EU-Referendum in Großbritannien

Schottland diskutiert über Unabhängigkeit

Von Paul Stänner |
Im September 2014 haben die Schotten beschlossen, in Großbritannien zu verbleiben. Vorläufig zumindest. Sollte das Referendum am 23. Juni für den EU-Austritt Großbritanniens ausfallen, hat die schottische Regierung schon angekündigt: Es müsse erneut abgestimmt werden.
Wer im verregneten Frühjahr über die Heide bei Culloden wandert, dem wird ein wenig mulmig. Die Wolken hängen tief. Man hört das Krächzen von unsichtbaren Raben, die über den Wolken fliegen. Auf schmalen Wegen geht man an flachen Steinen im Gras vorbei, die die Standorte der einzelnen Clans und ihre Massengräber markieren. Das Ganze wirkt wie eine Szene aus einem Schauerroman und ist doch ganz real. Man ist auf dem Schlachtfeld von Culloden, wo 1746 in einem kurzen Gefecht der schottische Traum von der Unabhängigkeit für immer blutig begraben wurde. Für immer?
Im September 2014 durften die Schotten, nach einer jahrelangen Kampagne der Unionsgegner und -befürworter, darüber abstimmen, ob Schottland nach 307 Jahren weiterhin Teil des Britischen Königreiches bleiben wollte. Gordon Brown, Schotte und ehemaliger Premierminister der Königin, warb mit Leidenschaft für den Verbleib in der Union. Damals gab es zwei Visionen, sagt Brown.
"Die erste ist die der Nationalisten, die vollkommen mit dem Vereinigten Königreich und allen Verbindungen brechen wollen. Und die zweite ist jene, die ich die patriotische Vision nennen würde, meine Vision. Ich will mehr Macht für das schottische Parlament, also Wechsel, um es stärker zu machen. Aber ich will ebenso unseren Reichtum mit dem Rest des Vereinigten Königreiches teilen."

Die Wogen in Schottland schlugen hoch

Viel stand auf dem Spiel, sowohl wirtschaftlich wie emotional, die Wogen schlugen hoch. Nicola Sturgeon, die stellvertretende Chefin der Scottish National Party und heute als sogenannte Erste Ministerin Regierungschefin von Schottland, versuchte, die Schotten aus der Union herauszureden - wie unser Korrespondent Jochen Spengler dokumentierte.
"Die Umfrage zeigt, dass eine wachsende Anzahl von Menschen zu der Auffassung gekommen ist, dass die Unabhängigkeit der beste Weg ist, unser nationales Gesundheitssystem zu schützen, die Wirtschaft anzukurbeln, Jobs zu schaffen und sicherzustellen, dass wir niemals wieder konservative Regierungen bekommen, die wir nicht gewählt haben, sondern immer die in Schottland, für die wir gestimmt haben."
Als ich vor dem Referendum den Pub von Wigtown besuchte, einem kleinen Örtchen an der Küste von Galloway, eine Autostunde südlich von Glasgow, wurden die Diskussionen unter den sonst eher bedächtigen Schotten ausgesprochen lebhaft. Am Ende hatte ich den Eindruck: Die Mehrheit neigt dazu, die Union beizubehalten. Aber es war für niemanden eine Herzensangelegenheit, sondern nur eine Frage wirtschaftlicher Überlegungen. Man würde bei England bleiben, so wie man sich ab und zu einen neuen Traktor kaufen müsse. Mit 65 Prozent Zustimmung entschied sich die Region "Dumfries and Galloway" für den Verbleib in der Union - Schottland insgesamt mit 55 Prozent. Erleichterung in London, aber kein berauschendes Ergebnis. Deutlich wurde: Dass Schotten und Engländer unter einer Krone vereint sind, ist keine Selbstverständlichkeit; war es nie seit Culloden 1746.

Das schottische Trauma von Culloden

Im verregneten April 1746 kam es auf dem Moor von Culloden, in der Nähe von Inverness, zu einem kurzen, dramatischen Kampf. Der Schotte, Prinz Charles aus dem Hause Stuart, trat an gegen den Engländer, den Herzog von Cumberland, einen Sohn des englischen Königs Georg II. aus dem Haus Hannover. Beide waren 25 Jahre alt und kämpften für die Herrschaftsansprüche ihrer Familien.
Prinz Charles wollte die schottische Krone für die Stuarts zurückerobern, seine Highlander-Armee schaffte es bis kurz vor London. Dann aber zog sie sich in Richtung Schottland zurück, verfolgt von den zahlenmäßig überlegenen Engländern. Bei Culloden waren die Schotten übermüdet, schlecht versorgt und uneins. Prinz Charles entschied sich gegen den Rat seiner Generäle, den Kampf im offenen Moor anzunehmen. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Die Artillerie der englischen Truppen hatte die schottischen Reihen zerschossen.
Was danach folgte, hat sich tief in die schottische Seele eingebrannt. Die Verwundeten wurden noch auf dem Schlachtfeld ermordet. Drei Tage lang jagte die englische Kavallerie Menschen durch die Highlands, erschlug Männer, Frauen und Kinder. Wegen dieses Massakers hält sich in der schottischen Erinnerung für den englischen Herzog von Cumberland der Beiname "the butcher"- der Schlächter.

Schottische Selbstverwaltung wurde aufgelöst

Der physischen Vernichtung folgte die Vernichtung der schottischen Kultur: Die Hochland-Tracht wurde verboten, ebenso durften keine Clan-Abzeichen getragen werden oder Waffen. Zu den Waffen zählte auch der Dudelsack. Die schottische Selbstverwaltung wurde aufgelöst. Es gibt ein zeitgenössisches Gemälde, das die Niederlage der Schotten festhält. Englische Soldaten spießen mit Bajonetten Aufständische im Kilt auf. Dieses Bild soll dem Vernehmen nach heute über dem Bett von Prinz Philipp hängen, dem Gatten der Queen und Herzog von Edinburgh.
Niemand in Schottland hat die Demütigung von Culloden vergessen. Sie ist Teil der Geschichtsschreibung und der nationalen Folklore. Und auch in diesem Jahr, 270 Jahre nach dem Desaster, wird die Erinnerungskultur Culloden in den Mittelpunkt rücken. Nicht nur in Schottland, sondern im gesamten Königreich, denn Culloden war die letzte Schlacht, die je auf britischem Boden ausgetragen wurde.
Im September 2014 entschieden sich die Schotten, in der Union zu verbleiben. Premierminister David Cameron verkündete, damit sei die Sezessionsfrage zumindest für eine Generation erledigt. Ob er da so sicher sein kann?
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