Eunuchen, Ikonen und Rennbahn-Kult

Rezensiert von Knut Berner |
Politik und Kultur, Wissenschaft und Religion: Judith Herrin zeichnet in diesem glänzend geschrieben und überaus spannenden Buch ein facettenreiches Bild des mittelalterlichen Imperiums Byzanz - von den Anfängen im 4. Jahrhundert bis zum Fall Konstantinopels 1453.
‚Was ist eigentlich byzantinische Geschichte?‘ – wurde Judith Herrin eines Tages von zwei Bauarbeitern gefragt, die an ihrem Büro im Londoner King’s College vorbeikamen. Als Antwort auf diese Frage schrieb sie das vorliegende Buch. In ihm wird auf allgemeinverständliche Weise geschildert, wie jene elfhundert Jahre verlaufen sind - von der Gründung Konstantinopels im 4. Jahrhundert nach Christus bis zur Belagerung 1453, als das heutige Istanbul an die Türken fiel.

Byzanz war das oströmische Reich, und die vom frisch bekehrten christlichen Kaiser Konstantin gegründete Hauptstadt galt von Anfang an als das Neue Rom. Die Autorin erzählt von den wechselseitigen Beeinflussungen und Abgrenzungen der beiden Hälften des römischen Reiches sowie den damit eng verflochtenen Herausforderungen und Veränderungen durch das Agieren umliegender Völker.

Dabei werden große Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Kirche, von Kaisern und Päpsten, von Architektur und Kriegsführung, von Wirtschaft, Sprache und Kultur nachgezeichnet und insbesondere die geschichtsträchtige Auseinandersetzung mit dem frühen Islam thematisiert:

"Wenn Konstantinopel […] in der Mitte des 7. Jahrhunderts an die Araber gefallen wäre, hätten sie dessen gewaltigen Reichtum und imperiale Macht genutzt, um bis ins Herz Europas vorzustoßen. Die breite Schneise der frühen muslimischen Eroberungen hätte sich überall auf dem Balkan und weiter im Westen fortgesetzt, wo die slawischen und germanischen Völker den Angriffen nichts entgegenzusetzen gehabt hätten. Und ohne sein christliches Hinterland wäre auch Rom sicher zum muslimischen Glauben bekehrt worden. Ohne Byzanz ist Europa, wie wir es kennen, nicht denkbar."

Brot und Spiele
Besonders hervorzuheben ist die Fähigkeit der Autorin, auf knappem Raum komplizierte Zusammenhänge zu erläutern und byzantinische Besonderheiten verständlich zu machen. Dabei entsteht ein facettenreiches Bild: Anschaulich wird etwa der enorme Einfluss der jeweiligen Kaiser bei der Durchführung der altkirchlichen Konzilien und somit bei der Entstehung und Entwicklung der griechischen Orthodoxie.

Einsichtig werden die Gründe und Verläufe der Kontroversen um die bis heute wesentlichen theologischen Auseinandersetzungen über die Trinität, die Gottessohnschaft Christi, die Zwei-Naturen-Lehre und besonders über die Interpretation des Bilderverbotes, deren Bedeutung für das religiöse und politische Verhältnis zwischen östlichen und westlichen Reichsgebieten kaum überschätzt werden kann.

Detailliert analysiert werden die architektonischen und geistesgeschichtlichen Veränderungsprozesse, denen die unter Justinian erbaute Kirche Hagia Sophia ausgesetzt war, ferner die Eigenheiten der byzantinischen Gelehrsamkeit und die Rolle der Volksbelustigung.

Brot und Spiele, kostenlose Versorgung und Unterhaltung waren nämlich in Byzanz zentrale staatliche Aufgaben – was vielleicht Anregungen für heutige Verhältnisse beinhaltet. Eine der bedeutendsten Kaiserinnen war ursprünglich Zirkuskünstlerin und die Rennbahn von geradezu kultischer Relevanz:

"Das Hippodrom spielte eine so bedeutende Rolle im Leben der Stadt, dass die Kaiser beträchtliche Summen für die öffentliche Unterhaltung ausgaben."

Was ist das Geheimnis des Griechischen Feuers?
Mosaiken, Ikonen, römisches Recht, Steuerwesen und Verwaltung, Glanz, Pomp und die Mischung von heidnischem und christlichem Gedankengut werden als Kennzeichen byzantinischer Kultur eindrucksvoll geschildert.

Die Autorin nimmt dabei auch wenig bekannte Spezifika in den Blick: Woran lag es, dass Eunuchen in Byzanz eine so herausragende Rolle spielten, während man sie im Westen eher mit Skepsis betrachtete? Was ist das Geheimnis des Griechischen Feuers und warum war es eine so gefürchtete Waffe?

Welche Bedeutung hat es, dass kaiserliche Kinder ‚in Purpur geboren‘ wurden? Warum ist der Berg Athos bis heute so berühmt? Und welche Rolle spielte schließlich der Ingenieur, der eine besondere Kanone gebaut hatte, die der Kaiser sich finanziell nicht leisten konnte, bei der entscheidenden Belagerung von 1453?

Nicht zuletzt, so mutmaßt die Autorin, könnte die byzantinische Vorliebe für Verstümmelungen statt für Todesstrafen, für Diplomatie statt für Blutvergießen mit der mittelalterlichen Vorstellung vom gerechten Kriege zusammenhängen.

Bei allem Sinn für historische Besonderheiten und Feinheiten versäumt es Judith Herrin nicht, nach der Aktualität des Vergangenen zu fragen, so kritisiert sie die ihrer Ansicht nach fragwürdigen und unwissenden Bezugnahmen des früheren Papstes Benedikt XVI. auf spätbyzantinisches Gedankengut in seiner Regensburger Rede 2006.

Ihr eigenes Faible für die Auseinandersetzung mit Byzanz macht sie durch autobiografische Einsprengsel nachvollziehbar, wobei eine gewisse Faszination durch Glanz, Bilder und Ikonen ersichtlich wird, die gelegentlich zu unkritisch erscheint. Doch das ist auch schon das Einzige, was eventuell an dem ansonsten glänzend geschriebenen, abgewogenen und spannenden Buch zu kritisieren ist.

Hilfreich sind übrigens die zur Übersicht beitragenden Karten, Namens- und Literaturverzeichnisse, die dem Buch als Anhang beigefügt sind. Judith Herrin hat demonstriert, dass Geschichte präsentiert werden kann als Pageturner, als Buch, indem man gern immer wieder blättert. Und so sind ihr viele Leser – auch Bauarbeiter – zu wünschen, die mehr über ein oft zu wenig beachtetes und einflussreiches Imperium erfahren möchten.

"Byzanz hinterließ der Welt ein imperiales Regierungssystem auf der Grundlage seiner ausgebildeten Verwaltungsbeamten und seines Steuersystems; eine Rechtsstruktur auf der Grundlage des römischen Rechts; ein einzigartiges Curriculum weltlicher Bildung, das viele Aspekte der klassischen heidnischen Gelehrsamkeit bewahrte; die orthodoxe Theologie, ihre künstlerische Darstellung und ihre spirituellen Traditionen in der griechischen Kirche und schließlich Krönungs- und Hofrituale, die viele Nachahmer fanden."

Lesart - Judith Herrin: "Byzanz"
Lesart - Judith Herrin: "Byzanz"© Promo
Judith Herrin: Byzanz
Die erstaunliche Geschichte eines mittelalterlichen Imperiums
Übersetzt von Karin Schuler
416 Seiten, 29,95 Euro
Philipp Reclam jun. Verlag Ditzingen, März 2013
Mehr zum Thema