Feige, verlogen und zynisch
Die Europäische Union setzt auf Abschottung. Nähme aber die Staatengemeinschaft ihre in Sonntagsreden gefeierten Werte ernst, würde sie dem Sterben nicht weiter tatenlos zuschauen, kommentiert Clemens Verenkotte - sondern Luftbrücken für Flüchtlinge einrichten.
Ein kleiner Junge liegt leblos mit dem Gesicht nach unten am Strand, ertrunken angeschwemmt an die türkischen Küste; ein wie versteinert wirkender Beamter der türkischen Rettungskräfte hebt den Leichnam des dreijährigen Kindes auf.
Aylan Kurdi war sein Name, aus Kobane, der von der Terrormiliz IS belagerten und von kurdischen Einheiten gehaltenen Grenzstadt zur Türkei. Seine Mutter Rehan wollte mit Aylan und dem fünfjährigen Galip von der türkische Küste hinüber auf die griechische Insel Kos, dann weiter, weiter, bis zu den Verwandten in Kanada, wissend, dass ihr Asylantrag von Kanada abgelehnt worden war und es trotzdem keinen anderen Ausweg gab. In einem winzigen Boot, gekentert in der ägäischen Agonie internationaler Kaltherzigkeit.
Zugeschweißte Todestransporter auf europäischen Autobahnen, abgestellte LKW voller Leichen, völlig entkräftete Frauen, Kinder und Männer der seelenlos zynischen Willkür des großmächtigen EU-Mitgliedslandes Ungarn ausgeliefert, zusammengepfercht in abgezäunten Arealen Budapester Bahnhofswelten, um anschließend gnadenreich die Züge gen Westen rollen zu lassen. All das haben Europas Regierungen sehenden Auges in Kauf genommen, von Jahr zu Jahr mit immer stärker anschwellendem moralischen Timbre in der offiziellen Rechtfertigungsrhetorik: Grenzen schützen, Auffanglager an nordafrikanischen Küsten errichten, Personal verstärken an den südeuropäischen Landungszonen menschlicher Verzweiflung; "Quoten" bei der Verteilung der ruhmreichen europäischen Großherzigkeit - als ob es sich bei den Hunderttausenden von Notleidenden um Agrarprodukte handeln würde, verrät - wie immer - die Sprache, wessen Geistes Kind die EU ist.
Das gesamte europäische Denken, das bei weihevollen Jubelveranstaltungen mit den schönsten geisteswissenschaftlichen Attributen versehen wird - humanistisch, rechtstaatlich, freiheitlich, werteverpflichtet, dieses europäische Denken kennt keine Ausnahmen. Keine Ausnahmen, keine Abweichungen, keine humanitäre Kreativität.
Gutes Geschäft für Schleuser
Schleppern und Schleusern garantiert die abgeriegelte EU ein ebenso grenzenloses wie grauenvolles Geschäft, die Verbrechen der organisierten Kriminalität mit den tradierten, polizeilichen Abwehrmechanismen bekämpfend. Sichere Fluchtwege? EU-Schiffe, die über das Mittelmeer die längst traumatisierten Notleidenden vor weiteren Traumata oder gar Tod bewahren? Humanitäre Luftbrücken, die zwischen der Türkei und europäischen Flughäfen das menschliche Leid lindern könnten, um den Flüchtlingen die entwürdigenden Strapazen der balkanesischen Brutalität zu ersparen? Nein, nein - illusorische Gutmenschenträumerei.
Dem UN-Flüchtlingswerk sind längst die alarmierenden Superlative ausgegangen: Größte humanitäre Flüchtlingskatastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges! Millionenfaches Elend, ausgelöst von einem massenmörderisch hochbegabten Augenarzt namens Bashar al Assad, gestützt und finanziert von gleichermaßen zynischen Verbündeten, von der neuen regionalen Großmacht Iran und dem alten Alliierten aus dem Kreml. Sicher - es gibt Lichtblicke, politische Lichtblicke in der EU - und dazu zählt der letztlich humanistisch begründete Appell der Kanzlerin, Flüchtlinge hierzulande aufzunehmen.
Das kalte Kalkül von James Cameron
Doch das Dunkel überwiegt: Die ost- und südosteuropäischen EU-Neulinge haben auch 25 Jahre nach dem Zerfall der totalitären Herrschaftsideologie nichts hinzugelernt. Die jahrzehntelang verinnerlichte Fremdenfeindlichkeit dient jetzt zur Steigerung der nationalistischen Popularität der regierenden Herren in Prag, Bratislava und Budapest. Eine erbärmliche Vorstellung des europäischen Ostens, nur noch übertroffen von dem kalten Kalkül eines britischen Konservativen.
Ob er das Bild gesehen habe, das auf den Titelblättern aller großen britischen Zeitungen abgedruckt wurde, wollten Londons Medien von David Cameron wissen? Das Bild von dem dreijährigen Alyan, leblos am Strand? Großbritannien, ließ der Premier verbreiten, tue genug, zahle eine Menge. Nachfrage der britischen Medien: Ob Cameron das Bild "gesehen" habe, selber? Antwort aus der Downing Street: "Wir machen keine Angaben darüber, was der Premierminister sieht und nicht sieht."