Eurokrise als Chance für neue Entscheidungsstrukturen

Otto Depenheuer im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Der Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer sieht die Eurokrise als Gelegenheit, "einmal über die Entscheidungsprozesse auf nationaler und europäischer Ebene nachzudenken". Entscheidungen in extremer Kurzfristigkeit zu treffen, dazu sei ein Parlament mit 600 Abgeordneten nicht in der Lage.
Gabi Wuttke: Silvio Berlusconi handelt nicht zum Wohl Italiens. Das ist ihm gerade wieder bescheinigt worden, denn der Ministerpräsident macht stets, was für ihn am besten ist. Die Griechen und Spanier halten ihre Regierungen in der Eurokrise für autokratisch und in Deutschland mussten die Parlamentarier erst auf die Barrikaden gehen, um ihr Recht auf angemessene Teilhabe bei der Griechenlandhilfe durchzusetzen. Wie ist es eigentlich um die Demokratie in Europa derzeit bestellt? Professor Otto Depenheuer ist Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität Köln. Jetzt ist er am Telefon. Guten Morgen!

Otto Depenheuer: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Frieden, Wohlstand und Demokratie, das sind die drei Markenzeichen der Europäischen Union. Wenn der Wohlstand in Gefahr ist, ist die Demokratie es dann auch?

Depenheuer: Zumindest lassen sich die demokratischen Spielregeln wesentlich angenehmer durchführen, wenn der Wohlstand gesichert ist. Die Bewährungsprobe ist in der Tat eine einigermaßen funktionierende ökonomische Basis des Staates. Wir haben gerade in Deutschland in der Weimarer Zeit ja erlebt, welche fatalen Auswirkungen Wirtschaftskatastrophen haben können. In der Bundesrepublik Deutschland haben wir noch nie eine wirkliche Belastungsprobe gehabt, und wir können nur hoffen, dass wir das auch nicht erfahren werden.

Wuttke: Welche Einschätzung haben Sie denn? Die Eurokrise ist weiterhin sehr, sehr manifest, wir wissen alle nicht genau, wohin das noch führen kann. Wie sehen Sie denn die Demokratien in Europa derzeit aufgestellt?

Depenheuer: Ich würde das in keiner Weise dramatisieren wollen. Was Sie gesagt haben: Wir alle wissen nicht ganz genau, wo es hinkommt. Wenn mir etwas in dieser ganzen politischen Diskussion nicht gefällt, ist, dass genau diese Unsicherheit nicht thematisiert wird. Ich glaube, es fällt keinem Politiker ein Zacken aus der Krone, wenn er sagt: Ich weiß auch nicht genau, wie es weiter geht. Angela Merkel hat da einen sehr schönen Begriff während der Finanzkrise dafür geprägt, sie fahre auf Sicht. Auf Sicht fährt – und das weiß jeder Autofahrer –, wenn er nichts sieht im Nebel. Dann fährt man auf Sicht, und das ist in einer solchen Situation, wie wir sie haben, wahrscheinlich die beste Voraussetzung, um die Probleme zu bewältigen. Auch die Parlamentarier können nur auf Sicht fahren, das heißt, sie sehen auch nichts.

Wuttke: Das heißt, wir sollten die Politiker nicht überfordern?

Depenheuer: Wir sollten die Politiker nicht überfordern in solchen Situationen. Die tun sicherlich das, was dann nach ihren Kräften zu machen ist, und bis jetzt sehe ich bei allem kritischen Potenzial, was man da natürlich anbringen kann, sehe ich keine substanziellen, fehlerhaften Entscheidungen.

Wuttke: Aber wenn die Bundeskanzlerin und der französische Präsident Herman Van Rompuy als Chef einer noch zu bildenden Eurogruppe vorschlagen, vergessen die beiden dann nicht, dass der Zündschlüssel des europäischen Motors gar nicht in ihrer Hand liegt?

Depenheuer: Was meinen Sie mit Zündschlüssel?

Wuttke: Der Zündschlüssel ist ja sozusagen die Legitimation, einen solchen Vorschlag zu machen und zu sagen: Wir beide haben das beschlossen, das setzen wir jetzt auch mal durch.

Depenheuer: Nun ist es erst mal Aufgabe der Regierung und der Exekutive, in die Vorlage zu gehen und Vorschläge zu machen. Dass diese demokratisch legitimiert sein müssen, versteht sich von selber. Angela Merkel und Nicholas Sarkozy sind demokratisch legitimiert, wie alle Regierungschefs auf der europäischen Bühne, und wenn die einen Vorschlag machen und dafür auch einen Personalvorschlag machen, ist das vollkommen legitim.

Sie hatten in der Anmoderation gesagt, dass die Abgeordneten auf die Barrikaden gegangen seien, um hier ein bisschen mitzureden. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Bewertung richtig ist. Immerhin musste das Bundesverfassungsgericht unsere Parlamentarier erst mal dazu auffordern, auf die Barrikaden zu gehen. Das Parlament ist viel zu zurückhaltend gewesen, was die Inanspruchnahme seiner Kontrollrechte, insbesondere in Haushaltsfragen anbetrifft. Insofern glaube ich, dass durch das Karlsruher Urteil und durch die Aktivitäten, die ja Herr Lammert repräsentativ darstellt, wir auf einem Wege sind, hier einen angemessenen Ausgleich zwischen demokratischer Legitimation und der Handlungszuständigkeit der Regierungsspitzen zu finden.

Wuttke: Das heißt, man schmückt sich mit fremden Federn, wenn man sich jetzt im Bundestag auf die Brust klopft?

Depenheuer: Das gehört zum politischen Geschäft.

Wuttke: Darf man dann aber, um bei diesem Beispiel in Deutschland zu bleiben, darf man dann aus Ihrer Sicht auch sagen: Die Eurokrise ist trotzdem auch – vielleicht als großes Wort – eine politische Chance, weil es noch mal in den Blick gerückt hat, woran es denn doch auch mangelt?

Depenheuer: Jede Krise ist eine Chance, auch diese Krise ist eine Chance, insofern sie dazu Anlass gibt, einmal über die Entscheidungsprozesse auf nationaler und europäischer Ebene nachzudenken. Wir mussten hier Entscheidungen in extremer Kurzfristigkeit treffen, in extremer Komplexität, ein Parlament mit 600 Abgeordneten, wie wir es in Berlin haben – ist dazu nicht in der Lage. Ich erinnere daran, dass wir vor zwei Jahren das Finanzmarktstabilisierungsgesetz innerhalb von fünf Tagen im Gesetzgebungsverfahren durchgepeitscht haben – das war natürlich kein Gesetzgebungsverfahren, das war ein Dekret in den äußeren Formen unseres Gesetzgebungsverfahrens.

Das sind Strukturveränderungen des parlamentarischen Prozesses, des demokratischen Prozesses, auf die man reagieren muss. Darüber muss man sich Gedanken machen.

Wuttke: Aber festzuhalten gilt es doch trotzdem, dass die Griechen und die Spanier, die von der Eurokrise zusammen mit den Iren ja derzeit am meisten betroffen sind, tatsächlich ihre Regierungen für autokratisch halten ob der Sparmaßnahmen, die angekündigt sind, um den Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, und deshalb stellt sich die Frage: Da ist doch bei den Bürgern Vertrauen in ihre Regierungen verloren gegangen – gilt es da jetzt schon mal nachzuarbeiten?

Depenheuer: Also, da muss ich Ihnen in dem Befund leider widersprechen.

Wuttke: Tun Sie es, nur zu!

Depenheuer: Warum ist Griechenland in den Sumpf geraten? Weil das Parlament eine Wohltat nach der anderen ausgeschüttet hat mit Geld, das sie nicht gehabt haben. Jetzt ist dieses Land total verschuldet, und wer kein Geld mehr hat, der hat auch nichts mehr zu sagen, das gilt für private Schuldner, die einen Offenbarungseid leisten müssen, das gilt eben auch für Staaten. Das können wir jetzt mal hautnah exemplifizieren. Das heißt, die Athener Regierung hat genau so wenig Spielraum wie das Athener Parlament für die Vorgaben, die ihnen gesetzt werden, um die weiteren Auszahlungen von Hilfsgeldern sicherzustellen.

Das ist das traurige Los eines Systems, das sich übernommen hat, finanziell verantwortungslos übernommen hat, und man muss – das ist ein Kritikpunkt an der Demokratie – man muss dem Athener Parlament sagen: Ihr habt diese Verantwortungspolitik mitgetragen. Insofern ist das nur die Konsequenz einer verantwortungslosen Politik des demokratisch legitimierten Parlamentes. Das ist ein Problem.

Wuttke: In der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur, Professor Otto Depenheuer, Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität Köln. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünsche ihnen einen schönen Tag.

Depenheuer: Dankeschön, Wiederhören!

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