Warum der Brexit den Sauerländern Sorgen macht
Schon bald dürfte in Deutschland zu spüren sein, dass durch den Brexit der EU-Haushalt schrumpft. Die Pläne der EU-Kommission, ab 2021 ihre Förderung zurückzufahren, betrifft beispielsweise den Tourismusort Willingen im hessischen Teil des Sauerlandes.
Thomas Trachte startet seinen Dienstwagen und fährt mitten im Sommer in ein Skigebiet. Denn der 55 Jahre alte Mann ist seit 14 Jahren Bürgermeister in Willingen, einem der wichtigsten Skigebiete im Sauerland. Willingen gehört noch zu Hessen, doch die Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen ist nur wenige Kilometer entfernt.
Nach fünf Minuten Fahrt erreichen wir das Skigebiet mit 19 Skiliften, das im Winter mit 80 bis 100 Tage lang mit Kunstschnee betrieben wird. 6,5 Millionen Euro öffentlicher Mittel wurden in Infrastruktur gesteckt, die für die Beschneiung der Skilifte grundlegend ist, im wesentlichen Wasserspeicher und Leitungen und Pumpanlagen, um Wasser in die Skigebiete zu bringen.
Von dort aus haben dann die privaten Investoren noch einmal ähnliche Summen investiert. Also auch so sechs, sieben Millionen Euro, um diese Beschneiungsanlagen aufzubauen, anzuschließen, Schächte zu bauen und was da gemacht werden muß. Mit rund 14 Millionen Euro Investitionen sind wir ungefähr gestartet für das ganze Skigebiet. Inzwischen sind aber mindestens in der gleichen Höhe Folgeinvestitionen getätigt worden oder werden gerade getätigt. Das sind aber dann private, nicht geförderte Investitionen, die auf dieses System aufbauen.
Lebensqualität durch Förderprogramme
Rund 1,3 Millionen Übernachtungen zählt Willingen inzwischen Jahr für Jahr – alleine mehr als zehn Millionen Euro Mittel der Europäischen Union sind in den vergangenen Jahrzehnten in touristische Anlagen geflossen, die wohl ohne öffentliche Förderungen nie entstanden wären. 220.000 Arbeitsplätze hängen im sechs Millionen Einwohner zählenden Hessen von Tourismus ab, sagt das hessische Wirtschaftsministerium.
Willingen alleine hat 10.000 Gästebetten – bei nur 6.000 Einwohnern. Bürgermeister Thomas Trachte sieht mit Sorge, dass die EU-Fördermittel für Deutschland schon im Vorfeld des Brexits um rund ein Fünftel zurückgefahren werden:
"Ich denke schon, dass die Lebensqualität hier in dieser nordhessischen Region, die eher strukturschwach ist, ganz wesentlich dadurch unterstützt wird, dass es solche Förderprogramme gibt", sagt er. "Wenn die wegfallen oder gekürzt werden, dann wird es hier in vielen Punkten schwierig werden."
Der Bürgermeister steuert sein Auto zurück in den Ortskern. Er stoppt vor einem Gebäudekomplex, an dessen Eingangstüren an mehreren Stellen das blaue Wappen mit den gelben Sternen der EU angebracht ist. Darunter der Satz "Diese Einrichtung wurde von der Europäischen Union finanziell gefördert". Thomas Trachte drückt eine Eingangstür auf: "Die Einrichtung, die wir uns jetzt anschauen, ist ein ganz wesentlicher Infrastruktur-Bestandteil hier in unserer Gemeinde"; sagt er. "Wir sind hier in dem sogenannten Besucherzentrum. Hier befinden sich vor uns Hallen, Veranstaltungsräume, Tagungsmöglichkeiten. Rechts ist die Tourismusinformation und wenn man dort hingeht, kommt man in das Café der Eissporthalle, kann in die Eissporthalle schauen und auf der anderen Seite ist das Lagunen-Erlebnisbad, ein Riesen-Freizeit- und Leistungszentrum, in dem wir pro Jahr mindestens 350.00 Besucher haben."
Im Café an der Eissporthalle sitzen Hermine und Rita aus dem belgischen Mechelen bei Antwerpen. Sie haben gerade eine Wandertour auf den umliegenden Sauerlandbergen hinter sich und schwärmen von ihren Eindrücken: "Das Grüne und der Wald!" Dass die EU die Einrichtung bezahlt hat, in der sie jetzt ihre Wanderpause machen, finden die beiden Frauen um die 60 Jahre richtig: "Wir zahlen alle für das, für Europa zahlen wir", sagt Rita und Hermine fügt hinzu: "Ich denke, dass Europa gut ist für uns."
Gäbe es das Bad ohne EU-Gelder?
Dies findet auch der Wirt des Cafés an der Willinger Eisporthalle, der Christos Pennos heißt: "Dass auch die EU hier Gelder reinsteckt, dass wir hier am Leben bleiben und unsere Gastronomie hier fortführen können. Und auch speziell für die Gäste, die alles hier vor Ort haben dann. Auf einer Ecke, das ist auch ganz wichtig."
"Halt Stopp! Macht mal ein bisschen Platz. Jetzt müssen wir mal ganz kurz durchzählen." Direkt unter dem EU-Schild an der Tür des Lagunenbades zählt ein Lehrer die Kinder seiner Grundschulklasse, bevor die Gruppe das Bad bevölkern wird. Es herrscht reger Betrieb. Weitere 18 Millionen Euro will die Stadt Willingen in den nächsten Jahren allein in die Erweiterung und Modernisierung des nun rund 30 Jahre alten Komplexes investieren. Die Folgekosten, vor allem der Energieaufwand, sollen mit neuer Technik deutlich reduziert werden.
Das Bad wäre ohne die EU-Förderung wäre es möglicherweise nie gebaut worden, sagt Bürgermeister Thomas Trachte: "Ich bin davon überzeugt, dass insbesondere im Tourismus wichtig ist, dass im Bereich der öffentlichen Infrastruktur, das ist dann oftmals eine solche Infrastruktur wo oft keine oder nur eine Teil-refinanzierung möglich ist, die aber wichtig ist, um die Orte attraktiv zu machen, dass das ohne Unterstützung der jeweiligen Orte nicht funktionieren kann. Privat würden solche Dinge, die wir machen, nicht gebaut und die Finanzierung der Folgekosten, die ist dann gewährleistet durch Gewerbesteuer-Einnahmen, Kurtaxe-Einnahmen. Das sind dann Summen, die hier im Haushalt dann zusammenkommen, die ohne den Tourismus ja auch nicht da wären, mit denen man dann solche Folgekosten finanzieren können."
Das Lagunenbad trägt sich allerdings selbst - anders als andere Einrichtungen in der Stadt, die mit EU-Mitteln finanziert wurden. Auf der Rückfahrt zum Rathaus hält der Bürgermeister an einem sogenannten "Abenteuer-Golfplatz" in einem Bachtal- eine Mischung aus Minigolf und Großgolfanlage – auch mit EU-Mitteln finanziert.
Suche nach Attraktionen
Touristenorte wie Willingen müssen immer neue Attraktionen schaffen, um die Besucher zu binden, betont der Bürgermeister: "Es sind eben die vielen anderen Destinationen, die es in Deutschland und in Europa gibt, die vergleichbare Angebote wie wir haben und am Markt sind. Es sind aber auch Reiseveranstalter, Konzerne, große Hotelketten und so weiter. Halt alle die, die in großem Maßstab den Tourismusmarkt bearbeiten. Weil der Kunde ist nur einmal da und der kann sich auch nur für eine Sache entscheiden und darum ist das eben auch alles Konkurrenz."
Thomas Trachte will deshalb seine Planungen für neue Attraktionen nicht davon abhängig machen, welche EU-Subventionskürzungen der Brexit zur Folge hat. Wenn die Geldquelle aus Brüssel weniger reichlich sprudelt, müssen andere öffentliche Geldgeber einspringen. Etwa das Land Hessen oder der Bund. In den letzten zehn Jahren seien rund 42 Millionen Euro aus Brüssel, Berlin und Wiesbaden in touristische Infrastruktur-Projekte in Hessen geflossen, sagt das hessische Wirtschaftsministerium. Diese Subventionen seien durch private Investitionen noch einmal verdoppelt wurden. Hessen rangiert bei der touristischen Nachfrage im Vergleich der Bundesländer im oberen Drittel.
Damit auch im hessischen Sauerland die Nachfrage groß bleibt, erzählt Bürgermeister Thomas Trachte am Ende seiner Tour durch den Ort noch von seinen nächsten Plänen, noch mehr Moutainbiker in die Region zu locken: "Wir arbeiten gerade konzeptionell daran, einen sehr, sehr großen Trailground zu schaffen. Trailground – das ist eine spezielle Streckenführung für Mountain-Biker mit entsprechender Ausstattung und speziellen Wegen. Und da stehen auch so 14 Millionen Euro im Raum. Wie so was funktionieren kann? Es ist im Moment eine Kooperation von 17 Gemeinden und dem Landkreis Waldeck-Frankenberg. Und auch da wird die Frage zu stellen sein, ist da eine Unterstützung, eine Förderung möglich, dass eine solche Infrastrukturmaßnahme kommen kann."
Zurück auf dem Rathausparkplatz von Willigen/ Upland. Und ein Fazit des Bürgermeisters zum drohenden Brexit und angekündigten Kürzungen der EU-Mittel für die Region: "Wenn weniger Förderung kommt, werden meiner Meinung nach auch weniger Projekte realisiert. Was nicht nur ein Problem der betroffenen Kommune ist, sondern das könnte ein strukturelles Problem insgesamt geben."