"Europa institutionell nicht gut aufgebaut"

Moderation: Frank Meyer |
Insbesondere der selbstgefällige Veränderungsdrang einiger Politiker schadet nach Meinung des SPD-Politikers Klaus von Dohnanyi der Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union. Er kritisiert, dass die "Europäische Kommission sich alle möglichen Dinge anmaßt zu tun", aber in wichtigen Dingen nicht mit einer Stimme spreche. Und er fordert neue Strukturen.
Frank Meyer: Wir brauchen mehr Europa - das hört man im Moment aus vielen politischen Lagern in Deutschland. Was die Europäische Union braucht in der gegenwärtigen Krise, darüber wird heute Abend Klaus von Dohnanyi sprechen, also ein wirklich erfahrener Politiker. In den 70er Jahren war er unter anderem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, in den 80er Jahren Erster Bürgermeister von Hamburg, heute gehört er zum renommierten Club of Rome. Jetzt ist Klaus von Dohnanyi für uns am Telefon, seien Sie herzlich willkommen!

Klaus von Dohnanyi: Ja, guten Tag!

Meyer: Herr von Dohnanyi, die Europapolitik hangelt sich ja im Moment von Krisengipfel zu Krisengipfel. Wie sehen Sie denn die derzeitige Krise? Ist das ein Wendepunkt für die Europäische Union?

von Dohnanyi: Das kann es sein, wenn wir es so nutzen. Ich möchte gern eine Bemerkung machen zu dem, was Sie einleitend gesagt haben: Ich war zweimal in meinem Leben, insgesamt etwa sieben Jahre lang, der Koordinator für die Europapolitik in der Bundesregierung, ganz früh als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, und dann später als Staatsminister im Auswärtigen Amt. Ich habe meine lange Erfahrung mit Kommissionen und Ratssitzungen also gesammelt, und ein Teil meiner heutigen Position, auch meiner Skepsis gegenüber manchen Entwicklungen, stammt aus dieser frühen Erfahrung, die sich aber nach meiner Meinung in der heutigen Entwicklung nur bestätigt.

Meyer: Dann lassen Sie uns Ihre Erfahrung nutzen mit der Frage, eben dieser Ruf nach mehr Europa zurzeit. Was halten Sie von diesem Ruf nach mehr Europa?

von Dohnanyi: Der Ruf ist mir zu allgemein. Es gibt bestimmte Dinge, wo wir dringend eigentlich eine Abstimmung brauchen in Europa. Es ist nicht gut, wenn in der Frage, die die Palästinenser jetzt zum Beispiel in der UNO aufgebracht haben, Frankreich anders stimmt als Deutschland. Da müssten wir eigentlich versuchen, eine europäische Basis zu finden. Dasselbe gilt für Grundfragen, sage ich mal, der nuklearen Sicherheit, der Kernkraftwerke in Europa. Es ist ein völlig unverständlicher Zustand, dass es dort nur eine ganz schwache, gemeinsame Basis gibt, aber im Grunde genommen jeder sozusagen da seine eigenen Sicherheitsstandards verwirklichen möchte. Also es gibt Dinge, wo wir wirklich mehr Europa brauchen. Wir brauchen es nicht in der Sozialpolitik, wir brauchen es nicht in der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen, wir brauchen es aber in einer ganzen Reihe von Fragen, die, sage ich mal, wirklich Europa im Ganzen umspannen. Und die Problematik, vor der wir heute stehen, ist, dass die Europäische Kommission sich alle möglichen Dinge anmaßt zu tun, zum Beispiel uns eine Frauenquote vorzuschreiben. Man kann eine Frauenquote für richtig oder für falsch halten, aber es geht die Kommission überhaupt nichts an. Dafür gibt es das Prinzip der Subsidiarität. Also wir brauchen mehr Europa, aber wir brauchen es an der richtigen Stelle.

Meyer: Weil Sie auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik angesprochen haben - gerade das wird ja jetzt gefordert, dass man über die Finanzpolitik hinausgehend auch Wirtschaftspolitik vereinigt, und manche denken ja auch schon an die Sozialpolitik, dafür einheitliche Maßstäbe in ganz Europa zu schaffen. Was halten Sie davon?

von Dohnanyi: Gar nichts. Versuchen Sie doch mal, die Sozialpolitik von Schweden und Italien oder von Deutschland auch und Frankreich in dieser Beziehung auf einen Nenner zu bringen. Also vielleicht in ferner Zukunft, in 20, 30 Jahren, aber heute bestimmt nicht. Also auch das sind Fragen, die auf der Zeitachse gesehen werden müssen. Die Unterschiede sind so groß, die nationalen Erfahrungen, die Mentalitäten, die Strukturen - also in Schweden zum Beispiel gibt es 70 Prozent Gewerkschaftsmitglieder, faktisch alle Beschäftigten, alle abhängig Beschäftigten sind Mitglieder der Gewerkschaft, das, was wir Bundesagentur für Arbeit nennen, ist in der Hand der Gewerkschaften, also es ist eine völlig andere Struktur. Und wer den Versuch machen würde, das auf einen Nenner zu bringen, der hat einfach nicht verstanden, wie unterschiedlich die gewachsenen Strukturen in Europa sind. Nein, wir müssen mehr Europa in den wichtigen Fragen haben, zum Beispiel in der Fiskalpolitik, wir haben nun mal einen Euro, ob das richtig war oder nicht - darüber zu streiten ist völlig sinnlos, denn wir haben ihn, wir brauchen ihn jetzt auch, wir wollen ihn auch behalten -, aber wir müssen den Euro dann so organisieren, dass dort wirklich durchgegriffen werden kann, damit nicht ein Land die anderen Länder irgendwie in Schwierigkeiten bringt.

Meyer: Den Euro halten, hieße das für Sie auch, Griechenland im Euroraum halten?

von Dohnanyi: Halte ich für sicher und für notwendig, weil die Folgen, die eintreten würden, wenn man Griechenland aus dem Euro herausfallen lässt, nicht berechenbar sind. Die Bundeskanzlerin hat mal in einer Rede gesagt im Bundestag, sie sei zwar nach ihrem Amtseid verpflichtet, Risiken einzugehen, aber keine Abenteuer, und das Herauslösen von Griechenland wäre ein Abenteuer.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Klaus von Dohnanyi, er wird heute Abend einen Vortrag halten über "Die Europäische Union - Vom Traum zur Mühe der Praxis". Was Sie gerade gesagt haben, Herr von Dohnanyi, zur gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa, die Sie ablehnen - gerade die Spitzen der SPD fordern doch eine solche gemeinsame Politik. Wie stehen Sie denn da zu den Forderungen Ihrer Partei?

von Dohnanyi: Ich glaube nicht, dass die Spitzen der SPD das fordern. Dass man sich über Wirtschaftspolitik unterhält, dass man ein Gremium hat, in dem man über die Wirtschaftspolitik reden kann, das ist schon richtig. Aber die Idee, die ich von einem Kommissar, von László Ander, dem Kommissar für Sozialpolitik, neulich gelesen habe, dass er eventuell sogar die Deutschen zwingen würde, ihre Löhne zu erhöhen, also diese Ideen - das ist absurd. Und wenn Europa sich immer weiter in diese Einzelheiten hineinbegibt, dann wird am Ende die Europäische Union scheitern. Wir sind sehr unterschiedlich, wir haben sehr unterschiedlich gewachsene Strukturen, man kann sie schrittweise koordinieren, aber man kann sie nicht über einen Leisten schlagen. Wenn man das macht, wird man Europa beschädigen. Und die Kommission ist auf bestem Wege, das in einer Reihe von Dingen zu tun. Was geht die Kommission an, wie wir unsere Krankenschwestern ausbilden? Die sagen, wir müssten sie akademisch ausbilden - das ist absurd. Wir haben ein duales System, das mag falsch oder richtig sein, aber das ist eine deutsche Tradition, die sich bisher bewährt hat, und wir bilden unsere Krankenschwestern aus, wie wir das für richtig halten, und nicht, wie die Kommission uns vorschreiben will, wie wir Krankenschwestern ausbilden.

Meyer: Und woher kommt diese Übergriffigkeit der Europäischen Kommission, ist das eine Logik der Institution?

von Dohnanyi: Ja, die kommt aus vielen Quellen, unter anderem auch aus der Quelle, dass jeder Kommissar irgendetwas Wichtiges hinterlassen will, und dass wir 27 Kommissare haben. Wir sind in Europa institutionell nicht gut aufgebaut, und wie man das ändern kann, das ist sehr, sehr schwer, weil natürlich 27 - oder 28 - Länder bald an dieser Sache beteiligt sind und auch beteiligt sein sollten. Aber wie man dann die Institution so schafft, dass sie die einzelnen Nationen flexibel genug lässt, […] in ihrer Vielfalt - denn das ist Europas Stärke, Europas Stärke ist die Vielfalt und nicht die Einheitlichkeit, und wer Europa versucht überall zu vereinheitlichen, der zerstört die Kraft Europas, und das müssen wir eben begreifen.

Meyer: An der Vereinheitlichung von Europa arbeitet ja zum Teil auch das Europäische Parlament mit. Würden Sie auch sagen, auch die Macht des Europäischen Parlaments muss zurückgedrängt werden?

von Dohnanyi: Nein, nicht zurückgedrängt, sondern auf die wichtigen Dinge hingewiesen werden. Also wenn es um Fragen, sage ich mal, der Außenwirtschaftspolitik der EU geht, dann bin ich sehr dafür, dass das europäische Parlament dort eine wichtige Stimme hat. Wenn es um Fragen der nuklearen Sicherheit - ich sprach es schon an - geht, dann bin ich sehr dafür, dass das Europäische Parlament dort eine große Rolle spielt, wenn es auch um Fragen der Außenpolitik geht, sollte das Europäische Parlament mitreden. Aber es ist doch eine Absurdität, dass wir in Europa darüber reden, wie wir die Krankenschwestern einheitlich ausbilden, aber keine gemeinsame Stimme in Fragen von Libyen oder heute in Fragen von Palästina finden. Das ist doch absurd. Und die Kommission neigt dazu, die dünnen Bretter schnell zu bohren, weil die sich besser bohren lassen, und die dicken Bretter auszulassen, und das ist nicht gut.

Meyer: Die Bürger nicht nur in Deutschland, die sagen in der Mehrzahl, auf Entscheidungen auf europäischer Ebene können wir kaum Einfluss nehmen. Ist dieses Skepsis ja auch der Bürger für Sie auch ein Argument dafür, den Einfluss von Kommission und Parlament in Grenzen zu halten?

von Dohnanyi: Nein, das ist jetzt eigentlich nicht der Hauptgrund. Es ist nur so, man muss das wissen. Und wenn man das weiß, dann sieht man, dass für die Demokratie das, was man Legitimation nennt, das Wichtigste ist. Nicht die Legalität, also die Rechtsfragen in Europa sind für die Menschen wichtig, sondern ob jemand aus der Sicht der Bürger befugt sein sollte, über eine bestimmte Sache zu entscheiden. Und wir haben das ja in Deutschland auch, also wenn der Bund anfangen würde, über den Aufbau einer Kita in der Stadt Köln zu entscheiden, dann würden natürlich die Leute sagen: "Die sind meschugge in Berlin! Die sollen die Finger davon lassen, das wissen wir besser!" Und insofern ist die Frage der Dezentralisation, das Übergeben an die Leute, die vor Ort etwas von der Sache verstehen, eben entscheidend. Und die Europäische Kommission und das Europäische Parlament neigen dazu, zu überschätzen, was die Bürger bereit sind, aus der Hand zu geben, weil sie es besser wissen, weil die Bürger in Deutschland eben besser wissen, wie man mit dem dualen System der Ausbildung umgeht, und da soll uns niemand reinreden. Das ist unsere Sache. Und wenn dann unsere Leute nicht in der Welt richtig unterkommen, weil sie falsch ausgebildet sind, dann müssen wir das ändern, aber nicht die Kommission.

Meyer: Herr von Dohnanyi, Sie werden heute Abend über den Traum von Europa reden, und der am weitesten fortgeschrittene Traum ist ja vielleicht in der Formulierung gefangen: Die vereinigten Staaten von Europa soll es irgendwann mal geben. Verstehe ich Sie richtig, dass man diesen Traum von den vereinigten Staaten von Europa vielleicht besser begraben sollte?

von Dohnanyi: Das ist eine Frage der Definition. Man kann die vereinigten Staaten von Europa so definieren, wie ich sie definieren würde, nämlich, dass die Staaten, die Mitgliedsstaaten der EU sich vereinigen in gewissen Fragen, auch gemeinsam zu entscheiden. Wenn man aber darunter, was viele tun, darunter versteht, die vereinigten Staaten von Europa sollen organisiert werden wie die Vereinigten Staaten von Amerika, dann halte ich das für eine Illusion und für einen Fehler unter den gegenwärtigen Umständen. Ich sage allerdings, das ist ja - sage ich auch in meiner Rede heute Abend -, es ist durchaus möglich, diesen Traum sich zu bewahren. Ich bin heute eher auf der Seite derjenigen, die sagen, lasst uns mal die Nationen, die Vaterländer für ein Vaterland Europa zusammenfügen, und dann sehen, wie weit wir dabei gehen können. Aber wenn man von der Zentralisation Europas ausgeht, wie das leider kommt - also ich nehme mal die Vergemeinschaftung von Schulden unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo die anderen Staaten nicht bereit sind, ihre Souveränität über die Haushaltspolitik aufzugeben, das ist doch absurd. Das werden die Leute auch nicht verstehen. Und ich finde, man muss über diese Fragen mal ehrlich, offen und direkt reden.

Meyer: Klaus von Dohnanyi - heute Abend wird er den Festvortrag halten zum Einsteintag der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ein Vortrag unter dem Titel "Die Europäische Union - vom Traum zur Mühe der Praxis". Herr von Dohnanyi, vielen Dank für das Gespräch!

von Dohnanyi: Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Meyer!

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