"Die Debatten lebendiger machen"
Der Politikwissenschaftler Josef Janning sieht in einem stark personalisierten Europa-Wahlkampf die Chance, "mehr Gesicht in die europäische Politik" zu bekommen. Bislang werde das EU-Parlament noch unterschätzt.
Christopher Ricke: Die europäische Sozialdemokratie ist heute ganz groß, und ein deutscher Sozialdemokrat ist eine große Nummer. Man trifft sich in Rom und der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD wird zum Spitzenkandidaten aller europäischen Sozialdemokraten für die Europawahl im Mai gewählt.
Bei dieser Wahl im Mai wird einiges anderes sein: In Deutschland gibt es keine Prozent-Hürde mehr, die kleineren Parteien haben also bessere Chancen. Und es gibt jetzt einen europaweiten Spitzenkandidaten, wie Schulz. Ob das die Wahl und Europabegeisterung anfeuern wird, das bespreche ich jetzt unter anderem mit Josef Janning von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die europäische Integration und ihre Form der Gemeinschaft zählen zu seinen Fachgebieten. Guten Morgen, Herr Janning!
Josef Janning: Guten Morgen, Herr Ricke!
Ricke: Erst machen wir großartig Wahlkampf in der Europäischen Union, dabei ist Europa so unbeliebt wie lange nicht. Das hat erst vor ein paar Tagen das Eurobarometer gezeigt. Macht Ihnen das kurz vor der Wahl Sorgen?
Janning: Ja. Das gibt schon zu denken, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass vergleichsweise wenige Wähler wirklich erkennen, welche Rolle das Europäische Parlament heute im Prozess der Europäischen Union spielt. Es ist ja viel wichtiger geworden, es ist viel unverzichtbarer geworden im Prozess der europäischen Gesetzgebung.
"Man darf ja das Gericht nicht kritisieren, aber…"
Ricke: Das ist eine sehr optimistische Betrachtung. Das Bundesverfassungsgericht hat es gerade ganz andersherum gesehen und argumentiert. Weg mit der Prozenthürde, hieß es, denn das braucht man in Europa nicht, das Europäische Parlament wählt ja nicht einmal eine Regierung.
Janning: Ja. Ich halte diese Betrachtungsweise des Verfassungsgerichtes für ein wenig fragwürdig. Man darf ja das Gericht nicht kritisieren, aber ich glaube, es wird verkannt, dass das Europäische Parlament, obgleich es keine Regierung wählt, die es mit gewissermaßen seiner dauerhaften Mehrheit stützt, doch im Gesetzgebungsprozess eine zentrale Rolle spielt.
Und wir werden sehen, nach dieser Wahl, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine relativ starke Fraktion von Europakritikern ins Parlament bringen wird, was passiert, wenn dieses Parlament sich dann auf Mehrheiten jeweils einzeln und in einem scharfen Dissens verständigen muss.
Ricke: Was erwarten Sie da?
Janning: Ich erwarte, dass die Debatten schwieriger werden. Entweder, es gibt eine quasi Dauer-Große-Koalition vor allen Dingen der beiden großen Gruppen, der Sozialdemokraten und der christlich-demokratischen Parteien im Europäischen Parlament - oder aber jede Entscheidung muss sich neu eine Mehrheit suchen. Und in diesem Prozess wird es wahrscheinlich zahlreiche Debatten, Kontroversen, auch Anwürfe geben.
Das könnte auch eine Chance fürs Europäische Parlament sein. Es könnte eine Chance sein, die Debatten lebendiger zu machen, und es könnte auch den Menschen signalisieren, aha, tatsächlich, in diesem Parlament sind die unterschiedlichen Ansichten zu Europa tatsächlich vertreten.
Personalisierung, Fernsehduelle und Co
Ricke: Bevor das neue Parlament debattieren kann, muss es erst mal gewählt werden. Es soll natürlich von möglichst vielen Wahlberechtigten Europäern bestimmt werden, damit es auch eine ordentliche Legitimität hat, und da haben die Parteien sich ja sozusagen erst mal bei den Amerikanern und dann später bei sich zu Hause in den Nationen was abgeguckt, und das Stichwort hier heißt Personalisierung, Fernsehduelle, all solche Dinge.
In diese Richtung geht es ja, auch wenn Martin Schulz zum Spitzenkandidat aller Sozialdemokraten gewählt wird. Ist das eine gute Entwicklung?
Janning: Das muss man mal sehen. Die eigentliche Zielrichtung dieser Entwicklung ist ja, dass dann das Parlament oder die Parteien mit dieser Spitzenkandidatenkür verfolgen, dass diejenige Partei, die als stärkste aus der Wahl hervorgeht, mit ihrem Spitzenkandidaten dann praktisch automatisch dem Europäischen Rat diesen Kandidaten präsentiert als die Person, die dann auch Präsident der Europäischen Kommission, also der exekutiven Seite der EU werden soll.
Ich kann mir im Moment noch nicht richtig vorstellen, wie das alles wird, weil ja die Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene dann anders verlaufen. Aber zunächst haben wir die Kandidaten. Die bringen mehr Gesicht in die europäische Politik, vorausgesetzt, sie schaffen es auch, in den unterschiedlichen Räumen, in den unterschiedlichen Staaten der Europäischen Union eine Präsenz zu entwickeln.
Ricke: Sind das denn schon die Besten der Besten, die da kandidieren? Oder gilt noch dieser uralte und völlig abgegriffene Slogan "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa"?
Erfahrene Europäer als Spitzenkandidaten
Janning: Nein. Das sind schon gute Leute. Der Kandidat der Sozialdemokraten, Martin Schulz – ihm wird niemand Erfahrung absprechen. Er ist jetzt der Präsident des Europäischen Parlamentes und rackert emsig. Und wird auch versuchen, in allen Staaten der Union präsent zu sein. Der voraussichtliche Kandidat der Europäischen Volkspartei, also der christdemokratischen Gruppe in Europa, ist Jean-Claude Juncker –
Ricke: Der Luxemburger …
Janning: Der Luxemburger Ex-Ministerpräsident, wahrscheinlich einer der erfahrensten Europäer dabei. Auch er wird die Fülle seiner Kenntnisse und Erfahrungen mitbringen und auch seine Bekanntheit mitbringen. Allerdings, ironischerweise, er kandidiert nicht für einen Sitz im Europäischen Parlament, sondern er kandidiert gewissermaßen nur als Spitzenkandidat. Und damit unterläuft seine Personalie diese Logik ein wenig, dass der nächste Präsident der Europäischen Kommission gewissermaßen aus dem Parlament und aus der Mehrheit des Parlamentes stammen sollte.
Ricke: Juncker und Schulz sind beide aber begeisterte Europäer. Viele Ältere sind auch sehr europatreu, weil sie eben noch wissen, was Grenzen in Europa bedeuten. Manche erinnern sich auch an Kriege. Jugendliche, gerade die ohne Arbeit, in den Krisenländern, sind für die EU da vergleichsweise schwer zu begeistern. Schafft das die Politik noch im Wahlkampf?
Janning: Nein. Die Politik wird im Wahlkampf diese Lage nicht grundsätzlich umdrehen können. Aber es wird – oder es hat wenigstens das Potenzial dazu, ein Stück mehr Europa sichtbar zu machen. Denn diese Spitzenkandidaten müssen sich ja permanent erklären. Und sie müssen permanent deutlich machen, was eigentlich der Mehrwert Europas ist.
Und es könnte durchaus sein, dass diese Form der personellen Zuspitzung und auch diese Form des Europa-Beackerns bei dem Bürger eine gewisse Wirkung hat. Aber in Wirklichkeit braucht es länger und es braucht mehr, um diese Einstellungswende für Europa zu erreichen.
Ricke: Josef Janning von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielen Dank, Herr Janning!
Janning: Gern!
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