Europa

Erfolgreich, aber wenig geachtet

Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg
Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg © Bild: EP
Von Günter Müchler · 25.11.2014
Nach zwei Weltkriegen hatten wohl die wenigsten an ein geeintes Europa geglaubt. Fast 70 Jahre später ist aus dem verfeindeten Kontinent eine Erfolgsgeschichte geworden. Trotzdem: Heute seien die Europäer leider vielmehr in ihren Krisen vereint, meint der Historiker Günter Müchler.
Das Jahr ist noch nicht zu Ende und schon kann man es für Europa abhaken. Nicht dass es besondere Tiefschläge gegeben hätte, sieht man von ein paar gebrochenen Stabilitäts-Eiden ab.
Was verzweifeln lässt, ist jener tumbe Konformismus, der jede Verteidigungsrede für Europa mit einem höchst bedrückten Ja-Aber beginnen lässt, so als ob man einer Frau wie Marine le Pen, um nur ein Beispiel zu nennen, dadurch den Wind aus den Segeln nehmen könnte, dass man ihr zur Hälfte Recht gibt.
Dieser missmutige, maulige Konformismus belohnt sich immer dann selbst, wenn es gelingt, Europa oder besser noch "Brüssel" als Sündenbock zu stempeln: Weil "Brüssel" es wagt, an unterschriebene Verträge zu erinnern, ist es stur und unbeweglich.
Weil es Staubsaugerrichtlinien erlässt, ist es kompetenzgierig – so als ob die Vaterschaft für die meisten Fälle von Regelungswut nicht bei irgendeinem interessierten Einzelstaat läge. Weil bei der Besetzung der Kommissionsposten gekungelt wurde wie auf dem Rindviehmarkt, ist es intransparent – so als ob der Kuhhandel vor dem eigenen Kirchturm unbekannt wäre.
Die Preisgabe des europäischen Projekts an die Sticheleien des Kleingeists zeugt von einer beachtlichen Geschichtsvergessenheit. In diesem Jahr ist viel über die Ursachen des gerade wegen seiner Absurdität so schrecklichen Ersten Weltkriegs debattiert worden.
Beinahe rechtfertigend hat man betont, es habe den Staatslenkern von damals an der Kraft gefehlt, sich die humane Katastrophe vorzustellen, zu der es dann kam. Sonst hätte man rechtzeitig die Grätsche gemacht. Dabei war eine andere Form der Phantasielosigkeit schwerwiegender, nämlich die Unfähigkeit, über die eingelernte nationalegoistische Politik hinauszudenken.
Der deutsche Staat musste den Barbaren weichen
Es folgte – in Deutschland – der Hitlerismus. Seine Ursachen sind oft benannt worden: der unglückselige Vertrag von Versailles, Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit, der naive Optimismus bestimmter Regelungen der Weimarer Reichsverfassung.
Dabei war die erste deutsche Republik, der vielgescholtene Weimarer Staat, ein vielversprechendes Vorhaben: Aber am Ende musste dieser Staat den Barbaren weichen, weil die Häme seiner Feinde und der Kleinmut seiner Freunde ihn zuvor sturmreif geschossen hatten.
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – was war sie anderes als die Selbstenthauptung Europas? Wer gab 1945 noch etwas auf diesen Kontinent, der soeben den größten Zivilisationsbruch der Geschichte erlebt hatte, der wirtschaftlich und moralisch ab Boden lag, zerteilt durch die grausige Hirnlosigkeit eines Eisernen Vorhangs?
Aber dann kam, womit niemand gerechnet hatte. Unter dem Eindruck der Katastrophe rauften sich die Politiker der notorisch zerstrittenen europäischen Staaten zusammen, die Völker zogen mit; Erbfeindschaften wurden als überständige Klischees beiseite geräumt.
Das Heilmittel praktischer Zusammenarbeit brachte das Misstrauen zum Verschwinden. Dann 1989, 25 Jahre ist es her. Wer wollte bestreiten, dass die Attraktivität des neuen Europa mithalf bei der Überwindung der Mauer, bei der Überwindung der Teilung Europas?
Dem vereinten Europa ist es zu danken, dass das zwanzigste Jahrhundert in der historischen Bilanz wenigstens halbwegs gerettet wurde. Und heute?
"Frey werden ist alles, frey sein ist nichts", schrieb der Philosoph Fichte vor 200 Jahren. Gewohnheit macht blind. Europa hat, nach zwei verheerenden Rückschlägen, Werte gesetzt, die anderen als Vorbild dienen. Es kann sich im globalen Raum behaupten. Vorausgesetzt, die Völker überlassen nicht den Zynikern das Feld, die von allem die Kosten und von nichts den Wert kennen.
Günter Müchler studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften. Er arbeitete als Redakteur der Günzburger Zeitung und der Deutschen Zeitung/Christ und Welt, später als Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen und der Kölnischen Rundschau (1974 – 1987).
Günter Müchler
Günter Müchler© Deutschlandradio - Bettina Fürst-Fastré
Im Deutschlandfunk war er Leiter der Aktuellen Abteilung, Chefredakteur und Programmdirektor, zuletzt auch von Deutschlandradio Kultur (bis 2011).
Jüngste Buchveröffentlichungen: "1813. Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden" (2012), "Napoleons Hundert Tage. Eine Geschichte von Versuchung und Verrat" (2014).