Europa auf der Intensivstation

Von Philip Plickert · 14.07.2011
Europa liegt auf der Intensivstation. Vor mehr als einem Jahr ist die Staatsschuldenkrise offen ausgebrochen – und sämtliche Rettungsbemühungen erweisen sich bislang als wirkungslos. Die Krise breitet sich aus wie ein Flächenbrand. Immer schneller dreht sich das Rettungskarussell.
Erst Griechenland, dann Irland und Portugal, nun sogar Spekulation gegen Italien. Es droht das "Endgame" um den Euro. Es scheint, dass die Rettungsspirale nur immer tiefer in den Schuldensumpf führt. Und die Bürger fragen sich: Was wird aus unserem Geld? Retten wir uns zu Tode?

Die Konstruktion des Euro ist an der Krise mit schuldig. Der Euro brachte der Peripherie niedrige Zinsen, sie konnte sich billig verschulden. Das viele billige Geld hat eine Sonderkonjunktur getrieben, dann sind die Kreditblasen geplatzt. Die Randländer stehen nun am Abgrund. Ihre Risikoaufschläge sind auf Rekordniveaus – trotz aller Hilfszusagen.

Es gab kritische Ökonomen, die vor einer Einheitswährung für zu unterschiedliche Länder warnten. Aber der Euro war ein politisches Projekt. Einwände wurden niedergebügelt mit der grotesken Behauptung, der Euro sei "eine Frage von Krieg und Frieden". Den widerstrebenden Bürgern wurde gesagt, dass laut Verträgen eine Haftung für fremde Staatsschulden ausgeschlossen sei. Das war die berühmte, heute gebrochene No-Bail-Out-Klausel.

Die Währungsunion wird jetzt aber doch zur Schulden- und Transfergemeinschaft – so wie Kritiker gewarnt hatten. Die Krisenländer stehen vor extrem harten Zeiten. Es mangelt ihnen an Wettbewerbsfähigkeit. Sie können aber nicht mehr wie früher ihre Währung abwerten. Griechenland muss seine Ausgaben eisern kürzen, es spart sich dabei aber immer tiefer in die Rezession. Die Konsolidierungspläne sind Athen von der EU quasi diktiert worden. Damit erscheint die griechische Demokratie ausgehöhlt, die Wut und Verzweiflung wächst.

So schafft die Euro-Krise böses Blut auf allen Seiten: Die Bürger der solideren Staaten fühlen sich zu immer neuen Hilfskrediten genötigt. Und die Bürger der Krisenstaaten ächzen unter dem Sparkurs in der Rezession, nicht wenige sehen sich als Opfer eines Diktats der Geberländer. Brüssel wird als Zentrale einer Art Euro-Diktatur gesehen.

Ein Teil der Elite hofft auf einen Sprung zu mehr Integration der Finanzpolitik – etwa durch Eurobonds, also gemeinsame Anleihen, oder ein EU-Finanzministerium. Wer glaubt, das würde Europa stabilisieren, der irrt aber fundamental. Im Haus Europa gibt es eine gewachsene Vielfalt, die Nationen leben besser und harmonischer, wenn sie ihre Finanzen eigenständig verwalten. Mit einer Gemeinschaftskasse für das ganze Haus droht permanenter Streit. Bei so viel Geld – wenn es um Hunderte Milliarden geht – hört die Freundschaft auf. Der Euro droht dann zum fiskalischen Sprengsatz für Europa zu werden.

Der EU-Tunnelblick – immer mehr Vergemeinschaftung – hat in eine Sackgasse geführt. Aus der Schuldenkrise hilft jetzt nur eine ordnungspolitische Wende. Banken und Investoren müssen wieder selbst für die Risiken haften, die sie eingehen. Wer Geld verleiht und hohe Rendite erhofft, muss Verluste mit einkalkulieren. Griechenland und andere brauchen eine geordnete Umschuldung, bei der die Gläubiger einen substantiellen Beitrag leisten. Geraten einzelne Banken abermals in Bedrängnis, so muss man sie stützen. Das ist aber billiger, als die unvermeidliche Umschuldung endlos hinauszuzögern. Immerhin bewegen sich die Euro-Finanzminister in Richtung dieser Lösung.

Europas Bürger wollen nicht kollektiv für fremde Staatsschulden haften. Eine große Transferunion würde die Probleme entgrenzen. Sie führt nicht zu mehr Solidarität, sondern zur Entfremdung von Europa. Wir brauchen eine Rückkehr zu fiskalischer Selbstdisziplin - das war das Konzept der No-Bail-out-Klausel, der Nicht-Beistandsregel. Eine Rückkehr zu dieser Vernunft wäre keine schädliche Re-Nationalisierung, sondern ein Fortschritt für Europa.

Philip Plickert, geboren 1979 in München, dort sowie an der London School of Economics Studium der Wirtschaftswissenschaften. 2007 Promotion an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über die ideengeschichtliche Entwicklung des Neoliberalismus. Bereits während des Studiums Mitarbeit bei Presse und Rundfunk. Seit 2007 Mitglied der "Faz"-Wirtschaftsredaktion mit dem Schwerpunkt volkswirtschaftliche Themen. 2009 Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik, 2010 Bruckhaus-Förderpreis der Hanns Martin Schleyer-Stiftung.