Europa, diese famose Insel
Ja, Europa steckt in der Krise, aber es hat auch positive Eigenschaften. Wir sollten uns diese immer wieder mal in Erinnerung rufen, auch, wenn es durch den ständigen Anblick verzweifelter und übernächtigter Euro-Retter nicht leichter wird, meint Paul-Hermann Gruner.
Europa! Wie wir schon immer annahmen, ist es eine Insel. Aber es ist – ehrlich – kleiner als wir dachten. Europa ist nur 28 Quadratkilometer groß und hat eine Küstenlinie von 22,2 Kilometer; die höchste Erhebung misst sieben Meter, zudem ist das schöne Eiland hauptsächlich von Mangroven-Wäldern bedeckt. Was aber endgültig überrascht: Europa hat zwölf Einwohner. Ja. Und wir waren – allein für die Europäische Union – von rund 500 Millionen Einwohnern ausgegangen. Stimmt da was nicht?
Ja und Nein. Europa ist tatsächlich ein Inselchen, gelegen auf halbem Wasserweg zwischen Madagaskar und dem Süden Afrikas. Es fungiert vor allem als Pausenhof für erschöpfte Zugvögel.
Unser Europa ist das auf der Nordhalbkugel, wie es der Grieche Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus als Landmasse von jenen Asiens und Afrika erstmals klar unterschied. An diesem Europa – nach einem Bonmot von Bernard-Henri Lévy gar "kein Ort, sondern eine Idee" – wird gerade wieder mächtig gearbeitet.
Und was sieht man von diesem Europa? Fernsehbilder. Was ist zu erkennen? Tiefe Blicke in weite Konferenzräume unter viel Kunstlicht. Ganz viele Papiere liegen auf ganz vielen Tischen, dazwischen stehen oder sitzen Menschen in Anzügen, Blazern, Kostümen. Die Gesichter dieser Menschen schauen aus wie die Rinden von hundertjährigen Bäumen, deren Kronen im Klimawandel enorm leiden müssen. Oft scheint es, als müssten die Menschen, die in Europa arbeiten, den unendlichen Papierkram, den sie bearbeiten, auch essen. Ihre Haut wirkt fahl, die Augen sind nicht selten hinter gelblichen Lidern gnädig verschwunden. Die Gesichter sind übernächtigt und eingefallen, in den Furchen im Antlitz des französischen Präsidenten etwa könnte man Automobile verstecken.
Und mit diesen Gesichtern wird ohne Ende gegipfelt, geschuftet und gerettet. Mal Staaten, mal Banken, mal die Währung. Oder es wird beschirmt. Es werden Abkommen geschmiedet und Papiere beschlossen, es werden Absprachen für kommende Unterredungen zu künftigen Konferenzen über Arbeitspapiere für Reformverträge in kompromissfähige Absichterklärungspostulate – und so weiter, ohne Ende. Dann fahren dunkle Automobile vor und nehmen die Entkräfteten auf, sie umschließend wie Oliven ihren Kern.
Europa? Diese Kollektion der Erschöpften und Überforderten ist Europa? Das wäre wieder ein Gipfel, aber einer der Fehlinterpretation. Die Etablierung der falschen Metapher. Es wird also Zeit, die Nutzung von Kameras in Brüssel zu untersagen. Die Auftritte sind allemal stimmungsvernichtend und grob identitätsschädigend. Sie perforieren fahrlässig die Größe und Kraft einer Idee. Das Resultat, das in nationalen Umfragen Europaskepsis gedeiht, ist so überraschend wie Hungergefühle zur Mittagszeit. Und dass Dänen und Norweger und Briten immer noch – und mehr denn je – sich heilfroh wähnen, nicht zum Geltungsgebiet des Euro zu gehören, ist bei dem erbärmlichen europäischen Selbstmarketing kein Wunder.
Deshalb noch mal von vorn: Europa ist eine Insel – von Vielfalt in Freiheit, von Wohlstand und Wirtschaftsmacht, von sozialen Standards und Arbeitnehmerrechten, von garantierten Grund- und Menschenrechten, von funktionierender Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz, von Bildung, Toleranz und Kreativität, von extrem munterer Pressefreiheit und unvergleichlich riesiger kultureller Produktion.
Fehlt als Ausprägung jetzt nur noch eine angemessen breite Brust: europäisches Selbstwertbewusstsein.
Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der achtziger Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des "Darmstädter Echo", daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.
Ja und Nein. Europa ist tatsächlich ein Inselchen, gelegen auf halbem Wasserweg zwischen Madagaskar und dem Süden Afrikas. Es fungiert vor allem als Pausenhof für erschöpfte Zugvögel.
Unser Europa ist das auf der Nordhalbkugel, wie es der Grieche Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus als Landmasse von jenen Asiens und Afrika erstmals klar unterschied. An diesem Europa – nach einem Bonmot von Bernard-Henri Lévy gar "kein Ort, sondern eine Idee" – wird gerade wieder mächtig gearbeitet.
Und was sieht man von diesem Europa? Fernsehbilder. Was ist zu erkennen? Tiefe Blicke in weite Konferenzräume unter viel Kunstlicht. Ganz viele Papiere liegen auf ganz vielen Tischen, dazwischen stehen oder sitzen Menschen in Anzügen, Blazern, Kostümen. Die Gesichter dieser Menschen schauen aus wie die Rinden von hundertjährigen Bäumen, deren Kronen im Klimawandel enorm leiden müssen. Oft scheint es, als müssten die Menschen, die in Europa arbeiten, den unendlichen Papierkram, den sie bearbeiten, auch essen. Ihre Haut wirkt fahl, die Augen sind nicht selten hinter gelblichen Lidern gnädig verschwunden. Die Gesichter sind übernächtigt und eingefallen, in den Furchen im Antlitz des französischen Präsidenten etwa könnte man Automobile verstecken.
Und mit diesen Gesichtern wird ohne Ende gegipfelt, geschuftet und gerettet. Mal Staaten, mal Banken, mal die Währung. Oder es wird beschirmt. Es werden Abkommen geschmiedet und Papiere beschlossen, es werden Absprachen für kommende Unterredungen zu künftigen Konferenzen über Arbeitspapiere für Reformverträge in kompromissfähige Absichterklärungspostulate – und so weiter, ohne Ende. Dann fahren dunkle Automobile vor und nehmen die Entkräfteten auf, sie umschließend wie Oliven ihren Kern.
Europa? Diese Kollektion der Erschöpften und Überforderten ist Europa? Das wäre wieder ein Gipfel, aber einer der Fehlinterpretation. Die Etablierung der falschen Metapher. Es wird also Zeit, die Nutzung von Kameras in Brüssel zu untersagen. Die Auftritte sind allemal stimmungsvernichtend und grob identitätsschädigend. Sie perforieren fahrlässig die Größe und Kraft einer Idee. Das Resultat, das in nationalen Umfragen Europaskepsis gedeiht, ist so überraschend wie Hungergefühle zur Mittagszeit. Und dass Dänen und Norweger und Briten immer noch – und mehr denn je – sich heilfroh wähnen, nicht zum Geltungsgebiet des Euro zu gehören, ist bei dem erbärmlichen europäischen Selbstmarketing kein Wunder.
Deshalb noch mal von vorn: Europa ist eine Insel – von Vielfalt in Freiheit, von Wohlstand und Wirtschaftsmacht, von sozialen Standards und Arbeitnehmerrechten, von garantierten Grund- und Menschenrechten, von funktionierender Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz, von Bildung, Toleranz und Kreativität, von extrem munterer Pressefreiheit und unvergleichlich riesiger kultureller Produktion.
Fehlt als Ausprägung jetzt nur noch eine angemessen breite Brust: europäisches Selbstwertbewusstsein.
Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der achtziger Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des "Darmstädter Echo", daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.