungsteilung heißt. Also, bis jetzt berufen sich die Staaten auf das Dubliner Abkommen, das war ein schwieriger Prozess, dieses Abkommen hinzubekommen, das waren jahrelange Verhandlungen. Und jetzt sagen viele Länder, wir lassen es jetzt mal dabei, weil, eine Alternative ist sowieso nicht in Sicht. Damit ist aber diese ungleiche Verteilung von Flüchtlingen oder die ungleiche Zuständigkeit von Flüchtlingen nicht aus der Welt, denn die ist mit dem Dubliner Abkommen festgeschrieben. Und die Staaten, die jetzt nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen, haben natürlich kein besonders großes Interesse, da eine neue Diskussion drüber zuzulassen. Und trotzdem muss man die führen, weil, diese ungleiche Aufnahme hat eben die Folge zum Beispiel, dass Flüchtlinge nicht richtig versorgt werden können, dass keine vernünftigen Asylverfahren durchgeführt werden können. Griechenland ist da ein sehr gutes oder vielmehr ein sehr schlechtes Beispiel, dass eben das Asylsystem so, wie es in dem Land ist, komplett unfunktional ist, einfach nicht arbeitet. Und an der Stelle muss man natürlich sagen, dass es da eine europäische Verantwortung gibt, denn wenn Griechenland seinen Verpflichtungen aus den Richtlinien nicht nachkommen kann, aus welchen Gründen auch immer, landen die Flüchtlinge in den anderen EU-Staaten. Von daher kann man nicht sagen, das ist ein allein griechisches Problem. Und wir brauchen unbedingt diese Diskussion, was es denn heißt, eine faire Verantwortungsteilung. Und dafür war eigentlich der Vorschlag gedacht, so eine Diskussion auszulösen. Und wie immer fällt so eine Diskussion sehr viel leichter, wenn man ein paar Zahlen auf dem Tisch liegen hat. Jetzt kann man über die Kriterien sich streiten, muss man sich auch streiten, ob die so Sinn machen, auch die Berechnungsverfahren. Aber der eigentliche Punkt ist, dass, sobald solche Zahlen auf dem Tisch liegen, so eine Art Dynamik entsteht. Ich habe mit vielen Staatenvertretern gesprochen, gerade von Staaten, die jetzt in dieser Liste nicht so gut wegkommen. Und die erste Reaktion ist immer Ablehnung. Und dann wird erklärt, dass man das nicht kann, dass die Mittel fehlen und so weiter. Und in einem zweiten Schritt findet dann etwas ganz Erstaunliches statt, dann wird nämlich eine Diskussion darüber geführt, was denn eigentlich die tieferliegenden Ursachen, die Gründe dafür sind, dass die Asylsysteme in dem betreffenden Staat so dysfunktional sind. Und das ist eigentlich der Punkt, wo wir die Diskussion hin haben wollten, dass man eben spricht über die Defizite und die Ursachen für die Defizite. Warum zum Beispiel werden Asylbewerber in Griechenland nicht richtig versorgt, oder in Italien auch, obwohl die EU wirklich Massen an Geld da reingepumpt hat, in die Asylsysteme, und die funktionieren trotzdem nicht. Und über diese Ursachen und diese Gründe dafür, warum es nicht funktioniert, muss man sprechen. Und dafür ist dieses Quotenmodell eine sehr gute Chance und es funktioniert auch ganz erstaunlicherweise.
Kassel: Heute debattieren die EU-Innenminister in Mailand über die europäische Flüchtlingspolitik. Bei uns zu Gast gerade Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank! Morgen wird in allen Ausgaben unserer Sendung von "Studio 9" die Flüchtlingspolitik ein großes Thema sein, wir werden darüber sprechen und berichten, morgens, mittags und am Abend.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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