Noch weit von einer Lösung entfernt
Heute wird wieder auf EU-Ebene nach einer Lösung für die Flüchtlingskrise gesucht. Eine entscheidende Rolle spielt nach wie vor die Türkei. Die Berliner Politologin Gülistan Gürbey erläutert, warum die Gespräche sehr schwierig werden.
Erneut kommen die die EU-Staats- und Regierungschefs heute zu einem Flüchtlingskrisen-Gipfel in Brüssel zusammen. Im Mittelpunkt wird unter anderem der Vorschlag der Türkei stehen, alle auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen und im Gegenzug syrische Flüchtlinge in die EU zu schicken, wo sie dann bleiben dürften.
Die Türkei will für ihr Engagement natürlich entlohnt werden – doch die Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger werde in der Europäischen Union auf große Widerstände stoßen, sagte die Berliner Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey im Deutschlandradio Kultur. So gebe es unter anderem die Befürchtung, dass viele Türken dann auf Arbeitssuche in der EU kämen und auch Terroristen des Islamischen Staats leichter einreisen könnten, betonte sie.
Die Brüsseler Gespräche werden zudem von der Zypern-Frage belastet. Es wäre jetzt an der Zeit für die EU, mehr Druck auf Ankara auszuüben, damit die dortige Regierung die Luft- und Seehäfen für Zypern öffne, sagte Gürbey. Dazu habe sich die Türkei ohnehin bereits verpflichtet.
Die geforderte Visa-Freiheit sieht Gürbey mit gemischten Gefühlen. Einerseits wäre diese natürlich im Sinne der Reisefreiheit begrüßenswert. Andererseits käme ein solches Entgegenkommen zum falschen Zeitpunkt – bei Ankaras "autoritärem Staatskurs", der "Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit", dem Krieg gegen die Kurden und den Angriffen auf die Pressefreiheit.
Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: Rund 44.000 Flüchtlinge stecken inzwischen nach offiziellen Angaben in Griechenland fest. Der Krisenstab der Regierung kommt kaum hinterher, die Menschen angemessen unterzubringen, und auf dem EU-Gipfel heute wird Griechenland eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf andere Mitgliedsländer fordern, und außerdem soll die Türkei ja alle Flüchtlinge, die ab Juni auf den griechischen Inseln ankommen, wieder aufnehmen. Wolfgang Landmesser war gestern in der Nähe von Athen und traf einen ganz besonderen Beobachter.
Das sind also die Forderungen vonseiten Griechenlands in Hinblick auf den heutigen EU-Gipfel. Und eine Rolle bei diesem Gipfel wird auch Zypern spielen, wir erinnern uns, immer noch geteilt zwischen einem griechischen Teil und einem von der Türkei besetzten. Und wenn man die ganzen Widerstände sich ansieht, die auf diesem EU-Gipfel heute verhandelt werden, dann muss man sich schon fragen, wie die Erfolgschancen sind, und das will ich jetzt tun mit der Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey. Sie ist Dozentin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Ich grüße Sie!
Gülistan Gürbey: Guten Morgen!
Brink: Zypern hat ja schon ein Veto eingelegt. Zypern will zunächst die faktische Anerkennung seiner Unabhängigkeit und droht wie gesagt mit einem Veto gegen das Abkommen mit der Türkei. Was fürchtet man in Zypern?
Zypern macht die Gespräche noch komplizierter
Gürbey: Ja, das ist richtig, dass Zypern seit längerer Zeit Veto eingelegt hat, was die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union anbetrifft. Das heißt, dieses Veto bedeutet auch, dass die Verhandlungskapitel zwischen der Türkei und der Europäischen Union nicht eröffnet werden konnten. Und die Forderung ist bis dahin immer gewesen, dass vor allem Ankara das sogenannte Ankara-Abkommen von 1970, das die Zollunion auch unter anderem betrifft … seine Seehäfen und Landhäfen vor allem auch für Zypern öffnet, und Ankara hat das bisher verweigert und kommt sozusagen seiner eigenen Verpflichtung nicht nach. Und das ist die Forderung der zypriotischen Regierung, dies einzulösen. Erst dann würde Zypern dieses Veto aufheben. Das ist eigentlich auch richtig gedacht, im Grunde genommen wäre es jetzt auch der Moment für Brüssel, auch Druck auf Ankara auszuüben, dieses Ankara-Protokoll, die Verpflichtungen einzulösen.
Brink: Nun ist das ja, ich will nicht sagen, ein Randaspekt, aber wenn man sich die ganze Komplexität dieser Themen anguckt, die auf diesem Gipfel verhandelt werden, dann sieht man schon, wie schwierig das sein wird. EU-Ratspräsident Donald Tusk ist ja extra nach Nikosia gereist, um auch diese Positionen auszuloten. Wie stark ist denn die Position der Regierung in Nikosia tatsächlich?
Gürbey: Sie ist natürlich sehr stark. Sie ist ja eine Position, die schon seit Jahren vorherrscht, zum Teil natürlich auch aus berechtigten Gründen. Und ob diese starre Haltung, wenn Sie so wollen, beibehalten wird vonseiten Nikosias, wird auch davon abhängen, mit welchen Mitteln die Europäische Union Druck auch auf die zypriotische Regierung ausüben wird.
Das wissen wir so weit nicht. Aber es ist auch durchaus denkbar, dass, wenn Ankara diese Verpflichtung aus dem Ankara-Protokoll einlöst und die eigenen See- und Lufthäfen für Zypern öffnet, dann ist es durchaus denkbar, dass die zypriotische Regierung dieses Veto aufhebt. Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass natürlich diese Problemkomplexität auch in Brüssel von vornherein, von Anfang an bekannt gewesen ist. Deswegen ist auch die Reise von Herrn Tusk dafür gedacht. Es wird jetzt abzuwarten sein, inwieweit hier Bewegung reinkommen wird.
Brink: Ein ganz großer und ganz entscheidender Punkt ist ja auch die Visafreiheit, die die Türken ja für ihre Staatsbürger fordern, also Visafreiheit zur Einreise in die EU. Es gibt viele Länder, die absolut dagegen sind. Wie groß ist der Widerstand wirklich innerhalb der EU? Wie schätzen Sie das ein?
Der Widerstand gegen die Visafreiheit wird groß sein
Gürbey: Der Widerstand wird größer werden, wenn es um die volle Gewährleistung der Visafreiheit für türkische Staatsbürger gehen wird. Man muss hinzufügen, dass die Gespräche zur Visaerleichterung, also nicht Aufhebung der Visa(pflicht), komplette Aufhebung, sondern zur Visaerleichterung, schon seit 2013 geführt wurden zwischen Ankara und der Europäischen Union, auch hier im Kontext von Rückübernahmeabkommen für Flüchtlinge, für abgelehnte Asylbewerber, die illegal über die Türkei nach Europa eingereist sind.
Im Rahmen dieser Gespräche gab es schon diese Erleichterungen für türkische Staatsbürger vorzunehmen, und es ging auch darum, diese Gespräche in den nächsten drei Jahren wieder aufzunehmen. Jetzt ist die neue Situation, im Kontext der Flüchtlingskrise wird dieses Thema noch mal auf den Tisch gelegt. Ich glaube, es wird schwierig werden, die volle Visafreiheit zu erlangen beziehungsweise zu gewähren aufseiten Brüssels, weil eben die Widerstände groß sind und groß werden.
Brink: Warum sind die Widerstände denn so groß? Was fürchtet man denn?
Es gibt auch Angst vor IS-Terroristen
Gürbey: Es gibt mehrere Gründe. Zum einen befürchtet man, dass viele türkische Staatsbürger in die Europäische Union unerwartet kommen würden, um eben auch hier Arbeit zu finden et cetera. Dann ist vor allen Dingen die Angst gegeben, dass über die Visafreiheit vor allen Dingen auch Flüchtlinge, die in der Türkei sind, also legal eingereist, dass die über diesen Weg, also legal in die Europäische Union einreisen würden, dass möglicherweise darunter auch IS-Terroristen sind, dass das auch ein Zugangsweg für diese Terroristen sein könnte.
Das sind mehrere Ängste und kritische Punkte, die natürlich auf den Tisch gelegt werden müssen, die im Einzelnen auch wirklich besprochen werden müssen. Auf der anderen Seite ist natürlich eine Visaerleichterung für türkische Staatsbürger schon begrüßenswert, weil es schlichtweg um die Reisefreiheit geht. Reisefreiheit ist eben auch ein Wert, wofür sich auch die Europäische Union im Grunde genommen auch, wofür sie auch steht.
Auf der anderen Seite möchte ich aber auch hinzufügen, dass eine solche Freiheit zu einem Zeitpunkt in der Türkei kommen würde, der völlig ungünstig ist aus meiner Sicht, denn, schauen Sie sich doch den Krieg im Südosten der Türkei an, schauen Sie sich die politische Instabilität an, die seit den letzten Jahren im Gange ist. Schauen Sie sich den autoritären Staatskurs insgesamt an, der auf Kosten der Grundwerte, der bürgerlichen Freiheiten geht. Die Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit, die Situation der Kurden, das sind alles besorgniserregende demokratiepolitische Entwicklungen, die können nicht über diesen Deal mit der Türkei über Bord geworfen werden.
Brink: Vielen Dank! Die Einschätzungen der Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der FU Berlin. Danke schön für das Gespräch!
Gürbey: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.