Ukraine am Scheideweg
In der Ukraine gehen die Proteste in den dritten Monat. Es begann mit einer fröhlichen Demo für eine EU-Annäherung des Landes. Doch inzwischen geh es längst um Präsident Janukowitsch, kommentiert Florian Kellermann.
In der Ukraine geht es längst mit mehr bloß um die Annäherung an die Europäische Union und das Assoziierungsabkommen -- es geht um Präsident Viktor Janukowitsch selbst.
Auch wenn er jetzt dem Druck der Opposition etwas nachgegeben hat und die Verschärfung des Demonstrationsrechts zurücknahm, gilt nach wie vor: Er hat es zu verantworten, dass die Polizei auf friedlich demonstrierende Studenten einprügelte, dass sie Gummigeschosse und mutmaßlich auch scharfe Munition abfeuerte, dass sechs Menschen tot und Hunderte verletzt sind.
Der Schein trügt
Mitte der Woche schien es manchen Beobachtern, sie könnten sich entspannt zurücklehnen. Janukowitsch verhandelte mit der Opposition, er tat so, als sei er zu Zugeständnissen bereit. Doch der Schein trügt: Der ukrainische Präsident hat „Krieg“ im Sinn, wenn er „Frieden“ sagt, er ist weiter zu allem bereit, um seine Macht zu retten. Das zeigen die Taten, die seine schönen Worte begleiten.
In den vergangenen Tagen wurden Dutzende von Aktivisten im ganzen Land verhaftet. Welches Schicksal den Janukowitsch-Gegner droht, illustriert das Gesicht von Dmitro Bulatow. Sieben Tage wurde er von Unbekannten gefoltert und gequält, bis der Anführer eines Autofahrer-Protests am Donnerstag in einem Dorf bei Kiew auftauchte. Seine linke Gesichtshälfte - ein einziger Bluterguss, ein Stück vom Ohr abgeschnitten.
Auch vermeintliche Zugeständnisse von Janukowitsch erweisen sich bei näherem Hinsehen als wertlos. Die Regierung ist zwar entlassen, aber weiterhin kommissarisch im Amt. Außerdem hat in der Ukraine laut Verfassung der Präsident so gut wie die alleinige Gewalt im Staat.
Über ein gemeinsames Amnestiegesetz wurde lange verhandelt, ergebnislos. Janukowitsch zwang die Abgeordneten seiner Partei dazu, die in seiner Regie erarbeitete Variante zu verabschieden. Straffreiheit für die Demonstranten gibt es demnach nur, wenn sie binnen 15 Tagen die Straßen räumen.
Amnestiegesetz ist kein Zugeständnis
Für die Protestteilnehmer ist das beschlossene Amnestiegesetz deshalb kein Zugeständnis. Sie können die Barrikaden nicht räumen, weil sie damit ihr einziges Druckmittel aufgeben würden. Sie wären dann Freiwild für die Staatsorgane, die längst die persönlichen Daten von jedem einzelnen notiert haben.
Der Konflikt ist im Moment nur eingefroren. Bei Temperaturen von 20 Grad minus auch im wortwörtlichen Sinnen. Es wäre deshalb ein großer Fehler, die Aufmerksamkeit von der Ukraine abzuziehen.
Sicher: Die Bilder sind derzeit nicht so spektakulär wie in den Tagen, als die Barrikaden brannten. Aber die Gefahr eines Bürgerkriegs direkt vor den Toren der EU ist weiter akut.
Janukowitsch spielt auf Zeit
Und Janukowitsch? Er spielt auf Zeit. Er rechnet damit, dass die Menschen auf den Straßen müde werden. Beobachter fürchten, dass er nur auf einen günstigen Zeitpunkt wartet, um endgültig zuzuschlagen, um die Kiewer Innenstadt räumen zu lassen. Womöglich denkt er, dass weitere Tote in der Ukraine die Weltöffentlichkeit weniger beschäftigen werden, wenn gleichzeitig die Olympischen Winterspiele in Sotschi laufen.
Die Europäische Union sollte jetzt ein klares Signal aussenden: Gewalt gegen Bürger muss Konsequenzen haben. Und zwar persönliche Konsequenzen für die Verantwortlichen.
Präsident Janukowitsch steht unter dem Einfluss verschiedener Oligarchen, reicher Unternehmer, die ihre Geschäfte auch mit dem Westen machen.
Die Botschaft aus dem Westen muss lauten: Wenn das Blutvergießen weiter geht, wenn Janukowitsch nicht die Kraft oder den Willen hat den Konflikt im Land zu befrieden, werden Konten eingefroren und Kreditlinien für Unternehmen gekappt.
Denn immer deutlicher zeigt sich: Mit Vernunft allein ist den Mächtigen in der Ukraine nicht beizukommen.