Hohe Wahlbeteiligung in der 10 b
08:04 Minuten
Spaßwahl, Brüssel-Besuch, Poetry-Slam: Ein Schulprojekt der Wilhelm-Raabe-Schule in Hannover will Jugendlichen die Europapolitik schmackhaft machen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn wählen dürfen sie noch nicht.
Versammlung der Zehntklässler in der Aula der Wilhelm-Raabe-Schule in Hannover. Renate Heinisch erklimmt die Bühne. Die ehemalige Europaabgeordnete mustert ihr jugendliches Publikum – und steigt sogleich in den Dialog mit den Schülern ein.
"Ich bin mit euch auf einer Ebene, das sage ich euch gleich. Der einzige Unterschied ist, dass ich vielleicht eure Großmutter sein kann, weil ich schon 82 Jahre bin. Wir leben im digitalen Zeitalter, ich bin groß geworden ohne Fernseher – wir sind ganz verschiedene Welten!"
Heinisch ist Späteinsteigerin bei der CDU
Geboren 1937 im badischen Boxberg, studierte Heinisch Pharmazie, machte sich später als Apothekerin selbständig, trat mit Anfang 50 als politische Späteinsteigerin in die CDU ein, und wurde 1994 ins Europäische Parlament gewählt. Seit 2002 gehört sie ehrenamtlich und überparteilich dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss an.
Heinisch hat Unterlagen mitgebracht. Es sind Folien mit Organigrammen, Gesetzesparagraphen, Tabellen. Sie sollen unsere Europäische Demokratie beschreiben. Doch die Folien bleiben an diesem Morgen unberührt. Heinisch erzählt vom Schrecken des Krieges, von den toten Soldaten, die im Staub vor der elterlichen Apotheke lagen:
"Wenn man dann auch an den Grenzen nachher sieht, man steht da, meine Mutti ist von Südamerika, von Chile, und hatte ihre Freundin in Frankreich, und steht dann an der Grenze – und sie kann nur winken. Man ist einfach getrennt voneinander."
Bei Europa geht es um Freundschaft, sagt Heinisch
Renate Heinisch sagt, der Begriff Freundschaft trifft für sie am besten, worum es in Europa geht.
"Keine Demokratie, keine Freundschaft, keine Liebe zueinander ist selbstverständlich. Man muss jeden Tag daran arbeiten."
Fragen einer Schülerin: "Warum nimmt Europa immer ständig bestimmte Länder als schlechte Beispiele. Ich meine, würden Sie schlecht über einen Freund reden?"
"Heute Morgen habe ich den Fernseher angemacht: nur Brexit, Brexit, Brexit. Langsam hast du dann auch das Gefühl, jetzt muss es endlich mal zu Ende sein. Das ist natürlich nicht freundschaftlich, wenn man das sagt."
Am schicksalhaften Referendum über Austritt oder Verbleib haben sich die britischen Jungwähler kaum beteiligt. Bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 gaben europaweit nur 30 Prozent der 16- bis 29-Jährigen ihre Stimme ab. Die verfügbaren Zahlen lassen befürchten, dass beim Urnengang am 26. Mai Ähnliches passieren kann.
"Schaut euch mal hier die Statistik an! Stellt mal Vermutungen auf bitte, warum das sein kann, dass die jüngeren Wähler seltener wählen gegangen sind – gerade weil ja bei euch deutlich wurde, dass doch für euch ganz elementare Argumente wichtig sind!"
Für den Politikunterricht der 10b bietet das Brexit-Chaos seit Wochen Diskussionsstoff: Lehrer David Schäfer lässt die Schüler nach rationalen Gründen für ein Ereignis suchen, das für viele mit Verstandeskräften allein kaum noch zu fassen ist.
"Ich denke, dass die Älteren so eine Wunschvorstellung haben, von dem, wie es mal früher war – und das sich so gar nicht mit den heutigen Werten und der heutigen Gesellschaft vereinbaren lässt."
"Ich glaube auch, dass der Hauptgrund ist, dass die meisten jüngeren EU-Bürger es gar nicht anders kennen und glauben, dass es deswegen selbstverständlich ist, was sie haben."
Einladung zur Jugendplenartagung in Brüssel
"Your Europe, Your Say!" Auch im Wahljahr 2019 lud der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Jugendplenartagung nach Brüssel ein. Pro Mitgliedstaat wird eine Schule ausgewählt und darf jeweils drei Jugendliche entsenden, die ausprobieren können, wie sich Politik machen anfühlt. Diesmal war dem Gymnasium aus Hannover das Losglück beschieden – und der Fairness halber sie angemerkt: Ein flottes Bewerbungsschreiben der Politiklehrerin Anna Krichevsky war auch mit im Spiel.
"Wenn man Europa im Politikunterricht auf Institutionenkunde reduziert, ist das sicherlich ein Problem. Sprechen wir doch mal über das Positive, ganz konkret: Was bringt mir als Schüler Europa zum Beispiel! Und das wäre das Wünschenswerte, vielleicht ein Idealbild, dass man sich auch als Europäer fühlt – stattdessen werden oft die Schranken, die Barrieren, die Konfliktlinien wahrgenommen."
Unpolitisch ist die "Generation Erasmus" mitnichten: Am Europatag der Wilhelm-Raabe-Schule berichten Didem Yilmaz, Nina Schlenke und Lukas Nordsieck von ihrer Jugendplenartagung Ende März.
Selbst aufgerüttelt vom Erstarken des europafeindlichen Populismus traf Nina Schlenke in Brüssel auf Gleichgesinnte. Für ein soziales Europa, solidarisch mit Geflüchteten plädierte die 16-Jährige bei diesem Stelldichein der organisierten europäischen Zivilgesellschaft. Und die Schülerin sieht noch ein Anliegen, speziell ihrer Generation, das dringend Eingang in Resolutionen finden müsste:
"Umweltschutz, ganz wichtig, auch aus anderen Ländern, dass es halt alles einheitlich eingeführt wird."
Junge Menschen gegen wieder auf die Straße
Europaweit demonstrieren Jugendliche zu Tausenden für mehr Klimaschutz und gegen die EU-Urheberrechtsreform. In kürzester Zeit wurden dabei Millionen Unterschriften gesammelt, gibt Didem Yilmaz, ebenfalls 16, zu bedenken. Zugleich trauen immer weniger Jugendliche dem Politpersonal in Brüssel noch zu, sich wirklich für die großen Zukunftsfragen einzusetzen.
"Das ist auf jeden Fall ein Punkt, den man an Europa kritisieren könnte und den man auch verbessern muss – und weswegen wahrscheinlich auch so wenige junge Leute zur Wahl gehen, weil einfach auch so wenig für die jungen Leute getan wird, was man auch an den Fridays-for-Future-Demonstrationen sieht und auch an den Demonstrationen zu Artikel 13."
Wie soll die EU künftig aussehen? Lukas Nordsieck, 17, wünscht sich mehr Aufklärung über die europäische Demokratie in den sozialen Netzwerken. Seine Arbeitsgruppe sprach sich für die Entwicklung einer Website aus, die Informationen bündelt und den direkten Austausch mit den aus den Ländern entsandten EU-Abgeordneten ermöglicht.
"Es ist schon ziemlich aufwändig, überhaupt zu wissen: Wer will ins EU-Parlament, wer sitzt schon drin und wie verhält er sich? Das ist bis jetzt ziemlich schwer auch für einzelne Regionen nachzuvollziehen. Und viele wissen dann vielleicht auch gar nicht, was einem die EU bringt."
Poetry-Slam-AG rühmt den Kontinent
"Deutschland: Buchdruck, Sauerkraut und Bier – all das erfand man hier!"
"Stammt das Bier nicht aus China, oder war das Ägypten?"
"Moment, ich frag mal auf Skype – der Programmierer aus Estland war mal voll im Hype!"
"Woher stammt eigentlich das Thermometer – ah, da östlich von uns, in Polen steht er …"
Nur noch wenige Tage bis zur Europawahl – und an der Wilhelm-Raabe-Schule feuern sie aus allen Rohren. In rasenden Reimen rühmt die Poetry-Slam-AG den Kontinent für Vielfalt und Erfindergeist – der Videoclip fand lobende Erwähnung in einem von der Landesregierung initiierten Kreativwettbewerb, mit dem zur Wahlbeteiligung animiert werden soll.
Wahl wird in der Schule simuliert
"Und vielleicht noch ein interessantes Klassenergebnis zum Schluss: Die höchste Wahlbeteiligung finden wir in der 10b!"
Politiklehrerin Anna Krichevsky präsentiert erste vorläufige Hochrechnungen von der so genannten U18-Wahl. Das Publikum johlt – und auch Lukas Nordsieck und Didem Yilmaz, die weit gereisten Elftklässler, freuen sich. Von der Herabsenkung des Wahlalters würde das europäische Projekt noch mehr profitieren, kommentieren beide nüchtern – doch der Anfang ist gemacht:
"Ob das Europafieber jetzt wirklich ausgebrochen ist, weiß ich nicht. Jetzt hier in der Schule da machen wir das halt in der Schulzeit."
"Aber ich glaube schon, dass das was bringt, wenn man so eine Spaßwahl an der Schule schon mal simuliert, dass man dann, wenn man später wirklich wählen darf, auch wirklich die Initiative ergreift und selber wählen geht."