Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit
Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen
Verlag PapyRossa, Köln 2013
155 Seiten, 12, 90 Euro
Europas Kapitulation vor dem Neoliberalismus
Frieden, Freiheit, Versöhnung? Von wegen! Die europäische Idee steckt tief in der Krise, die EU verliert an Legitimation. Zwei neue Bücher räumen nun auf mit dem Mythos Europa.
"Ob Europa, das Wort als geistiger Begriff genommen, zu existieren aufgehört hat?"
Diese bange Frage hat Hugo von Hofmannsthal gestellt, das war im Jahr 1921, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der europäischen Staatengemeinschaft zwischen den Jahren 1914 und 1920. Begriffe wie "Europa", "Europäer", "europäisch" hielt er für gänzlich ungesichert und fürchtete:
"Es ist eine sehr große, angespannte Bemühung nötig, sie neu zu sichern."
Dazu ist es nie gekommen. Das, was heute Europa heißt, ist ein Markt mit der dazu gehörenden Bürokratie, um das freie Marktgeschehen vor lästigen Eingriffen zu schützen. Sein Symbol ist eine Währung: der Euro.
Die Verheißung des Gemeinsamen Marktes und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft lautete: Wohlstand für alle bei möglichst gleichen Lebensverhältnissen. Das war nach 1945 ein pragmatisches Ziel im gespaltenen Europa. Dafür bedurfte es keiner weiteren Ideen oder Gedanken. Und bislang hat diese erfolgreiche Wirtschaftsgemeinschaft ihre Anziehungskraft nach Außen nicht verloren. Im Inneren hingegen wachsen die Zweifel. Nur noch eine Minderheit vertraut der Europäischen Union. Die Entfremdung von ihr nimmt weiterhin zu. Die Eurokrise hat unweigerlich zu einer Europakrise geführt.
"Der Europäischen Union kommt die Legitimation abhanden".
Mit diesem lapidaren Satz beginnt Andreas Wehr seine Auseinandersetzung mit einigen politischen Köpfen wie Jürgen Habermas, Ulrich Beck oder Daniel Cohn-Bendit, die von Europa - aus Ermangelung an Gedanken - träumen und darüber die Wirklichkeit endgültig aus dem Auge verlieren.
"In der Krise wird erkannt, dass die Europäische Union nicht die große Völkerfamilie ist, die all ihren Nationen Entwicklung und Wohlstand bringt. Sie ist nicht die 'immer engere Union der Völker Europas', als die sich selber bezeichnet. Erneut bestätigt sich, dass es unter den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung keine gleichmäßige Entwicklung der Staaten geben kann".
Europas Friedensfreunde feier die Zivilgesellschaft
Damit widersetzt sich Andreas Wehr entschieden der europäischen Orthodoxie. Deren Heilsgewissheit besteht im Glauben an die Segnungen der Globalisierung und des Neoliberalismus, der in Europa zu transnationalen Konstellationen führen werde, die wiederum den globalen Traum einer neuen conditio humana beflügeln. Netzwerke lösen die Nationen auf, und eine Zivilgesellschaft im herrschaftsfreien Raum dämpft als Gegengift die Auswüchse der kommerzialisierten und ökonomisierten Weltkultur.
Vor Ulrich Becks entzücktem Auge etwa erscheint unter solchen Voraussetzungen eine europäische Gesellschaft, die selig in sich selbst schwingt, weil erfüllt von den Prinzipien der Fairness, des Ausgleichs, der Versöhnung und der Verhinderung von Ausbeutung. Andreas Wehr bemerkt trocken:
"Sarkastisch könnte man an Stelle solcher Prinzipien auch die Forderung stellen, der Tiger wird gebeten, kein Fleisch mehr zu essen. Einmal mehr wird hier ein schöner Traum von Europa der realen Wirklichkeit gegenübergestellt."
Vor allem deutsche Friedensfreunde feiern die staatsferne Zivilgesellschaft mit fast religiöser Inbrunst, von europäischen Werten beseelt und durchdrungen. Der unergriffene Andreas Wehr dagegen erinnert prosaisch daran, dass bei Antonio Gramsci, der diesen Begriff einführte, die Zivilgesellschaft überhaupt nicht als herrschaftsfrei erscheint,
"…denn tatsächlich ist sie geprägt von Abhängigkeiten und Unterdrückungsverhältnissen, die sich aus gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen jeglicher Art speisen".
Wehr vermutet, dass das liebenswürdige Wort "zivil" als Synonym für angemessen, kultiviert und nicht repressiv dazu verleitete, einen prägnanten Begriff umzudeuten. Mit seinen neuen Inhalten passe er genau in Ahnung und Gegenwart der Vision von Europa als Friedensprogramm. Die neoliberalen Globalisierer, die sich als aufgeklärte Linke verstehen, versenken Begriffe statt Schiffe. Und dieses Spiel betreiben sie vor allem, um ihrer Kapitulation vor dem Neoliberalismus einen Sinn zu verleihen. Folgt man diesem Denken, so haben erst der Neoliberalismus, die Globalisierung und die Entnationalisierung ein Europa als kriegsfreien Raum und als Vorbild für die Organisation eines dauernden Friedens ermöglicht.
Fördert der Markt wirklich den Frieden?
Freilich dienen diese Beschwörungen auch dem Versuch, von der moralisch aggressiven Politik der Europäischen Union abzulenken. Denn Andreas Wehr wie auch Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou in ihrem "Manifest für ein egalitäres Europa" halten das europäische Friedensprojekt für eine ideologische Konstruktion, um ein Markteuropa erst sittlich zu legitimieren und dann zu überhöhen. Dazu gehört die ununterbrochene Beteuerung, der Markt in seinem Wettbewerb und dem geregelten Austausch fördere den Frieden. Die Wirklichkeit in Gestalt von Handelskriegen oder wirtschaftlichen Sanktionen als Strafen kommt in diesem Weltbild nicht vor.
Außerdem tritt die Europäische Union nicht so sehr als Europa auf, sondern immer als Glied der westlichen Wertegemeinschaft, als Teil des Westens und seines Programms der Verwestlichung der Welt. Dieses Programm machte sich die Europäische Union zu Eigen in der Absicht, zu jener durchaus imperialistischen Supermacht zu werden, von der Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou reden.
Andreas Wehr betont in diesem Sinne die enge Arbeitsteilung in der Atlantischen Gesinnungsgemeinschaft, die die Europäische Union überwölbt.
"Verstehen sich die europäischen Staaten und die EU als sogenannte 'soft – power' auf die ideologische Durchdringung anderer Gesellschaften durch einen ausgeklügelten Menschheitsimperialismus, so sind die USA eher für die groben Maßnahmen zuständig, dann nämlich, wenn es um den Einsatz militärischer Gewalt geht."
Auf diese Arbeitsteilung kommt es gerade den ideologischen Neoliberalen an, ob Habermas, Beck oder Cohn-Bendit. Denn für sie hängt ein Überleben Europas gerade davon ab, inwieweit es eben auch politisch-moralisch eine Weltmacht bleibt und deshalb als umfassender Global Player weltweit beachtet werden muss. Nichts fürchten sie so sehr wie ein Europa, das nicht risikofreudig auftritt und es unterlässt, seine zivile Kultur der Verantwortung zur Geltung zu bringen. Hinter ihren Überlegungen zur Westlichen Wertegemeinschaft sehen Andreas Wehr, Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou eine ungebrochen imperiale Sendung: also einen globalen Traum, zu dem sich der europäische Traum erweitere.
Hugo von Hofmannsthal dachte sich die schöpferische Restauration Europas wohl anders. Sie bleibt weiterhin eine vorerst ungelöste Aufgabe.
Karl Heinz Roth, Zissis Papadimitriou: Die Katastrophe verhindern
Manifest für ein egalitäres Europa
Edition Nautilus, Hamburg 2013
Seiten: 126, 9,90 Euro