Memet Kilic, 49 Jahre alt, kam 1990 nach Deutschland und arbeitet als Rechtsanwalt in Heidelberg. Er ist Mitglied der Anwaltskammern Ankara und Karlsruhe und Vorsitzender des Bundesintegrationsrates.
Zuvor war er Bundestagsabgeordneter – mit Sitz im Innenausschusses sowie Integrationspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion (2009-2013), ferner Mitglied des Rundfunkrates des Südwestrundfunks (1998-2008) sowie des "Beirates für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr" (2002-2010).
Der Türkei-Experte ist Verfasser zahlreicher juristischer und politischer Veröffentlichungen.
Europa darf seine Werte nicht der Außenpolitik opfern
Ob im Umgang mit Russland oder mit der Türkei: Europa sollte nur dann auf das Konzept des "Wandels durch Annäherung" setzen, wenn es dadurch eigene Werte nicht verrate, fordert der Rechtsanwalt und Türkei-Experte Memet Kilic.
Russland und NATO streiten um ihre Rolle in Osteuropa. Und an der Südostflanke Europas ist der Allianzpartner Türkei zur "Hohen Pforte" an den Schlachtfeldern des Nahen Osten geworden. Reisende aller Art passieren seine Grenzen − Flüchtlinge, Terroristen, Soldaten.
Europäer erleben Russen und Türken wahlweise als Fremde wie Verwandte. Man kämpfte und paktierte, war einander Freund und Feind, aber selten verlässlicher Partner.
Noch immer hat Europa für beide Nachbarn keine stabile Rolle in seinen Bündnissystemen gefunden. Ideologische, religiöse, machtpolitische Differenzen fließen ineinander und wechseln sich ab - zu Lasten von Demokratie und Bürgerrechten.
Wenn es gegen Moskau geht, ist Ankara Verbündeter
Wenn Russland mit einer aggressiven Außenpolitik in den Einflussbereich der NATO eindringt, ist Moskau unser Gegner. Wenn wir die Türkei dazu bringen, von dem Energieabkommen mit Russland Abstand zu nehmen, gar wenn sie ein russisches Flugzeug abschießt, ist Ankara unser Verbündeter.
Ist die Türkei aber mit uns gegen Russland verbündet, kann sie mit der Flüchtlingswanderung gen Norden drohen, wenn wir die Kurden als unsere Verbündete in den syrischen und irakischen Bürgerkriegen ansehen. Denn den Türken erscheinen sie gefährlicher als jede andere Minderheit. Doch die Kurden kämpfen gemeinsam mit den US-Kräften gegen die IS-Terroristen, die offensichtlich über die Türkei Nachschub bekommen.
Zugegeben, es ist kompliziert, das große Ganze in den Blick zu nehmen, weil sich Positionen und Verbündete so rasch zu ändern scheinen wie noch nie. Vertrauensbildende Konzepte wie die Ostpolitik oder der Helsinki-Prozess könnten sich dabei durchaus von neuem bewähren, solange das Prinzip "Wandel durch Annäherung" nicht zu Prinzipienlosigkeit und Selbstaufgabe führt.
Die diplomatische Methode aus "Zuckerbrot und Peitsche" war für mich als 19-jährigen Jurastudenten ein Lichtblick – damals im Jahre 1986, als ich nach dem Militärputsch vor das türkische Staatssicherheitsgericht kam, weil ich an der größten Studentendemonstration teilgenommen hatte.
Europa lässt sich vom Sultan am Bosporus erpressen
Die EU machte sich die Positionen der Putschisten nie zu eigen, obschon das Land NATO-Partner war. Brüssel schränkte die Beziehungen mit der Türkei ein, um sie Zug um Zug gegen politische Lockerungen wieder auszubauen. Heute aber geht es den entgegengesetzten Weg. Es verhält sich entgegenkommender, je autoritärer die türkische Führung wird.
Die Erpressungen des neuen Sultans vom Bosporus wirken also. Solange er den Türsteher für den Club Europa spielt, darf er Dschihadisten fördern, Städte, die von Kurden bewohnt werden, in Schutt und Asche legen und kritische Journalisten inhaftieren lassen. Europas Politiker aber behaupten, Ankara würde fast alle der 72 Voraussetzungen für die Visafreiheit erfüllen.
Zudem wünscht sich die Bundesregierung, es möge der Wissenschaft und den Betroffenen vorbehalten bleiben, das Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren aufzuarbeiten. Besser könnte auch der türkische Staatspräsident nicht formulieren, dass der Deutsche Bundestag gut dran täte, nicht deklaratorisch von "Völkermord" zu sprechen. Könnte doch der noch junge Flüchtlingspakt gleich wieder gefährdet sein.
Deutschland trägt Mitverantwortung für Völkermord an Armeniern
Dabei geht es darum zu würdigen, dass schon damals Berlin zum zurückhaltenden Zeitzeugen wurde, als es den türkischen Verbündeten gewähren ließ, im Schatten des Ersten Weltkrieges mit seinen vermeintlichen Feinden innenpolitisch aufzuräumen.
Versteht Europa Annäherung so, eigene Werte außenpolitisch hintanzustellen, wird es die Bürger autoritärer Staaten enttäuschen und frustrieren, noch weit bevor ein Versprechen auf Frieden und Demokratie überhaupt eingelöst werden kann.
Das Gesicht zu wahren und zur Versöhnung beizutragen, das ist die historische Chance, indem das bundesdeutsche Parlament offiziell die Mitverantwortung des Deutschen Reichs am ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts einräumt.