"Feuerwerk für ein Jahr"
Zu wenige Kulturhauptstädte Europas haben sich um die Nachhaltigkeit ihrer Konzepte bemüht, glaubt der Historiker Jürgen Mittag. Künftige Bewerber sollten die europäische Idee wieder mehr betonen.
Christopher Ricke: In diesem Jahr waren es Marseille und Kosice, im neuen Jahr sind es Riga und Umea – die Kulturhauptstädte Europas. Nach Frankreich und der Slowakei sind jetzt Lettland und Schweden dran. Deutschland war auch schon dreimal dabei, Berlin, Weimar und Essen. Wir wollen heute Morgen mal hören, was aus der grundsätzlichen Idee geworden ist, wie die sich entwickelt hat und vielleicht auch verändert. Ich spreche darüber mit Professor Jürgen Mittag, der arbeitet unter anderem für die Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, ist Mitverfasser des Buchs "Die Idee der Kulturhauptstadt Europas". Guten Morgen, Herr Mittag!
Jürgen Mittag: Guten Morgen!
Ricke: Die ersten Kulturhauptstädte Europas waren ja Athen, Florenz, Amsterdam und der freie Teil Berlins. Das klingt ganz anders als heute. Welche Idee stand denn damals in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ganz am Anfang?
Mittag: Als die Idee der Kulturhauptstadt von Melina Mercouri seinerzeit entwickelt wurde, war das noch ein sehr überschaubares, auch vom finanziellen Aufwand sehr geringes Unterfangen gewesen. Und es waren vor allen Dingen die etablierten Städte, die großen Kulturstädte Europas, die bereits bekannt waren, die auf der Landkarte verankert waren, die zunächst mit dem Titel ausgezeichnet wurden. Das änderte sich eigentlich erst 1990, als Glasgow Titelträger wurde, dass dieses Konzept dann doch eine ganz neue Entwicklung genommen hat.
Ricke: Grundsätzlich gab es ja immer auch die Idee der kulturellen Integration.
Mittag: Die stand durchaus am Anfang des Projektes. Man hatte den Versuch gestartet, die europäische Identität über das Konzept der Kulturhauptstadt zu stärken, und man hat auch sehr stark versucht, den europäischen Mehrwert, die europäische Dimension in den Vordergrund zu rücken. Das funktionierte am Anfang auch gar nicht so schlecht, aber in zunehmendem Maße hat diese Idee, dieses Konzept der Kulturhauptstadt doch seine Eigendynamik entwickelt. Gerade weil der Titel so populär, so markant war, haben viele Städte, sich und zunehmend mehr Städte um den Titel beworben, um mit diesem Titel dann auch ganz andere Ziele als die europäische Identität zu verfolgen.
Ricke: Was sind das denn für Ziele? Mehr Touristen in die Stadt holen?
Mittag: Unter anderem gehört sicherlich auch die Tourismusquote dazu. Im Wesentlichen ging es darum, zunächst einmal die Stadt bekannt zu machen. Waren es am Anfang eben sehr etablierte Städte Europas gewesen, so kam es dann in einer zweiten Folge insbesondere in den 1990er-Jahren dazu, dass weniger bekannte Städte, Industriestädte, altindustriell geprägte Städte sich um den Titel beworben haben. Und in diesem Rahmen eben auch versucht haben, einerseits Aufmerksamkeit zu erzielen, andererseits aber auch so etwas wie einen Stadtumbau, einen Stadtwandel in die Wege zu leiten und mithilfe des Titels dieses Konzept des Stadtwandels zu realisieren.
Ricke: Das war ja auch ein bisschen der Anspruch bei "Ruhr 2010", als Essen und das Ruhrgebiet der letzte große deutsche Beitrag in der Reihe der Kulturhauptstädte war. Eine große Welle, ein großer Aufwand, für viele auch ein ganz tolles Erlebnis. Aber ist davon viel geblieben?
Mittag: Nun, diese Kulturhauptstädte leiden immer darunter, dass sie so etwas wie ein Feuerwerk für ein Jahr darstellen und dass man sich dann die Frage stellen muss, was passiert danach. Weimar 1999, sicherlich eine klassische Stadt, litt auch darunter, dass der Etat nach dem Jahr 1999 drastisch zusammenschrumpfte und dass Museen zum Teil wieder geschlossen werden mussten und man das so nicht aufrechterhalten konnte. "Ruhr 2010" war sich dieser Gefahr durchaus bewusst und hat von Anfang an versucht, ein etwas stärker auf Nachhaltigkeit orientiertes Konzept in die Wege zu leiten, hat das in einigen Bereichen sicherlich auch geschafft. Andere Bereiche waren dann vielleicht aber auch nicht so von Dauer, wie man sich das erhofft hätte.
Ricke: Was ist denn schnell wieder untergegangen?
Mittag: Nun, man hat es vor allen Dingen vermocht, große Mobilisierung innerhalb der Bevölkerung in die Wege zu leiten. Das waren Dinge wie zum Beispiel der "Day of Song" oder die Begehung der A40, des Ruhrschnellweges. Das waren wirklich große Ereignisse. Auf der anderen Seite: die nicht ganz so in der Massenkultur verankerte Perspektive. Aber auch die Kultur von unten, die zum Teil in der Kulturhauptstadt ja etwas höhere, größere, stärkere Fördermittel erhalten hatte. Die brachen dann nach dem Jahr 2010 weg, und in diesem Maße oder in diesem Sinne sind dann auch Projekte nicht weiter fortgeführt worden, die man damals mit einigen Perspektiven in die Wege geleitet hatte.
Ricke: 1988 der freie Teil Berlins, 1999 Weimar, 2010 Essen – Deutschland ist durchaus geübt in der Ausrichtung der Kulturhauptstädte, dürfte 2025 wieder an der Reihe sein. Was für eine Art von Stadt, wenn Sie sich jetzt was wünschen dürften, sollte es denn sein?
Mittag: Interessant ist vor allen Dingen, dass die Vorbereitungsphase weitaus länger mittlerweile geraten ist, als es noch in den ersten Jahren des Projektes der Fall war. Und es werden sich sicherlich sehr viele deutsche Städte bewerben, weil sie einfach auf diesen prestigeträchtigen Titel schielen und sich erhoffen, auch ihre Perspektive in die Wege zu leiten. Ich würde sehr dafür plädieren, dass die europäische Dimension, die in den vergangenen Jahren in der Tat etwas ins Hintertreffen geraten ist, weitaus stärker wieder Berücksichtigung findet, und vielleicht ist es eine Stadt, oder sind es sogar mehrere Städte, die in Kombination auch mit dem Umfeld, der Region, ähnlich wie es in Marseille in diesem Jahr, oder auch im Ruhrgebiet 2010 passiert ist, diese europäische Idee wieder etwas stärker in den Vordergrund rücken.
Ricke: Jürgen Mittag von der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets. Vielen Dank, Professor Mittag!
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