Piraten wollen stärkste Kraft werden
Sie sind die Partei der Stunde in Tschechien: 2017 erstmals der Einzug ins Parlament, 2018 die Wahl zum Oberbürgermeister in Prag und 2019 steuern die Piraten auf 20 Prozent bei der EU-Wahl im Mai zu. Ihre Wähler wollen den Generationswechsel.
In einer Viertelstunde soll es losgehen vorn auf der Bühne, nach und nach kommen die Zuhörer in den Saal. Man kennt sich, alle duzen sich, die Atmosphäre ist gelöst. Das Hauptquartier der Piratenpartei in Prag, gelegen mitten im Stadtzentrum an der Moldau. Früher war hier einmal eine große Bankfiliale, jetzt haben die Piraten die Räume übernommen. Simona Bartova organisiert die Treffen, sie zeigt auf die weißen Wände.
"Wir sind noch nicht ganz fertig, das sehen Sie ja selbst – nach und nach bauen wir hier um, überall kommen auch noch Bilder hin. Dort vorne haben unsere Abgeordneten ihre Büros, da soll eine Kinderecke entstehen – wir sind eher eine Community als eine Partei. Wir treffen uns regelmäßig mit freiwilligen Helfern und Anhängern."
Die Räume in bester Prager Lage hat die Piratenpartei erst kürzlich bezogen. Erst seit den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Jahr 2017 zeichnet sich ab, dass die Piraten das Zeug dazu haben, die politische Landschaft in Tschechien aufzuwirbeln: Zur drittstärksten Kraft wurden sie und zogen mit knapp elf Prozent der Stimmen erstmals ins Parlament ein. In der Wählergunst sind sie seitdem noch weiter gestiegen. Das erklärt sich Mitglied Simona Bartova so:
"Wir sind nicht nur eine Partei der jungen IT-Fachleute, wie man uns oft nachsagt. Auch Frauen und ältere Leute sind bei uns aktiv. Alle unsere Aktionen sind öffentlich – wer will, kann einfach vorbeikommen."
Alle Handynummern der Politiker stehen im Internet
Heute steht im Zentrum der Piratenpartei ein Vortrag auf dem Programm, es geht darum, wie Bürger im Internet kontrollieren können, wie und zu welchen Bedingungen Behörden und Gemeinden ihre Verträge abschließen – Daten sind das, die in Tschechien online eingesehen werden können. So soll Korruption verhindert werden.
"Guten Tag, ich begrüße euch im Piratenzentrum. Wir fangen in fünf Minuten an. Wer von euch ist denn heute zum ersten Mal bei einer Veranstaltung von uns? Ich gebe mal eine Liste rum, da könnt ihr euch eintragen, wenn ihr mit den Piraten in Kontakt bleiben wollt. Ihr könnt auch Fragen reinschreiben, wenn euch ein Thema besonders interessiert."
So fühlt er sich an, der frische Wind, den die Piraten in die tschechische Politik bringen: Sie geben sich nahbar, von allen bis hin zum Parteivorsitzenden stehen die Handynummern im Internet – und: Ihr Politikstil mit dem lockeren Umgangston ist ein ganz anderer, als die Tschechen ihn bislang kannten. Er zieht Leute in die Politik, die bislang nichts damit am Hut hatten. Einer von ihnen ist Ondrej Profant, er ist 30 Jahre alt und einer der jüngsten Abgeordneten im tschechischen Parlament. Vor zehn Jahren gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Partei.
"Ich war von der Politik sehr enttäuscht. Bei uns gibt es einen komischen konservativen Flügel, der im Sozialismus sozialisiert war und sehr eigenartige Ansichten auf konservative Politik pflegt. Und es gibt eine Linke, die irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehengeblieben ist mit ihren Positionen, das sind fast Maschinenstürmer. Mir fehlte eine liberale Partei, die modern aufgestellt ist – von klassischen liberalen Themen wie Sterbehilfe und Homo-Ehe bis zur Freiheit im Internet. Die gab es nicht."
Piraten probieren alles selbst, was sie fordern
In diese Lücke stießen die Piraten vor. Ihr Konzept ist in Tschechien ein Neues: In ihren Auftritten polarisieren sie nicht, sondern geben sich betont sachlich. Sie treiben die Transparenz, die sie als oberstes Prinzip vertreten, sogar so weit, dass die Abgeordneten ihre Terminkalender mitsamt allen Treffen und Hintergrundgesprächen veröffentlichen. Mit diesen Ansätzen sind sie ein Gegenbild zum Premierminister, dem Milliardär und Populisten Andrej Babis. Der Pirat Ondrej Profant erinnert sich an die Anfänge im Jahr 2009:
"Wir waren eine Gruppe von sehr jungen Leuten, die meisten ohne größere Lebenserfahrung. Aber wir wussten, was wir wollten: Es soll hier in Tschechien fair und liberal zugehen, der Staat soll funktionieren. Die Politik soll die Perspektive unserer Generation aufgreifen."
Man sei aber längst keine Partei mehr, die sich auf Themen rund um das digitale Leben beschränke – aber die grundsätzliche Aufgeschlossenheit Neuem gegenüber, die präge auch die Programmatik in anderen Politikfeldern, sagt Ondrej Profant.
"Wir hatten von Anfang an das Prinzip, alle Forderungen an uns selbst auszuprobieren. Wir wollen nicht heuchlerisch sagen: So und so soll es der Staat machen, aber wir selbst halten es anders. Nehmen Sie das Beispiel der elektronischen Abstimmungen: Wir führen die bei uns in der Partei schon längst durch und beschäftigen uns dabei mit Problemen wie etwa der Sicherstellung der Anonymität. Das machen die anderen Parteien nicht. Die sind in der Lage, hier im Parlament ein Gesetz über elektronische Abstimmungen einzubringen, haben es aber selbst nicht erprobt und kennen die Auswirkungen nicht."
Die Partei startete zu einer Zeit, als die Piraten-Schwesterorganisation in Deutschland gerade ihre Blüte erlebte und in viele Landtage einzog. In Tschechien scheiterten sie allerdings über die ersten Jahre hinweg regelmäßig an der Fünf-Prozent-Hürde. Erst mit dem triumphalen Einzug ins Parlament im Jahr 2017 wurden sie überregional sichtbar. Jetzt schauen sie auf die Europawahl im Mai – dort, so hoffen sie, könnten sie sogar zur stärksten tschechischen Kraft werden, sie rechnen sich 20 Prozent der Stimmen aus.
Die bisherigen Umfragen zeigen, dass dieses Ziel durchaus realistisch sein könnte – das hat allerdings auch mit der traditionell niedrigen Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen zu tun. Für eine starke EU und für mehr Mitbestimmung der Bürger innerhalb Europas treten die Piraten ein. Bei der überwiegend jungen und gut gebildeten Wählerschaft rennen sie mit einer solchen Position überwiegend offene Türen ein.
Prager Oberbürgermeister ist ein Pirat
Das Prager Rathaus vor einigen Wochen, kurz nach den tschechischen Kommunalwahlen. Dutzende Fotografen sind zusammengekommen, angekündigt ist ein historischer Moment: Im Rathaus der Millionenstadt Prag arbeiten künftig drei Parteien zusammen, die aus Bürgerbewegungen hervorgegangen sind – die etablierten Parteien stellen allesamt nur noch die Opposition. Nach dem Fototermin tritt Zdenek Hrib an die Mikrofone, der neue Prager Oberbürgermeister. Er ist Mitglied der Piratenpartei.
"Ich bin froh, dass wir heute an der Schwelle der Veränderung stehen. In den kommenden vier Jahren bringen wir das Programm nach Prag, das die Stadt verdient hat. Wir wollen endlich das Potenzial nutzen, das wir hier haben."
Zdenek Hrib ist ein großgewachsener Mann im eleganten Anzug, 37 Jahre alt. Er ist Arzt und vereinigt viele der Eigenschaften in sich, die tschechische Wähler an den Piraten schätzen: Er ist bestens ausgebildet, er ist jünger und als politischer Neuling nicht verwickelt in die Skandale, die viele der traditionellen Parteien aus der Vergangenheit mit sich herumschleppen. In dieser Kombination liegt das Erfolgsgeheimnis der tschechischen Piraten, analysiert Politologe Kamil Svec von der Prager Karls-Universität:
"Der Piratenpartei ist es gelungen, auf der Welle mitzuschwimmen, die neue Gesichter nach oben trägt. Ihr Erfolg kommt weniger daher, dass sie Piraten sind, als daher, dass sie zu einer Zeit in die Politik eingestiegen sind, in der die Wähler nach Alternativen zu den bisherigen Parteien suchen."
Seit einigen Jahren versuchen viele Tschechen, sich von den etablierten Parteien zu lösen. Vor allem die Sozialdemokraten kämpfen mit dramatischen Stimmverlusten, ihnen droht sogar ein Sturz unter die Fünf-Prozent-Hürde. Diese Neuorientierung erklärt laut Kamil Svec zum einen den Erfolg der Piraten – zum anderen aber auch den des Premierministers Andrej Babis, der bisher mit seiner selbst gegründeten Bewegung ANO in der Wählergunst mit großem Abstand vor allen anderen Parteien lag.
In ihren Wahlkampagnen gehen die Piraten gezielt auf Abstand zum Establishment. Ihr erfolgreichster Slogan der jüngsten Zeit klingt wie eine Kampfansage an die klassischen Parteien: "Lasst uns auf sie los". Politologe Kamil Svec:
"Die Piraten kümmern sich um Themen, die nicht ideologisch besetzt sind – liberale Themen, die bei linksgerichteten Wählern genauso anklingen wie bei Konservativen. Sie schaffen es, sich als Partei zu präsentieren, die außerhalb des Rechts-Links-Spektrums steht und die deshalb von beiden Seiten aus gewählt werden kann."
Weil die ideologische Komponente fehlt, stellen sich in Tschechien derzeit viele die Frage, wie lange der Erfolg der Piratenpartei wohl anhalte. Mit Parteien, die rasch an die Macht gespült werden und sich dann innerhalb einer einzigen Legislaturperiode selbst zerlegen, hat Tschechien viel Erfahrung. Bei den Piraten sieht es derzeit allerdings anders aus. Die Partei hat feste Strukturen, die sich in vielen Jahren der außerparlamentarischen Opposition gebildet haben. Für ihren dauerhaften Erfolg aber dürfte jetzt vor allem die Prager Kommunalpolitik eine Rolle spielen: Wenn der Oberbürgermeister von den Piraten auf seinem landesweit sichtbaren Posten gute Arbeit leistet, könnte das auf die Wahlergebnisse der bisherigen Oppositionspartei abfärben – das gleiche gilt allerdings auch, wenn er die hohen Erwartungen nicht erfüllt.
Piraten-Wähler wollen Generationswechsel in der Politik
Die Lobby des tschechischen Abgeordnetenhauses mitten im Zentrum von Prag. Durch Sicherheitskontrollen hindurch geht es in die Büros der Parlamentarier. Einer von ihnen ist Mikulas Ferjencik, 31 Jahre alt und eines der bekanntesten Gesichter der Piratenpartei. Er trägt einen markanten Kinnbart und schulterlange dunkle Haare.
"Beim Gründungsforum der Piraten waren wir gerade mal 30 Leute. Uns einte die Überzeugung, dass wir reflektieren müssen, was sich im Bereich der neuen Technologien tut und wie man sie zum Nutzen der Gesellschaft einsetzen kann. Viele von uns sind heute noch dabei und sitzen jetzt im Parlament."
Er selbst, sagt Ferjencik, habe immer an den Erfolg der Piratenpartei geglaubt – auch, wenn damals noch niemand in Tschechien eine Wette auf ihre politische Zukunft eingegangen wäre.
"Ich hatte etwas Geld von meiner Oma geerbt, sodass ich mich in den ersten Jahren ganz auf die politische Arbeit konzentrieren konnte, ohne etwas dazuverdienen zu müssen. 2014 ist mir dann das Geld allmählich ausgegangen – das war das Jahr, wo wir erstmals mit ein paar Abgeordneten in den Prager Magistrat eingezogen sind. Ab dem Moment konnte mich die Partei anstellen. Wenn es bei den Wahlen damals nicht geklappt hätte, hätte ich in der Politik anderen Leuten Platz gemacht und mich anderweitig um meinen Lebensunterhalt gekümmert."
Drei Aspekte, urteilt Mikulas Ferjencik selbst, machten die Piraten in Tschechien so erfolgreich: Zum einen sei da natürlich der Protest gegen die etablierten Parteien, dazu komme eine Politik der Mitte, während andere Parteien in Tschechien eher auf die ideologischen Lager schauten. Und dann gebe es noch den dritten, den wohl entscheidenden Grund: den Generationenwechsel.
"Das Durchschnittsalter unserer Kandidaten liegt um zehn Jahre niedriger als bei den anderen Parteien. Das sind keine Studenten, sondern Leute zwischen 30 und 40 – aber bei den anderen Parteien sind die Kandidaten meistens zwischen 40 und 60. Wir haben einen anderen Blick auf die Dinge und motivieren junge Leute, überhaupt zu den Wahlen zu gehen."
"Jetzt Bürgermeister, warum dann nicht Premierminister?"
Eins sagen selbst politische Konkurrenten über die Piraten: Sie seien in den Sitzungen des Parlaments bestens vorbereitet, verfügten über kompetente Fachleute und sprühten vor Ideen. Das ist die eine Seite dieser jungen Partei. Die andere Seite ist öffentlich weniger gut zu sehen. Innerhalb eines guten Jahres hat sich die Zahl der Mitglieder verdoppelt auf nunmehr fast 900 – immer noch eine niedrige Zahl, auch für tschechische Verhältnisse, wo selbst traditionsreiche Parteien keine hohen Mitgliederzahlen haben. Trotzdem gebe es bei den Piraten einen Kampf um die Meinungshoheit, urteilt Politologe Kamil Svec:
"Eine Strömung kümmert sich um Themen wie die Liberalisierung und die Digitalisierung, eine andere Strömung wiederum fordert vor allem die Legalisierung weicher Drogen und dann gibt es noch die Stimmen, die infrage stellen, ob die Nato-Mitgliedschaft für Tschechien von Vorteil sei. Für einige Wähler ist nicht ganz klar: Handelt sich bei den Piraten um eine liberale Partei oder um eine Truppe von Anarchisten, die gegen das Urheberrecht und für die Drogenlegalisierung kämpft?"
Mikulas Ferjencik, der junge Abgeordnete und Pirat der ersten Stunde, widerspricht dieser Darstellung: In den Anfangsjahren habe man oft um Positionen gerungen, das schon – inzwischen aber sei man von den Einstellungen her recht homogen geworden. Neue Interessenten wüssten, wofür die Piraten stehen, und suchten sich die Partei gerade deshalb aus. Ein komplettes Programm für die Europawahl im Mai haben die Piraten noch nicht veröffentlicht. Bei den Parlamentswahlen forderten sie eine gemeinsame europäische Armee, eine bessere Zusammenarbeit der Geheimdienste, den Kampf gegen Steuerparadiese und eine Beschränkung von Landwirtschaftssubventionen. Sie traten dafür ein, dass Tschechien den Euro einführt und waren für eine Beibehaltung der Sanktionen gegen Russland.
Mikulas Ferjencik, der junge Parlamentarier, denkt aber noch einen Schritt weiter als die EU-Wahl: "Wenn wir den Bürgermeister hier in Prag stellen können, in der größten Stadt des Landes – warum dann nicht auch den Premierminister?" Früher hätte man den Piraten auch nichts zugetraut, sagt er dann, und heute fahren sie zweistellige Wahlergebnisse ein. Jetzt peile man eben das nächste Ziel an.