"Jeder muss die Möglichkeit haben, europäischen Boden zu betreten"
Der Münchener Erzbischof Reinhard Marx fordert von den EU-Staaten eine humanere Flüchtlingspolitik. Menschen in Not ertrinken zu lassen und nicht zu retten, sei "völlig gegen den Geist Europas", kritisierte der Kardinal. Das Asylrecht dürfe aber nicht aufgeweicht werden.
Marietta Schwarz: Bootsflüchtlinge sterben vor Lampedusa, überfüllte Flüchtlingslager an der Grenze zur EU werden geräumt, und in der Enklave Melilla gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen afrikanischen Flüchtlingen und Grenzbeamten. Die Flüchtlingsproblematik bleibt in und um Europa bestehen, doch auf einen gemeinsamen Kurs kann die EU sich nicht einigen. Der Bundestag beschäftigt sich heute auf Antrag der Linkspartei mit dem Thema Flüchtlinge. Sie fordert in ihrem Antrag für eine "offenere, solidarische und humane" Flüchtlingspolitik der Europäischen Union etwa die Abschaffung der EU-Grenzpolizei Frontex und das Ende der Dublin-II-Verordnung. Am Telefon ist der Münchener Kardinal Reinhard Marx, der sich bereits Anfang des Jahres kritisch zur Flüchtlingspolitik der EU geäußert hat. Guten Morgen, Herr Kardinal!
Reinhard Marx: Guten Morgen, Frau Schwarz!
Schwarz: "Europas Grenze darf keine Todesfalle sein" haben Sie gesagt, Herr Marx. Da sind Sie sich in Ihrem Anliegen mit der Linkspartei absolut einig. Auch in der Konsequenz, sprich Öffnung der Grenzen, weg mit Frontex und so weiter?
Grenze Europas soll keine Mauer sein
Marx: Öffnung der Grenzen ist ja noch mal etwas anderes. Sondern es geht darum, und das haben wir auch bei den europäischen Bischöfen, wo ich ja auch die Präsidentschaft habe, besprochen. Es geht darum, dass wir – ich will es einmal so sagen – die Philosophie etwas ändern. Es darf nicht sein, dass die Grenze Europas wie eine Mauer ist, wo wir Tod in Kauf nehmen, damit niemand europäischen Boden betritt. Das habe ich auch dem Präsidenten Barroso gesagt in einem Gespräch, der gerade von Lampedusa zurückkam. Vor Weihnachten haben wir darüber gesprochen.
Jeder muss die Möglichkeit haben, europäischen Boden zu betreten, der in Not ist, der existenziell betroffen ist, der Asyl sucht. Und dann wird jeder, der europäischen Boden betritt, menschenwürdig behandelt. Ob er dann bleiben kann oder nicht, das sind Dinge, die natürlich breiter beraten werden müssen. Aber es darf nicht so sein, und das scheint mir die Philosophie von Frontex gewesen zu sein, und das darf nicht so bleiben, dass man alles tut, damit niemand auch europäischen Boden betreten kann.
Schwarz: Die EU reagiert aber mit verschärfter Abwehr auf die Dramen im Mittelmeer. Also bessere Grenzsicherung, wirkungsvoller Kampf gegen Schleuser. Das spricht ja jetzt nicht für das, was Sie gerade gesagt haben, Veränderung der Philosophie.
Marx: Ja, dann müssen wir dann dran bleiben, auf jeden Fall. Das muss – das darf nicht akzeptiert werden, weil es hier einmal um den Schutz von Menschen geht. Wenn Menschen in Not sind, kann ich sie ja nicht einfach ertrinken lassen, oder muss alles tun, damit sie nicht gerettet werden. Das wäre ja völlig gegen den Geist Europas. Also Europa schädigt sich selber langfristig, wenn es eine solche Philosophie aufrechterhalten würde oder praktizieren würde. Das kann noch nicht die Frage beantworten, wie sieht die Einwanderungspolitik Europas aus?
Es gibt ja auch keine gemeinsame Vorstellung. Das ist sicher auch eine Ursache des Problems, dass wir keine gemeinsame Einwanderungspolitik haben und auch die Grenze nicht als eine gemeinsame wirklich verstehen. Viele Gesetze sind widersprüchlich, die dann die einzelnen nationalen Regierungen treffen. Aber ich sage immer, Lampedusa, Mittelmeer, aber auch natürlich Osteuropa oder die Grenze Griechenlands ist unsere Grenze, die europäische Grenze. Und deswegen braucht man auch eine gemeinsame Regel, um an dieser Grenze zu arbeiten und auch eine gemeinsame Verantwortung, wie wir dann mit den Flüchtlingen umgehen.
Schwarz: Deutschland gehört ja zu jenen EU-Staaten, die sagen, wir wollen keine neue Lastenverteilung, etwa, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Sie haben das ja gerade angesprochen. Ja, Herr Marx – welchen Appell richten Sie denn da ganz konkret an die Bundesregierung?
Humane Gestaltung der Grenze
Marx: Die Bundesregierung muss sich, glaube ich, einsetzen dafür, dass das sogenannte Grenzregime wirklich human ist. Das, denke ich, ist Auftrag der Bundesregierung. Denn sie ist eine starke Stimme in der Europäischen Union und hat das zu vertreten. Wie die Lastenverteilung aussieht, das müssen die Länder auch untereinander besprechen. Wir haben unterschiedliche Zahlen dort auch. Es ist ja nicht so, als würden Italien oder auch Griechenland die meisten Lasten tragen, sondern Schweden, ein kleines Land, geht voran. Man kann also vergleichen; es gibt durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen dort.
Das ist die eine Frage: die Menschen, die von außen kommen. Die andere Frage ist ja noch einmal die Frage etwa der Flüchtlinge aus Syrien, den Kontingentflüchtlingen. Das ist noch einmal ein anderes Thema. Aber hier, bei dem Grenzregime, wo Menschen auch wirklich zu Schaden kommen, geht es erst mal darum, eine humane Gestaltung dieser Grenze, eine vernünftige Behandlung derer, die europäischen Boden betreten. Jeder hat seine Menschenwürde, und die ist zu achten. Sonst würde Europa seinen eigenen Geist beschädigen.
Schwarz: Jetzt ist hierzulande eher eine Abwehrreaktion zu beobachten. Die Zahl der Asylanträge steigt in Deutschland, also bitte senken, indem wir bestimmte Herkunftsländer als sicher erklären. Ist das ein nachvollziehbarer Schritt für Sie?
Marx: Nein. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht, ein Grundrecht. Und es betrifft, ich wiederhole es, den Kern auch des europäischen Geistes. Das heißt, hier pauschal zu sagen, na ja, bestimmte Länder, da brauchen wir nicht so genau hinzuschauen, das ist schwierig. Ich will ein Beispiel nennen. Serbien wurde jetzt auch genannt. Das könne man pauschal wieder erledigen. Aber es kann ja sein, dass es Situationen gibt, etwa gerade auch für Sinti und Roma oder für Homosexuelle, die in einer Bedrängnissituation sind. Also, ich zögere zu sagen, bestimmte Länder, da brauche ich nicht mal nachzuschauen. Man sollte sich doch die Mühe geben, einen Blick auf das Einzelschicksal zu werfen, denn sonst kann man leicht eine solche Asylpolitik auch aushebeln.
Schwarz: Herr Marx, das Thema Flüchtlinge ist der katholischen Kirche ein großes Anliegen. Die erste Reise, die Papst Franziskus in seiner neuen Funktion unternahm, war ja die nach Lampedusa. Was kann denn Kirche politisch da erwirken?
Papst hat viele Emotionen in Bewegung gesetzt
Marx: Ja, zunächst einmal können wir solche Zeichen setzen. Und es ist ja offensichtlich, dass der Papst durch seine Reise auch viel in Bewegung gesetzt hat, auch viele Emotionen. Aber Emotionen sind erst einmal notwendig, damit wir auch dann zu Schritten kommen, die man politisch machen kann. Das andere ist natürlich die Frage, wie wir uns verhalten. Lampedusa ist ja ein Beispiel auch dafür, dass gerade die christlichen Gemeinden dort, die Pfarreien, die Kirche, sehr aktiv waren – und auch helfen wollten. Die Fischer, die davon erzählen, dass sie sagen, wir wollen ja helfen, wir können es nicht hinnehmen. Das, glaube ich, ist auch Aufgabe der Kirche.
Dann kommt als Nächstes natürlich hinzu: Wenn Menschen bei uns eingewandert sind, dem Asylantrag entsprochen wurde – aber es gibt ja auch die normale Einwanderung, normale Migration, dann geht es um die Frage der Integration. Auch da können die Pfarreien, können die Kirchen eine große Rolle spielen. Ich erlebe das ja auch hier in München, mit welcher Aktivität dann auch versucht wird, die Neuankömmlinge wirklich willkommen zu heißen und zu helfen. Viele Ehrenamtliche engagieren sich in dem Bereich, auch in unserem Bistum.
Und dann muss ich wirklich sagen, das ist eine großartige Sache. Es gibt hauptamtliche Arbeit von der Caritas, aber es gibt viele Ehrenamtliche, die da für die Jugendlichen was tun. Besonders etwa liegt mir am Herzen die Arbeit mit den nicht begleiteten jungen Flüchtlingen, die etwa aus Afghanistan kommen. Da geschieht sehr vieles, und da kann sich auch zeigen, ob die Kirche vor Ort hilfreich ist und nicht nur redet.
Schwarz: Der Münchener Kardinal Reinhard Marx zur Flüchtlingsproblematik in der EU. Das Interview haben wir aufgezeichnet.
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