"Europa darf man nie abschreiben"

Moderation: Klaus Pokatzky |
Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller findet, Europa habe den stärksten Beitrag zur weltweiten Demokratie überhaupt geleistet. Damit das auch in Zukunft möglich sei, müssten die einzelnen Staaten ihren Nationalstolz überwinden - eine Aufgabe für mehrere Generationen, sagt Troller.
Klaus Pokatzky: Mehr als 22.000 Menschen haben abgestimmt, als das Goethe-Institut jetzt in 30 europäischen und einigen arabischen Ländern nach einem europäischen Kulturkanon gefragt hat. Was verbindet uns, was macht Europa aus? Leonardo da Vinci ist demnach der wichtigste europäische Künstler und die ergreifendste Figur in der europäischen Literatur ist Don Quixote. Und der wichtigste Beitrag Europas zur Weltkultur ist die Demokratie. Jeden Montag fragen wir an dieser Stelle einen Europäer nach seinem Europa. Den Auftakt macht heute der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller, den ich nun in Paris begrüße. Bonjour!

Georg Stefan Troller: Bonjour, Monsieur!

Pokatzky: Herr Troller, was ist denn für Sie die ergreifendste Figur in der europäischen Literatur?

Troller: Für mich, der ich in der Emigration in Amerika, Kalifornien, Anglistik studiert habe, ist das natürlich Shakespeare, für mich weitaus der bedeutendste europäische Dichter aller Zeiten.

Pokatzky: Das ist großartig! Dann harmonieren wir wieder mit der Liste, weil "Hamlet" steht da auch ganz weit oben. Aber gehen wir jetzt mal von Hamlet, dem erfundenen Politiker, zu den ersten zehn bedeutendsten Politikern, die die Teilnehmer der Umfrage gekürt haben. Da steht Angela Merkel auf Platz Eins, dann kommen aber auch Napoleon und Hitler, die auf den vorderen Plätzen landen – was haben Sie empfunden, als Sie das gehört haben?

Troller: Ich bin total überfahren, einerseits auch beglückt, andererseits verwundert, dass Angela Merkel auf Platz Eins steht vor den großen europäischen politischen Heroen wie etwa Napoleon oder wie Willy Brandt oder de Gaulle und so weiter. Das weist immerhin darauf hin, dass eine Europäerin – und de Gaulle war ja in diesem Sinne kein Europäer, Churchill auch nicht so sehr – dass eine Europäerin an erster Stelle steht bei einer Europaumfrage.

Pokatzky: Welchen Politiker hätten Sie genannt?

Troller: Na ja, Churchill kommt bei der Umfrage direkt hinter Angela Merkel. Und ich hätte Churchill an erste Stelle gesetzt, weil dank dem von ihm in vieler Beziehung gewonnenen letzten Zweiten Weltkrieg Europa überhaupt existieren konnte, auch wenn er selbst kein so großer Europäer war. Churchill wäre für mich Nummer Eins gewesen.

Pokatzky: Auffallend ist, dass unter den ersten zehn genannten Politikern allein fünf Deutsche sind. Spielt Deutschland also für die Geschichte Europas auch in Ihren Augen tatsächlich eine so zentrale Rolle, im Guten wie im Bösen?

Troller: Ja, das hat vielleicht mit diesem Augenblick in der Weltwirtschaftskrise, die ja jetzt herrscht, damit zu tun, weil Deutschland zusammen mit Österreich und einigen wenigen anderen Ländern irgendwie diese Krise gut zu übertauchen scheint, während andere Länder das nicht tun. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre Deutschland möglicherweise nicht an erster Stelle gestanden, sondern, ich weiß nicht, also England oder Frankreich oder so.

Pokatzky: Sie als Filmemacher haben ganz sicherlich auch aufmerksam die Ergebnisse der Frage nach dem besten europäischen Film gelesen. "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni ist auf Platz Eins gelandet. Wie finden Sie das?

Troller: Das finde ich eine unmögliche Wahl. Ich hielt den Film für unzumutbar. Ich finde es schon ganz schön erstaunlich, dass solche Größen wie Polanski oder Fellini weit abgeschlagen, hinten unter ferner liefen angesetzt sind, während gerade dieser Film, dieser höchst zweifelhafte Film an erster Stelle steht. Aber dass Wim Wenders drin ist unter den ersten, das gefällt mir natürlich wiederum, und auch "Das Leben der Anderen" war ja ein toller Film, aber ein spezifisch deutscher Film, man kann nicht sagen, dass es ein Weltfilm gewesen wäre, obwohl man nicht weiß, ob das Abhorchen der anderen Leute nicht doch zu einem Weltproblem, vor allem in diesem Moment, wird.

Pokatzky: Welchen Film hätten Sie auf Platz Eins gesetzt?

Troller: Verzeihung, das habe ich nicht verstanden.

Pokatzky: Welchen Film hätten Sie als den besten Europas genannt?

Troller: Ich denke schon, dass "La dolce Vita" für mich an erster Stelle gestanden hätte oder "Achteinhalb", auch von Fellini. Sogar "La Strada", ein Film, den ich besonders geliebt habe, auch von Fellini. Oder "Rom, offene Stadt" von Rossellini. Das schienen mir Filme, die von weltweiter Bedeutung waren, obwohl anscheinend nur auf Lokales spezialisiert. Aber das allgemein Menschliche kam dabei sehr stark zum Zug.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Georg Stefan Troller zum Auftakt unserer Reihe "Europaliste". Herr Troller, Demokratie und klassische Musik seien die bedeutendsten Beiträge Europas zur Weltkultur. Das haben die Teilnehmer der Umfrage entschieden. Sie sind 1921 in Wien geboren und im Alter von 16 Jahren dann erst in die Tschechoslowakei und dann nach Frankreich geflohen vor Hitlers Mördertruppen. Haben wir Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich einen solchen demokratischen Beitrag zur Weltkultur geleistet?

Troller: Europa darf man nie abschreiben. Ich glaube, Europa hat zur Weltkultur, was ja nicht unbedingt identisch ist mit der weltweiten Demokratie, den stärksten Beitrag überhaupt geleistet. Und ich glaube, Europa ist nach wie vor im Stande, einen solchen weiteren Beitrag zu leisten, wenn es nun tatsächlich fähig ist, sich zu integrieren und nicht nur zu einem Konglomerat von Ländern zu werden, sondern tatsächlich zu einem in sich geschlossenen Erdteil.

Pokatzky: Was fehlt dann noch zu der wirklichen Integration?

Troller: Die Aufgabe des Nationalstolzes vor allem. Würde man sich mehr auf Europas Geschichte einlassen als auf die Geschichte der einzelnen Länder, die ja in Lesebüchern und Romanen immer wieder an erster Stelle kommen, dann wäre eine solche Integration tatsächlich möglich. Aber ich glaube, da heutzutage doch sehr viel auf der Wirtschaft beruht, so muss vor allem eine zusätzliche wirtschaftliche Integration stattfinden. Und ich glaube, dass auch in Brüssel daran gearbeitet wird, dass das stattfindet, aber die Leute müssen eben fähig sein, ihre eigenen nationalen Bedenken zurückzustellen. Und dazu gehören immer mehrere Generationen.

Pokatzky: Aufgabe des Nationalstolzes. Haben wir und die Franzosen das nicht in dieser ganz speziellen Entwicklung von einer sogenannten Erbfeindschaft in eine wirklich stabile freundschaftliche Beziehung hinbekommen? Ist das einer der großen historischen Leistungen in diesem vereinten Europa?

Troller: Na ja. Für einen, der das mitgemacht hat wie ich, ist das eine ungeheure Entwicklung, dass man in Frankreich gelernt hat, den deutschen Nachbarn nicht mehr als Dauerbedrohung zu empfinden oder sogar als Kulturschande, sondern als gleichberechtigt oder, wie in diesem Moment fast zu spüren, als überlegen. Die Franzosen leiden seit dem Zweiten Weltkrieg an einem gewissen Minderwertigkeitskomplex Deutschland gegenüber, den sie immer wieder versuchen zu kompensieren. Aber ich glaube, dass es möglich sein müsste, wenn wirkliche Staatsmänner am Ruder sind, dass hier eine absolute Gleichberechtigung eintritt. Die Verbrüderung, die ja – manchmal wärmer, manchmal kühler – stattfindet zwischen den beiden Ländern, ist eines der schönsten Dinge, die überhaupt in meinem Leben passiert sind.

Pokatzky: Was bedeutet Europa persönlich für Sie, so hat auch eine Frage für die Liste gelautet. Da wurde dann geantwortet, Kultur, Gemeinschaft, Reisefreiheit, Vielfalt, Frieden. Was bedeutet Ihnen, Georg Stefan Troller, Europa ganz persönlich?

Troller: Na ja, ein Mann in meinem Alter identifiziert Kultur natürlich ein bisschen mit Hochkultur. Das, was Europa wirklich beigetragen hat und was eben einen Shakespeare oder einen Goethe hervorbringen konnte, den andere Länder nicht haben, ist eben das, was Kultur für uns bedeutet. Und das ist nicht Reisefreiheit. Das ist Selbsterkenntnis, das ist die Fähigkeit, immer tiefer in den Menschen einzudringen, zu lernen, alle seine Gaben zu verwerten, richtig zu leben. Bildung statt Ausbildung. Hochkultur wird eben für uns repräsentiert von Athen oder Rom und nicht vom Eiffelturm. Und die große Gefahr ist, dass dank wirtschaftlicher Vorsprünge in anderen Ländern und Kontinenten, ich will den Namen China oder Indien nicht nennen, diese Kultur sich verflacht und verschwindet. Nach einem furchtbaren Satz von dem Philosophen Lichtenberg: "Man sagt noch Seele wie man sagt Taler, nachdem man lang aufgehört hat, die Taler zu prägen."

Pokatzky: Und in welcher europäischen Sprache darf ich jetzt "Danke" sagen?

Troller: In mindestens drei Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch – ist mir alles eins.

Pokatzky: Danke, thank you very much, merci beaucoup.

Troller: Merci à vous, au revoir!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Link zum Projekt des Goethe-Instituts Europa-Liste: Auf der Suche nach einer europäischen Kultur


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