"Das Massensterben wird weitergehen"
Am 1. November startet die EU-Operation "Triton", die Flüchtlinge im Mittelmeer abfangen soll. Damit betreibe die EU in erster Linie Grenzschutz, kritisiert Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl". So würden weiter massenhaft Menschen sterben.
Dieter Kassel: Als Reaktion auf das schlimme Unglück von Oktober 2013, bei dem vor der Küste der Insel Lampedusa 366 Flüchtlinge ums Leben kamen, hat die italienische Regierung eine Operation mit dem Namen "Mare Nostrum" ins Leben gerufen. Im Rahmen dieser Operation patrouilliert die italienische Marine im Mittelmeer und rettet Flüchtlinge, die mit oft seeuntauglichen Booten versuchen, das europäische Festland zu erreichen. Die Operation ist erfolgreich, auch wenn es weiterhin immer wieder schlimme Zwischenfälle und Tote gegeben hat auf dem Mittelmeer. Sie ist aber nicht nur erfolgreich, sondern aus Sicht der Italiener auch viel zu teuer. Italien zahlt nämlich die zehn Millionen, die Mare Nostrum in etwa pro Monat kostet, allein. Die EU will sich nicht beteiligen, weil sie auf "Triton" setzt. Das ist eine neue Mission, die morgen ihre Arbeit aufnimmt, aber Triton hat eine andere Aufgabe. Triton soll Grenzen sichern, die Flucht übers Mittelmeer also verhindern. Wir wollen darüber jetzt reden mit dem Europareferenten von Pro Asyl, Karl Kopp. Schönen guten Morgen, Herr Kopp!
Karl Kopp: Ja, guten Morgen, Herr Kassel!
Überwachung und Kontrolle statt Lebensrettung
Kassel: Wenn es jetzt eine neue Mission namens Triton gibt, die dafür sorgen soll, dass gar keine Flüchtlinge mehr ankommen in Europa, wird dadurch nicht tatsächlich Mare Nostrum überflüssig?
Kopp: Sie merken ja schon in der Anmoderation, es ist sehr kompliziert. Wir wissen bis heute nicht, was morgen passiert. Es geht um Lebensrettung, um Tod oder Leben – 3.000 Menschen sind in dem Jahr trotz Mare Nostrum gestorben –, und morgen fängt was an, das heißt Triton und wird geführt von der europäischen Grenzagentur. Und die sagt, wir haben kein Mandat für Lebensrettung in erster Linie, sondern wir sind zuständig für Überwachung und Kontrolle. Und wir wissen nicht ganz genau, ob die Italiener weitermachen, und von daher haben wir einen sehr zynischen Versuchsaufbau, wo wir nicht wissen, ob morgen noch die Lebensrettung ansatzweise gewährleistet ist.
Seenotrettung "ein ehernes humanes Gesetz"
Kassel: Aber es ist – ich formuliere das, das gebe ich zu, jetzt mal ein bisschen herzlos: Wenn wir uns das vorstellen, Mare Nostrum geht erst mal weiter, es gab gestern widersprüchliche Meldungen, das italienische Militär hat sinngemäß gesagt, die italienische Marine, ja, pff, uns hat man nicht gesagt, dass wir aufhören sollen, wir machen erst mal weiter. Aber wenn wir uns vorstellen, Triton und Mare Nostrum sind gleichzeitig unterwegs, dann sind die einen im Mittelmeer, um Flüchtlingen zu helfen, das Festland zu erreichen, und die anderen sind unterwegs, um das zu verhindern.
Kopp: Na ja, Triton wird eine Operation unter der Ägide Italiens sein. Das Problem bei Triton ist, wie gesagt, es ist sozusagen eine Grenzabwehrmaßnahme in erster Linie. Die werden einen viel geringeren Operationsbereich haben, also eher an den italienischen Küstengewässern entlang, 30 Seemeilen um die Küsten herum – Italiens, Maltas –, das heißt, ein großer Bereich der See wird nicht abgedeckt. Mare Nostrum hat es phasenweise bis zu den libyschen Gewässern gemacht. Dementsprechend, wenn man da sich zurückzieht, kann man davon ausgehen, dass das Massensterben weitergeht. Es ist erst mal ein Vorgang.
Und gestern hat die internationale Handelsschifffahrtskammer, also weltweit operierend, noch mal die EU-Staaten erinnert: Leute, ihr habt eine Verpflichtung zur Seenotrettung, ihr müsst diese internationalen Gesetze einhalten, das ist auch ein ehernes humanitäres Gesetz. Wenn ihr jetzt so das zurückfahrt, macht ihr auch unsere Arbeit als Handelsschiffe, die auch viele Flüchtlinge gerettet haben, zunichte. Wir haben Angst, dass wir dann nicht mehr die Überlebenden ausschiffen können. Das drückt aber aus, wenn so eine Organisation so große Bedenken hat, was wir für ein Chaos haben. Und wie gesagt, das Chaos ist, wir reden von Seenotrettung und nicht irgendwie eine Lappalie.
Operation "Mare Nostrum" nicht abschaffen, sondern ausbauen
Kassel: Nun geht's ja im Leben fast immer ums Geld, aber diesmal verstehe ich persönlich den Geldaspekt gar nicht so richtig. Diese Mission Mare Nostrum kostet ungefähr zehn Millionen im Monat, die Triton-Mission soll ein knappes Drittel kosten, aber bleiben wir zehn Millionen, sind 120 Millionen im Jahr. Schon dass das für Italien allein so teuer sein soll, macht mich nachdenklich. Aber dass das zu teuer wäre, wenn alle EU-Staaten sich es teilten, kann ich nicht recht nachvollziehen.
Kopp: Nein, Sie haben vollkommen recht, es geht nicht ums Geld. Wir wissen, dass die EU für viele Dinge mehr Geld ausgibt als für Lebensrettung. Was wir halt sagen, wir haben dem Europaparlament geschrieben und appellieren auch, dass die halt schnell mehr Geld zur Verfügung stellen – die haben das Haushaltsrecht – und dass das Europaparlament auch einen europäischen Seenotrettungsdienst sozusagen finanziert und gewährleistet. Ich meine, das ist notwendig, und in der Zwischenzeit brauchen wir natürlich Mare Nostrum, aber nicht in der alten Fassung, die auch schon nicht ausreichend war vor dem Hintergrund, dass 3.000 Menschen in dem Jahr gestorben sind, sondern eine erweiterte, also praktisch einen europäischen Ansatz, europäisch finanziert auf die ganze Fläche. Und im nächsten Schritt müssen wir Wege finden, dass die Leute gar nicht auf die Boote müssen. Diese Menschen sind Flüchtlinge aus Syrien, aus Eritrea, aus Somalia, neuerdings auch Irak – wir sollten Wege finden, sie legal nach Europa zu bringen und nicht diesem Martyrium aussetzen.
Konzertierte europäische Flüchtlingsprogramme schaffen
Kassel: Was halten Sie denn von dem Argument, das angeführt wurde in der Vergangenheit gegen Mare Nostrum, von dem Argument, dass wenn man diesen Seeweg ein wenig sicherer macht auf diese Art und Weise, dass man dann auch noch zusätzliche Flüchtlinge anlockt?
Kopp: Ja, das ist so der Standardsatz des deutschen Innenministers, aber auch anderer Innenminister aus Europa. Es ist auch ein zynisches Argument. Man sagt praktisch, weil wir retten, helfen wir der Schlepperindustrie. Würden wir weniger retten, würden weniger Menschen kommen. Wenn man sich die Weltlage anschaut und auch die Situation vor unserer Haustür – Irak, Syrien hatte ich schon erwähnt, Libyen kippt in den Bürgerkrieg –, dann muss man einfach sagen, die Menschen werden kommen, Flüchtlinge werden kommen. Und wir können nur noch entscheiden, wollen wir sie retten oder wollen wir sie sterben lassen. Darum geht es – ob jetzt durch eine Operation Mare Nostrum, wir würden weitergehen, neben der Seenotrettung, die europäisch gestaltet werden muss: Holt die Leute raus, evakuiert sie aus Libyen, schafft mehr humanitäre Aufnahmeprogramme, schafft endlich mal konzertierte europäische Aufnahmeprogramme. Das gibt es im vierten Jahr des syrischen Krieges nicht.
Bundesbürger bereit zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge
Kassel: Nun hören wir aber aus vielen Ländern, ich höre das in Deutschland immer wieder, sogar diese Aufteilung, na ja, wir wollen sie nicht alle haben, aber Syrien, das verstehen wir, die sollen ruhig kommen. Sind das nur Worte oder sehen Sie da tatsächlich auch politisch eine größer werdende Bereitschaft zur Aufnahme?
Kopp: Wir sehen in der bundesdeutschen Gesellschaft eine Bereitschaft zur Aufnahme, und wir haben eine sehr gute Diskussion. Wir haben sehr viele neue Initiativen, Willkommensinitiativen, wir haben eine sehr enge Kooperation mit den Communities, beispielsweise der syrischen Community in Deutschland über Familienzusammenführung ihrer Lieben aus den Kriegsgebieten, also wir haben eine gute Debatte und wir haben viele gute Initiativen. Wir müssen die jetzt noch bestärken, verstärken, wir brauchen vor allem einen europäischen Ansatz. Es reicht nicht, einige kleine Programme – Deutschland hat jetzt knapp 20.000 Plätze zur Verfügung gestellt, bezogen auf Syrien –, sondern wir brauchen einen konzertierten europäischen Ansatz. Die Menschen, die Flüchtlinge, werden so oder so kommen, wir entscheiden nur, ob lebend oder tot. Das ist genau die Auseinandersetzung. Es gibt keine Schutzkapazitäten mehr in den Nachbarstaaten Syriens, das ist einfach so. Da ist Schluss. Im Libanon, in Jordanien, auch in der Türkei wird es immer komplizierter. Wir müssen Angebote machen auch an diese Staaten, nicht nur Wolldecken und Medikamente, nein, wir müssen auch konkret Schutzsuchende aus diesen Staaten aufnehmen.
Kassel: Herzlichen Dank, das war Karl Kopp von Pro Asyl über das Mittelmeer, sinnvolle Aktionen, unsinnige und darüber, worum es wirklich geht beim Umgang mit Flüchtlingen, nicht nur auf hoher See.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.