Bücher zur Europawahl

In Vielfalt vereint

14:55 Minuten
"I love EU" und "I love Europe" steht auf einem Beutel, den eine Frau über der Schulter trägt.
Welche Vorstellung von Europa die Menschen haben, wird sich nach der Wahl zum 10. Europäischen Parlament zeigen. Gewählt wird vom 6. bis zum 9. Juni 2024. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Miriam Zeh |
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Europa: Das ist auch ein Sammelsurium an Geschichten und unterschiedlichen Lebensentwürfen. Diese Geschichten können helfen, ein Verständnis für ein geeintes und zugleich sehr verschiedenes Europa zu entwickeln. Wir stellen fünf Bücher vor.
Seit Jahrhunderten träumen Dichterinnen und Intellektuelle von einem friedlichen und sozialen Europa. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts kursierten laut dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse Vorstellungen von einer europäischen Kultur, einem friedensstiftenden Sozialsystem und der Freiheit jedes Individuums.
Und heute? „Was der EU heute schmerzhaft fehlt, ist Fantasie“, schreibt Menasse in seinem Essay „Die Welt von morgen“ und konkretisiert in einem leidenschaftlichen und immer wieder auch äußerst gewitzten Plädoyer einen Umbau der Staatengemeinschaft.
Dass insbesondere der literarische Blick immer wieder Perspektiven auf Europa öffnet und bereichert, beweist auch Matthias Nawrats Reisetagebuch „Über allem ein weiter Himmel“ über seine Reisen nach Polen. Wie die kommunistischen Erfahrungen hier bis heute die politischen Sehnsüchte prägen, beschreibt er anhand zahlreicher Begegnungen mit Menschen, Orten und Lektüren. Denn oft sind es die Geschichten, die wir uns erzählen, mit denen wir uns Europa und seiner kulturellen Vielfalt nähern können.
Der ungarische Schriftsteller Dénes Krusovszky fängt sie ein in seinem Erzählband „Das Land der Jungen“ und die niederländische Autorin Lisa Weeda schreibt mit „Tanz, tanz, Revolution“ eine Parabel über den Krieg in der Ukraine und ein zögerndes Westeuropa.  
Zur Europawahl empfehlen wir fünf Bücher, die über das Friedensprojekt nachdenken, die an die Ränder Europas reisen und uns die Lebenswelten verschiedener europäischer Staaten näherbringen.

Robert Menasse: „Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“

Die Europäische Union ist einem unproduktiven Widerspruch gefangen. Einerseits will sie – ihrer Gründungsidee nach – den Nationalismus und die mit ihm einhergehenden Aggressionen überwinden. Andererseits beruht die EU in ihrer politischen Organisation immer noch auf den Prinzipien nationalstaatlicher Interessen.
Dieser Widerspruch produziere Krisen, führe zu Zweifel und der Rückwendung zum souveränen Nationalstaat, so Menasse. Mit Verve wirbt der österreichische Autor deshalb für ein postnationales Europa. Könnte es nicht in historisch gewachsenen Regionen (wie Tirol oder Katalonien) organisiert sein, die Staatsgrenzen vielerorts bereits überwinden?
Wer vom „Friedensprojekt Europa“ spricht, sollte stets seine Idee von Europa konkretisieren – etwa zum: Friedensprojekt Europa „durch die Überwindung der Nationalstaaten“. Und Werte wie Pressefreiheit sollten tatsächliche Maxime des politischen Handels, nicht bloß Phrase sein.
Menasses Essay ist ein mitreißendes Plädoyer für eine gemeinsame europäische Demokratie und eine kluge Warnung vor den Gefahren eines Zerfalls in konkurrierende Nationalstaaten.

Robert Menasse: „Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
192 Seiten, 23 Euro


Matthias Nawrat: „Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa“

Vom polnischen Opole, aus dem seine Familie in den 1980ern emigrierte, über Budapest bis nach Tel Aviv erstreckt sich Matthias Nawrats Europa. In seinem Essay sammelt er Einsichten aus den letzten zehn Jahren, erzählt von Menschen, Städten und Literaturen.
Immer wieder führt er uns dabei das „Ost-West-Gefälle“ vor Augen: Während sich Westeuropa auf die wirtschaftliche Entwicklung der postsowjetischen Länder fokussiert, geraten die Erfahrungen der Menschen aus dem Blick.
„Man versteht nicht, dass in den europäischen totalitären Systemen die Menschen nicht am meisten unter Armut und mangelndem Lebensstandard gelitten haben. Viel entscheidender waren die Entwürdigungen und moralischen Dilemmata.“
Getrennt durch verschiedene Sprachen und historische Erfahrungen haben sich in Europa unterschiedliche Narrative und Denkweisen entwickelt. Deshalb sei es wichtig, im Gespräch zu bleiben, so Nawrat.
Auf einer Lesung in Westsibirien allerdings sieht der Autor bereits 2018 einen unüberwindbaren Abgrund zwischen sich und seinem Publikum, „zwei unvereinbaren Versionen der Wirklichkeit“. Viele Herausforderungen, vor denen die EU und die Welt heute stehen, deuten sich in diesen hellsichtigen Reisebeobachtungen bereits an.

Matthias Nawrat: „Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa“
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024
224 Seiten, 25 Euro


Dénes Krusovszky: „Das Land der Jungen“

Die neun Erzählungen sind ein Gegenentwurf zu dem, was Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner rückwärtsgewandten, konservativen Politik eigentlich will, nämlich patriarchale Strukturen, traditionelle Familienbilder sowie heteronormative Geschlechterrollen.
Dénes Krusovszky erzählt stattdessen von Männern, die verletzlich und mitfühlend sind, die Ängste haben und mit ihrer männlichen Identität ringen. Da gibt es zwei Brüder, deren Vater seine Arbeit verliert und seinen Frust im Alkohol ertränkt. Dafür wird er von der Mutter verachtet, die längst mit einem Kollegen fremdgeht. Die Söhne halten ihrem Vater verzweifelt die Treue.
In einer anderen Erzählung sitzt ein Mann in seinem ehemaligen Kinderzimmer und erinnert sich daran, wie er als 17-Jähriger seine Freundin zu einer Abtreibung zwang und sie dabei begleitete.
Auch das im gegenwärtigen Ungarn hochaufgeladene Thema Homosexualität kommt in einer Kurzgeschichte vor: Ein schwules Liebespaar wird von seiner konservativen Umgebung geächtet.

Dénes Krusovszky: „Das Land der Jungen“
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Die Andere Bibliothek, Berlin 2024
264 Seiten, 48 Euro


Lisa Weeda: „Tanz, tanz, Revolution“

In einem Land herrscht Krieg. Es trägt den Fantasienamen Besulia. Der niederländischen Autorin, deren Großmutter aus der Ostukraine stammt, ist es wichtig, dass ihr Roman überall in Europa spielen könnte – auch in Georgien, Jugoslawien oder Abchasien.
Während in Besulia der Schrecken des Krieges erst um sich greift und auch nach seinem Ende weiterwirkt, sind die Menschen in Westeuropa kriegsmüde, wollen ihre Augen verschließen.
Doch man bringt ihnen die entstellten Leichen und sie haben die Chance, die Verstorbenen zum Leben zu erwecken. Im Internet kursiert das Video von einer alten Frau, die mithilfe eines uralten traditionellen Tanzes Tote wiederbelebt. Die einen trauen sich, andere weigern sich zu helfen.
Und die Wiederauferstandenen führen zu weiteren Herausforderungen: brauchen eine Wohnung, Essen und Arbeit, sie sind traumatisiert – wie Flüchtlinge eben. Die Botschaft dieses „Gedankenexperimentes“, wie Lisa Weeda ihren philosophischen Roman nennt: man muss sich bewegen – für den Frieden.

Lisa Weeda: „Tanz, tanz, Revolution“
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag, Berlin 2024
176 Seiten, 22 Euro

Mathias Énard: Tanz des Verrats“

Ein Soldat flieht vor einem namenlosen Krieg, wie er überall wüten könnte: in der Ukraine, auf dem Balkan, im Nahen Osten. In grellen, beinahe expressionistischen Farben ist die Brutalität des Soldatentums, die körperliche und seelische Verrohung gezeichnet.
Auf einer anderen Zeitebene erlebt der berühmte fiktive Mathematiker Paul Heudeber den Bau der Berliner Mauer und die Teilung Europas. Mehrere Jahre wird er von seiner Frau und seiner Tochter in Westberlin getrennt. Anfang des 21. Jahrhunderts erlebt Heudebers Tochter wiederum den 11. September.
Der an der französischen Atlantikküste und in Barcelona lebende Schriftsteller Mathias Énard kennt Berlin und andere Teile Deutschlands sehr gut. Er kann teilungsbedingte deutsch-deutsche Tragödien und Skurrilitäten in seinen Roman einflechten, Rückbezüge auf den Nationalsozialismus, auf die Weimarer Klassik und das Konzentrationslager Buchenwald.
In „Tanz des Verrats“ erzählt er geistreich, hochkomisch und bittertraurig von der kriegerischen Geschichte Europas und seinem Verhältnis zur Welt.

Mathias Énard: Tanz des Verrats“
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2024
256 Seiten, 25 Euro

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