"Die Menschen schlafen in Schichten"
Auf dem Weg nach Europa kommen 90 Prozent der Flüchtlinge über Libyen. Die Menschenrechtslage dort sei furchtbar, so der UN-Sondergesandte für Libyen, Martin Kobler. Auch deshalb sei es wichtig, auf dem EU-Gipfel zu einem strategischen Übereinkommen mit der Regierung zu kommen.
Dieter Kassel: Beim EU-Gipfeltreffen in Brüssel heute und morgen wird es unter anderem auch um einer verstärkte Zusammenarbeit mit Libyen gehen zum Zwecke, Schleppern das Handwerk zu legen und zu verhindern, dass sich Menschen auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer zu machen, um illegal in die Europäische Union zu kommen. Einfach in Libyen bleiben allerdings, das können sie auch nicht, zumindest nicht unbegrenzt, denn schon im Vorfeld dieses EU-Gipfels hat gestern der libysche Regierungschef gesagt, dass es keine weiteren Flüchtlingslager in seinem Land geben wird. Er will keine neuen errichten.
Welche Zusammenarbeit der EU mit Libyen ist also überhaupt konkret möglich und sinnvoll? Darüber wollen wir jetzt mit Martin Kobler sprechen, noch bis Ende des Monats ist er der UN-Sondergesandte für Libyen und Leiter der United Nations Support Mission in Libya. Herr Kobler, einen schönen guten Morgen!
Martin Kobler: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn es nun gar keine Flüchtlingslager geben soll, dann ist das für die EU eine schlechte Nachricht, aber nach dem, was Sie alles aus Libyen wissen, können Sie diese Entscheidung der Regierung dort verstehen?
Kobler: Erstmal habe ich großes Verständnis für die Europäer, die Flüchtlingsströme regeln zu wollen, denn das ist ein wirkliches Problem, und 90 Prozent kommen ja aus Libyen. Auf der anderen Seite ist Libyen kein Staat, in dem weitere Flüchtlingslager zum jetzigen Zeitpunkt errichtet werden können. Die Regierung hat keine Kontrolle, nicht mal über die Küste, nicht mal über ganz Tripolis. Insofern ist es sehr wichtig, dass man mit der Regierung wirklich zu einem strategischen Übereinkommen kommt, wie man das macht.
"Die Regierung hat keine Kontrolle"
Zurzeit geht das nicht. Zurzeit ist es so, dass die Menschenrechtslage das auch nicht zulässt. Die Regierung hat keine Kontrolle. Die Zustände in den Lagern – und ich gehe einmal alle 14 Tage in diese Lager rein, auch Außenminister Gabriel war neulich in Tripolis und hat eines dieser Lager besucht –, das rechtfertigt wirklich nicht, hier weitere Flüchtlinge aufzunehmen, rückzusiedeln. Die Menschenrechtslage ist furchtbar. Die Menschen schlafen in Schichten, im Stehen. Se sind krank, teilweise sterben sie. Sie bekommen nicht genug Nahrung. Das sind untragbare Zustände hier, und insofern müssen da andere Lösungen gefunden werden.
Kassel: Mal abgesehen von den Zuständen, was auch die wirtschaftliche Lage, was die Kontrolle der Regierung angeht, wie geht es denn den Menschen in Libyen, also den Libyern? Ich meine, die werden ja wahrscheinlich auch ihre Probleme haben, wenn sie selber nicht zurecht kommen, andere, weitere Menschen aufzunehmen.
Kobler: Libyen ist ja ein reiches Land. Libyen hat die größten Ölreserven Afrikas, und in der Zeit, die ich jetzt überblicken kann, ist auch die Ölproduktion wieder gestiegen, von 200.000 Barrel am Tag auf eine Million fast. Also insofern kann es natürlich finanziert werden. Das Problem ist nicht das Geld. Das Problem ist nie das Geld in Libyen. Den Menschen geht es relativ gut. 1,6 Millionen Libyer sind ja auf der Payroll der Regierung, von sechs Millionen Libyern. Insofern ist schon Geld da.
Das Problem ist die Abwesenheit staatlicher Gewalt, und der Kampf um das Geld, der Kampf und die Ölreserven, der Kampf um die Macht. Die politische Landschaft ist ungeheuer fragmentiert, und wir arbeiten zusammen mit den Libyern in einem geduldigen Prozess an dem, was man Nation Building nennt. Eine Nation wieder zusammenzuführen, die eigentlich nie eine war, die auf 42 Jahre Gaddafi-Diktatur zurückschaut, und das geht nicht von heute auf morgen.
EU möchte Küstenwache in Libyen ausbauen
Kassel: Nun hat die EU ja schon angekündigt, keine neuen Flüchtlingslager, das akzeptiert sie natürlich, was bleibt ihr auch übrig, aber sie will die Sicherheitsmaßnahmen verstärken, sie will Geld geben für einen weiteren Ausbau der Küstenwache in Libyen, will auch weitere Schulungen anbieten. Aber inwiefern gibt es denn überhaupt im Moment schon eine Küstenwache, die vergleichbar ist mit dem, was wir so von europäischen Ländern kennen?
Kobler: Es gibt den Kernbestand von Küstenwache, mit denen wir auch zusammenarbeiten. Es ist natürlich im Grundsatz richtig, diese Küstenwache auszubilden. Aber man darf dabei nicht stehen bleiben. Wir haben wirklich zuverlässige Berichte, dass auch Teile der Küstenwache mit den Schmugglern zusammenarbeiten, dass sie die Maschinen, die Motoren der Schiffe stehlen und an die Schmuggler wieder zurückverkaufen. Da gibt es eine Kollusion, eine Zusammenarbeit von Teilen der Küstenwache mit den Schmugglern selbst. Das kann man durch einfaches Training außerhalb der Zwölfmeilenzone – das macht die Europäische Union ja – nicht abstellen.
Deswegen müsste man den zweiten Schritt tun und den dritten Schritt tun. Ausbildung ja, aber dann auch die Ausgebildeten innerhalb der Zwölfmeilenzone auf ihren Einsätzen begleiten, um Missbrauch zu verhindern. Wenn man das sich von außen hier anschaut und auf Schiffen im Mittelmeer oder an Land in Italien, die Küstenwache trainiert, ist das sicherlich nicht genug. Man muss dann hinterher wirklich auch die Leute überwachen durch ein Monitoring-System und auf den Patrouillen mitfahren, um hier Missbräuche zu verhindern.
Kassel: Ich frage mich aber ganz schlicht, Herr Kobler, Sie haben ja beschrieben, wie es jetzt in den Flüchtlingslagern in Libyen zugeht. Wir haben gehört, dass Libyen verständlicherweise keine weiteren Lager bauen will. Wenn es nun der Küstenwache tatsächlich gelänge, den Schleppern das Handwerk zu legen und die Flüchtlinge daran zu hindern, sich auf den Weg ins Mittelmeer zu machen, was aber dann? Ich meine, es gibt ja keinen Ort für sie, wo sie dann in Libyen bleiben können.
Aufbau von Flüchtlingslagern nicht der richtige Weg
Kobler: Das muss man dann schauen. Man muss wirklich auf mehreren Gebieten ansetzen. Erstens ist Ausbildung eine wichtige Sache, wenn man es dann wirklich begleitet hinterher. Zweitens, der Kontakt natürlich mit der Regierung in Libyen. Was macht man, wie Sie gesagt haben, mit den Flüchtlingen. Da ist die libysche Regierung auch flexibel. Man muss nur mit ihnen richtig in Kontakt treten. Aufbau von Flüchtlingslagern, um die Menschen dort zu halten, das ist sicherlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht der richtige Weg, weil die Regierung gar keine Kontrolle im Land hat.
Die andere Frage ist die Grenzkontrolle dann im Süden zu Niger, wo die Leute ja herkommen, aus dem Tschad, aber auch aus Somalia, über den Sudan, Eritrea. Hier mit den Anrainerstaaten ein Abkommen abzuschließen wegen der Grenzkontrolle. Aber dann natürlich das Allerwichtigste: Zu fragen, warum gehen die Leute denn nach Libyen, auf diesen gefährlichen Weg nach Europa? Die Grundursachen in den Ursprungsländern bekämpfen. Eritrea, Somalia, Niger, Nigeria – warum kommen sie denn? Und hier ansetzen, aber wirklich, nicht kleckern, sondern klotzen, mit den Ländern, aus denen diese Flüchtlinge kommen, und hier gute Bedingungen schaffen, ein Leben aufbauen.
Wenn ich mit den Flüchtlingen rede, warum seid ihr denn gekommen, dann sagen sie, weil wir nichts zu essen haben, oder weil wir politische Probleme haben oder weil wir Terrorismusprobleme haben. Und da muss die Europäische Union ran, da muss die internationale Gemeinschaft ran, in partnerschaftlichen Weisen mit den Anrainerstaaten, mit den Ursprungsländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, hier zusammenzuarbeiten, um ihre Probleme dort zu lösen. Denn nur dann bleiben die Flüchtling dort, wo sie sind.
Kassel: Ich bin jetzt fast versucht, ganz böse anzumerken, das ist leichter gesagt als getan, denn ankündigen tut ja auch solche Maßnahmen die EU regelmäßig. Warten wir ab, was wirklich passiert. Martin Kobler war das. Er ist noch bis Ende des Monats UN-Sondergesandter für Libyen und Leiter der United Nations Support Mission in Libya. Herr Kobler, vielen Dank für das Gespräch!
Kobler: Ganz vielen Dank!
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