Wird Kasachstan übervorteilt?
Nursultan Nasarbajew, Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko: Drei Herren, die sich kaum für ihre Demokratieliebe auszeichnen, verbünden sich in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Was bedeutet diese Liaison für Kasachstan?
29. Mai 2014. Russlands Staatsmedien bejubeln eine "Sensation mit globaler Bedeutung": Die Präsidenten Kasachstans, Weißrusslands und Russlands unterzeichnen nach jahrelanger Vorbereitung einen tausende Seiten umfassenden Vertrag. Mit der Zeremonie in der kasachischen Hauptstadt Astana wird die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Am 1. Januar 2015 soll sie in Kraft treten, mit 170 Millionen Einwohnern und einer gemeinsamen Wirtschaftsleistung von rund zwei Billionen US-Dollar.
Es ist ein Zwischenstadium: Zwischen der Zollunion, die bereits seit 2010 zwischen den drei Ländern besteht und der für die Zukunft geplanten Eurasischen Union. Die Meinungen über die eurasische Integration gehen aber weit auseinander, auch unter den Gründungsmitgliedern: Kasachstans ebenso autokratisch wie geschickt agierender Herrscher Nursultan Nasarbajew wird nicht müde zu betonen, dass sie ausschließlich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im postsowjetischen Raum diene, keinesfalls politischen Zwecken.
Nasarbajew: "Wir haben ein rein pragmatisches, wirtschaftliches Interesse daran, dass Land zu entwickeln, die Ökonomie auf die Beine zu bringen, die Gewinne für Kasachstan zu steigern. Was unsere Unabhängigkeit betrifft, das ist eine Konstante: die wird Kasachstan nicht aufgeben, aber im Rahmen der wirtschaftlichen Integration sind wir sehr wohl bereit wirtschaftliche Vorrechte einer übergeordneten Institution zu unterstellen wie die Europäische Union dies bei der Europäischen Kommission macht."
Russlands Präsident Putin aber will mit der Eurasischen Wirtschaftsunion mehr als eine einheitliche Freihandelszone schaffen, mit gemeinsamem Außenzoll und freiem Verkehr von Waren, Kapital, Arbeit und Dienstleistungen. Armenien und Kirgistan sollen sich nach dem Willen Moskaus schnell anschließen. Tadschikistan könnte der nächste Kandidat sein. Indem er ehemalige Sowjetrepubliken um sich schart, will Putin ein eigenes Machzentrum etablieren, als Gegengewicht zur Europäischen Union, den USA und China. Die Sowjetunion reloaded also? Das schürt Ängste in einer Region mit dieser Geschichte – und nicht nur hier.
Glühende Putin-Anhänger in Kasachstan
Doch Wladimir Putin hat auch glühende Anhänger in Kasachstan, dem neuntgrößten Land der Erde, das sich im Zentrum des eurasischen Kontinents westlich und vor allem fast 3.000 Kilometer weit östlich des Ural erstreckt.
Auf der Baracholka, am Stadtrand von Almaty, mit knapp zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Kasachstans, handelt die Mittvierzigerin Rosa mit Lederjacken und Pelzmänteln. Die Baracholka ist einer der größten Basare Zentralasiens. Hier gibt es alles: Vom Anzug über Schlauchboote bis zur Zahnbürste. Kirschen aus dem benachbarten Kirgisistan werden feilgeboten, Gürtel aus der Türkei, T-Shirts aus China, Socken, Möbel, Teppiche. Und eben auch Lammfellmäntel aus dem kirgisischen Bischkek, wie sie die temperamentvolle Rosa verkauft.
Pelzmantelverkäuferin Rosa: "Wir unterstützen Putin sehr! Weil wir darauf hoffen, dass wir irgendwann wieder in die Sowjetunion zurückkehren. Unsere Koalition, diese Allianz zwischen Weißrussen, Kasachen und Russen – wir hoffen, dass wir wieder aufgenommen werden, dass unsere Kinder nach Moskau gehen können, dort ohne Umstände Arbeit finden, dass ihre Universitätsdiplome dort gültig sind. Davon träumen wir nachts."
Mit 23 Prozent der Bevölkerung stellen Russen die größte Minderheit im multiethnischen, mehrheitlich muslimischen Kasachstan. Rosa hat einen kasachischen Pass, doch sie fühlt sich als Russin.
Ein paar hundert Meter weiter verkauft der 22-jährige Malik Mobiltelefone und Zubehör aus China in einem ausrangierten Fracht-Container. Malik gehört zur chinesischen Minderheit der Dunganen – eine der mehr als 100 Ethnien, die in Kasachstan zusammen leben. Malik erwartet nicht viel von der Eurasischen Wirtschaftsunion.
Handyverkäufer Malik: "Denen, die hier große Firmen oder Läden haben, die mit großen Lkw hin- und herfahren, denen wird es vielleicht besser gehen, aber für uns hier wird sich nichts ändern. Vielleicht wird es dem Staat besser gehen, den Betrieben, aber uns Kleinen hier sicher nicht."
Politisch über den Tisch gezogen
Schon die Zollunion, der Vorläufer der Wirtschaftsunion, ist in der kasachischen Bevölkerung auf wenig Gegenliebe gestoßen. Kleidung und Autos sind teurer geworden, weil Kasachstans Einfuhrzölle an die höheren, russischen angeglichen wurden. Zudem sehen sich viele Kasachen auch politisch über den Tisch gezogen.
Zhanna Beytelova: "Experten, Politiker, Bürger und Aktivisten - wir alle glauben, dass dieses Abkommen der erste Schritt ist Richtung Verlust der Unabhängigkeit."
Zhanna Beytelova arbeitet für die NGO "Adil Soz", "Freies Wort", die sich für Meinungsfreiheit einsetzt. Die Politikwissenschaftlerin drückt aus, was viele Kasachen fürchten: Dass Russlands Vorgehen in der Ukraine sich als Präzedenzfall auch für ihr Land entpuppen wird, das dünn besiedelt ist, dafür aber umso reicher an Rohstoffen.
Zhanna Beytelova: "Und seit der Annexion der Krim fordert zum Beispiel dieser russische Rechtsextremist Schirinowski, dass Kasachstan ein zentralasiatisches Verwaltungsgebiet werden soll, das zu Russland gehört!"
Kasachstan ist seit 1991 unabhängig. Viele Russen sind nach dem Ende der UdSSR ausgewandert, doch in den Nordprovinzen entlang der mehr als 7.000 Kilometer langen Grenze zu Russland stellen sie immer noch die Mehrheit der Bevölkerung. Die ethnische Kasachin Tamara Jeslyamova gibt in Uralsk im Nordwesten Kasachstans eine regierungskritische Zeitung heraus.
Neuer russischer Imperialismus?
Nicht erst seit der Ukraine-Krise befürchtet Tamara Jeslyamova, dass die von Präsident Putin forcierte eurasische Integration ein Instrument des neuen russischen Imperialismus ist.
Tamara Jeslyamova: "Kasachstan ist ein kleines Land mit einer unterentwickelten Wirtschaft, mit einer unterentwickelten Zivilgesellschaft. Das riesige Russland mit seiner Energie kann uns einfach ausnutzen, kann seine Waren hier abwerfen, das Geld abpumpen, das dann der russischen Wirtschaft zu Gute kommt. Es ist eine ungleiche Union."
Russlands Vorgehen in der Ukraine-Krise habe die Diskussion über die Eurasische Wirtschaftsunion in der Gesellschaft Kasachstans angeheizt, erklärt Tamaras Chefredakteur Lukpan Akhmedyarov:
Lukpan Akhmedyarov: "Putin wird in Kasachstan von ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Zunächst sind das ungefähr 90 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung. Unter der kasachischsprachigen Bevölkerung wird Putin hauptsächlich von den älteren Generationen unterstützt, die noch in der Sowjetunion aufgewachsen sind. Der Grund dafür ist, dass wir im Einflussbereich der russischen Medien sind. Der Informationskrieg um den russisch-ukrainischen Konflikt wurde auch bei uns ausgetragen."
Da sich Nasarbajew, der Langzeitpräsident Kasachstans, hinter die Union mit Russland gestellt hat, tobt der Streit um die Eurasische Wirtschaftsunion vor allem im Internet: Öffentliche Kritik am Präsidenten üben im autokratischen Kasachstan nur wenige Mutige, wie der Künstler Erbossyn Meldibekov und sein junger Kurator Dastan Kozhakhmetov.
Erbossyn Meldibekov: "Kasachstan ist in der Zollunion. Das sind ja drei totalitäre ..."
Dastan Kozhakhmetov: " ...drei Diktaturen".
Erbossyn Meldibekov: "Ja, drei Diktaturen. Was für eine Union kann das sein? Sie spielen doch Katz und Maus untereinander. Die haben doch nur voreinander Angst. Das ist keine Union."
Dastan Kozhakhmetov: "Russland ist der politische und wirtschaftliche Hauptpartner Kasachstans. Ich denke, einen Partnerstaat zu haben, der rapide faschistoid wird, der aggressive Außenpolitik betreibt und dessen Wirtschaft instabil ist – dass das einfach gefährlich ist."
Nationalstolz mit antirussischen Zügen
Bedroht der Zwist über die eurasische Integration das friedliche Zusammenleben der Kasachstaner? Nicht, solange der 74-jährige Nasarbajew die Fäden in der Hand behält, meint Peer Teschendorf. Er leitet das Büro der Friedrich Ebert-Stiftung am Stadtrand von Almaty, wo er in einem Haus mit Garten residiert.
Peer Teschendorf: "Es gibt Nationalisten, die da Landgewinne machen, ein gewisser Nationalstolz, der dann übersteigert wird und dann auch antirussische Züge annimmt. Diese Leute gibt es. Die waren auch sehr, sehr laut oder sehr gut hörbar bis zu dem Zeitpunkt, wo klar war, dass Nasarbajew sich eindeutig hinter diese Eurasische Union stellt und dass jetzt dieser Vertrag unterzeichnet wird. Seitdem ist es ruhig."
Nasarbajews Regime hat zudem die Gunst der Stunde genutzt: Mit der Ukraine ist der eigentliche Schlüsselstaat der Eurasischen Wirtschaftsunion weg gefallen. Putin war also dringend darauf angewiesen, dass Kasachstan keinen Rückzieher macht.
Peer Teschendorf: "Der Vertrag, der jetzt unterzeichnet wurde, sah vor zwei Monaten noch deutlich anders aus. Man hat wesentlich stärker noch gemacht, dass das eben keine politische Union ist, sondern nur den wirtschaftlichen Entwicklungen dienen soll. Man hat die gemeinsame Staatsbürgerschaft rausgenommen. Man hat Migrationsfragen rausgenommen und so weiter. Das hat man noch mal sehr resolut nachverhandelt, um das rauszubekommen. Man hat da schon verstanden, dass man Russland durchaus sagen muss: Man ist ein eigener Staat und will das auch auf alle Fälle bleiben."
Schulterschluss auch mit dem Westen und China
Von einer gemeinsamen Währung in der Eurasischen Wirtschaftsunion sei überhaupt keine Rede mehr, betonen Berater des kasachischen Präsidenten. Das Land setze keineswegs allein auf Russland, sei auch an guten Beziehungen zum Westen und zu China interessiert. Warum hat Nasarbajew dann trotz aller Bedenken der Gründung zugestimmt? Zumal, wenn mit der Ukraine-Krise das Tor zu den Märkten der EU zugefallen ist? Eine Frage für Evgeniy Zhovtis, einen der führenden Intellektuellen im Lande.
Evgeniy Zhovtis: "Angesichts der Ukraine muss Kasachstan sehr aufpassen, Putin nicht noch nervöser zu machen, damit er nicht in Kasachstan dieselben Methoden anwendet, die er in der Ukraine genutzt hat."
Evgeniy Zhovties ist überzeugt: Die Eurasische Wirtschaftsunion hat für die Regierung in Astana trotz aller gegenteiligen Beteuerungen sehr wohl einen politischen Zweck.
Evgeniy Zhovtis: "Für sie ist das der einzige Ausweg: Dem immer noch im imperialistischen Denken verhafteten Typen in Moskau so nahe wie möglich zu sein. Man schützt sich selbst, indem man sich so loyal wie möglich zeigt. Und wenn du diesen Vertrag unterzeichnest, beweist du Loyalität auf institutionalisierte Art."