EU-Flüchtlingsquote

"Ein Lastenausgleich ist notwendig"

Aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge auf einem Schiff vor Salerno.
40.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland will die EU-Kommission auf andere EU-Länder verteilen - aber viele Mitgliedsstaaten haben schon abgewinkt. © Imago / Zuma Press
Moderation: Korbinian Frenzel |
Flüchtlinge per Quote in der EU verteilen: Dafür sieht der Völkerrechtler Hans-Joachim Heintze keine rechtliche Verpflichtung der Mitgliedsstaaten. Sehr wohl aber müssten sie entsprechend ihrer Werte- und Solidaritätsgemeinschaft handeln.
Eine Quotenregel für Asylsuchende kann nach Auffassung Hans-Joachim Heintzes zwischen den EU-Staaten lediglich vereinbart und nicht erzwungen werden. Sie müsste unter anderem das Nationaleinkommen eines Landes und dessen Aufnahmefähigkeit berücksichtigen. Der Völkerrechtler wies zugleich darauf hin, dass die EU eine Werte- und Solidaritätsgemeinschaft sei und die Mitgliedsstaaten "ihren Verpflichtungen gerecht werden sollten".
So müsse Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsansturms geholfen werden: "Bei derartigen Massen, die dort anfallen, ist es tatsächlich so, dass hier ein (...) Lastenausgleich unbedingt notwendig ist", sagte der Professor an der Ruhr-Universität Bochum.
Nicht notwendig hingegen sei eine Änderung des umstrittenen Dublin-Abkommens, wonach der EU-Staat, in dem ein Flüchtling zuerst ankommt, für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständig ist. Diese Regel sei "schon richtig". Allerdings: "Rechtsbrüche gibt es - es gibt aber auch Mechanismen, auf Rechtsbrüche zu reagieren."
Im Falle Ungarns, das eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt, könne die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" einschreiten: "Wenn die Kommission der Meinung ist, dass die Rechtsverpflichtungen aus der Dublin-Konvention nicht eingehalten werden, dann muss man Ungarn abmahnen. Wenn das nicht funktioniert, dann müsste man zum Europäischen Gerichtshof (...) gehen und dort ein Verfahren anstrengen", sagte Heintze.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Die Ungarn mussten schon ein bisschen zurückrudern, so krass war die Ankündigung, die Grenzen komplett dicht machen zu wollen für Flüchtlinge, dass auch in Budapest klar war, damit kommen wir in der EU kaum durch. Aber der Versuch macht deutlich: Europa funktioniert ganz offensichtlich nicht bei der Riesenherausforderung unserer Tage, vernünftig mit der wachsenden Zahl an Flüchtlingen umzugehen, die nach Europa kommen. Wenn heute die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel zusammenkommen, dann wird genau diese Herausforderung ein Thema sein. Wir sprechen darüber jetzt mit Professor Hans-Joachim Heintze. Er ist Völkerrechtler an der Ruhr-Uni Bochum und Geschäftsführer am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht. Guten Morgen!
Hans-Joachim Heintze: Schönen guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Dürfen Staaten vor Menschen, die auf der Flucht sind, die Tür zuschlagen?
Heintze: Die Rechtslage ist kompliziert, weil einerseits muss man die Genfer Flüchtlingskonventionen anwenden. Und diese Genfer Flüchtlingskonvention geht davon aus, dass ein Asylbewerber sich bereits im Lande befindet. Wenn eine Person noch außerhalb des Landes ist, dann müsste man die Menschenrechte anwenden.
Ungarn ist Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention, und wenn diese Menschen, die außerhalb Ungarns sind, Gefahr laufen, dort außerhalb Ungarns misshandelt zu werden oder in den Heimatländern misshandelt zu werden, dann gibt es sehr viele Rechtswissenschaftler, die sagen: Menschen, die einer solchen Gefahr ausgesetzt werden, müssen einreisen dürfen, um sie vor dieser Gefahr zu schützen.
Frenzel: Das ist die rechtliche Sicht der Dinge. Ist das denn aus Ihrer Sicht auch in erster Linie eine rechtliche Frage oder eine politische oder vielleicht sogar eine moralische?
Heintze: Das Recht ist natürlich in bestimmte Formen gegossene Politik, denn Völkerrecht wird vereinbart durch die Staaten. Und natürlich der Ausgangspunkt für sehr viele rechtliche Regeln sind moralische Abwägungen, sind auch politische Erwägungen. Und bei der überragenden Bedeutung der Menschenrechte, die natürlich nicht nur Recht, sondern auch moralische Wertvorstellungen beinhalten, muss man also davon ausgehen, dass Recht und Moral sich hier ziemlich decken.
Die Verträge sind durchaus geeignet, mit dem Problem umzugehen
Frenzel: Wenn Sie sagen, Recht ist in Form gegossene Politik, und wir uns dann die EU anschauen, was sagt uns das? Ist die EU überfordert? Sind ihre Verträge ungeeignet, um mit dem Problem umzugehen?
Heintze: Nein. Die Verträge sind durchaus geeignet, mit dem Problem umzugehen. Man muss sie nur anwenden. Also, ich würde meinen, man muss hier unbedingt einmal darauf blicken, was die Dublin-Konvention vorsieht, das Dublin-Abkommen vorsieht. Das Dublin-Abkommen sagt, der Staat, in dem der Flüchtling zuerst ankommt – der EU-Staat, in dem der Flüchtling zuerst ankommt –, ist zuständig für die Bearbeitung des Asylantrages. Und wenn diese Dublin-Konvention nicht eingehalten wird, dann greifen die Mechanismen der Europäischen Union Platz.
Das bedeutet, die Kommission ist der Hüter der Verträge und wenn die Konvention der Meinung ist, dass die Verpflichtungen aus der Dublin-Konvention nicht eingehalten werden, dann muss man Ungarn abmahnen. Und wenn dies nicht funktioniert, dann müsste man zum Europäischen Gerichtshof, also nicht zum Menschenrechtsgerichtshof, zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg gehen und dort ein Verfahren anstrengen.
Frenzel: Nun gibt es ja nicht nur Kritik an diesen Dublin-Regeln aus Ungarn, sondern es gibt auch Kritik zum Beispiel, oder Schwierigkeiten damit in Italien, in Griechenland. Länder, die sehr viele Flüchtlinge aufnehmen, wo diese Regel Anwendung findet. Weil sie dort ankommen, muss dort auch das ganze Verfahren der Aufnahme geregelt werden. Müssen wir nicht von dieser Regel weg?
Man muss Staaten, die mit Masseneinwanderung konfrontiert sind, unterstützen
Heintze: Nein, die Regel ist schon richtig. Man muss nur die Staaten, die mit solchen Massen-Einwanderungen konfrontiert sind, die muss man entsprechend unterstützen. Und das ist eine Frage der Solidarität. Und das ist auch eine Frage, dass man die bestehenden Mechanismen am Leben erhält. Natürlich müssen die anderen Mitgliedstaaten dann Italien in den Stand versetzen, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Und bei derartigen Massen, die dort anfallen, ist es tatsächlich so, dass hier ein "Burden Sharing", ein Lastenausgleich, unbedingt notwendig ist.
Und das ist auch die Idee der Europäischen Union. Das ist eine Idee der Solidarität, das ist eine Idee der Wertegemeinschaft und zu diesen Werten muss man stehen, diese Werte muss man verteidigen. Aber ich muss auch sagen: Jede Rechtsordnung ist natürlich immer mit Rechtsverletzungen konfrontiert. Und man sollte also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, dass man nun sagt, die ganze Europäische Union funktioniert nicht. Rechtsbrüche gibt es. Es gibt aber auch Mechanismen, auf Rechtsbrüche zu reagieren.
Frenzel: Dieses "Burden Sharing", das Sie angesprochen haben, die Idee, das ist ja die ganz konkrete Idee der EU-Kommission, Quoten einzuführen, 40.000 Flüchtlinge jetzt zu verteilen auf die 28 Mitgliedstaaten, dagegen gibt es ganz klare Widerstände in den Ländern, die jetzt eher weniger Flüchtlinge haben. Diese Widerstände, können die denn eigentlich rechtlich gebrochen werden?
Natürlich müssen die reicheren Staaten mehr leisten
Heintze: Ja, weil es eben eine Wertegemeinschaft ist und eine Solidaritätsgemeinschaft, muss man die Mitgliedstaaten darauf hinweisen, dass sie ihren Verpflichtungen gerecht werden sollen. Es ist aber auch ganz klar, dass jeder Staat natürlich unterschiedliche Herausforderungen bearbeiten muss, und darum ist es auch ganz klar, dass die reicheren Staaten natürlich mehr leisten müssen.
Denn letztendlich ist auch sicherzustellen, dass kein Staat überfordert wird. Man kann die innere Stabilität eines Staates nicht auf das Spiel setzten, indem man zu viele Einwanderer aufnimmt. Man muss also berücksichtigen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben nach wie vor souveräne Rechte und sie haben nach wie vor natürlich nationale Interessen und das Gemeinschaftsinteresse ist die Stabilität der Mitgliedstaaten.
Frenzel: Aber jenseits des Appells, Herr Heintze, hat die EU keine Möglichkeiten zu sagen, ihr nehmt jetzt 20.000 Flüchtlinge auf?
Heintze: Nein. Also, das bedarf der Vereinbarung. Man wird aber dann eine Regel finden müssen, in der man das Nationaleinkommen eines Staates berücksichtigt, den Reichtum eines Staates berücksichtigt und die Möglichkeit eines Staates berücksichtigt, Personen aufzunehmen. Aber es ist eine Vereinbarung. Eine rechtliche Verpflichtung würde ich nicht sehen, dass tatsächlich von außen her eine Quote festgelegt werden kann. Die muss vereinbart werden.
Frenzel: Hans-Joachim Heintze sagt das, Völkerrechtler an der Ruhr-Uni in Bochum. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Heintze: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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