"Europa ist ein mysteriöses Land"
In seinem 1950 erstmals auf Deutsch veröffentlichten Buch "Die Haut" beschreibt Curzio Malaparte die Europäer als ein Heer von Gespenstern, als wandelnde Leichen, die in den noch immer blutverschmierten Uniformen ihrer getöteten Feinde zum Appell antreten. Malaparte führt den Untergang des Abendlandes als Farce auf, als Karneval der Sinnlosigkeit, als Schlussstrich.
Ein Name aus alten Zeiten taucht wieder auf, ein berühmter Name: Curzio Malaparte. Die Alten haben ihn meist vergessen, die Jüngeren noch nie gehört. Die dazwischen kennen nur sein Haus, die Casa Malaparte auf Capri, in dem und um das herum Jean-Luc Godard seinen berühmten Film "Le Mepris", zu Deutsch "Die Verachtung", gedreht hat.
Alles was Rang und Namen, Geschichte und Geheimnis hatte, spielte mit: Brigitte Bardot und Jack Palance, Michel Piccoli und vor allem Fritz Lang, der Regisseur des Stummfilms "Nibelungen" aus dem Jahre 1924. In diesen Namen fügt sich vieles auf ungeahnte Weise, aber zwingend zusammen: Erster und Zweiter Weltkrieg, Futurismus und Faschismus, Expressionismus und Abendland, Kommunismus und Katholizismus, Farce, Verrat und Verachtung und die Krise Europas. Für all das steht auch der Name Malaparte, der natürlich ganz anders hieß, nämlich Kurt Sickert und der ein kulturelles Chamäleon war, ein Wanderer zwischen den Welten, ein Opportunist und ein Held, ein Zyniker und ein Träumer, ein unmoralischer Moralist, ein Condottiere mit doppelt geschliffenem Schwert.
1922 marschiert er mit Mussolini zur faschistischen Machtergreifung nach Rom, 1933 verbannt ihn Mussolini auf die Insel Lipari. Während des Russlandfeldzuges ist er Frontberichterstatter. Danach ist er Kommunist und ein Freund Mao-Tse-tungs. In seinem 1950 auf Deutsch veröffentlichten Buch "Die Haut" beschreibt er die Europäer als ein Heer von Gespenstern, als wandelnde Leichen, die in den noch immer blutverschmierten Uniformen ihrer getöteten Feinde zum Appell antreten. In einer absurden Szene schwören die Soldaten, nicht um Ehre und Stolz zu kämpfen, sondern um Schmach und Schande. Malaparte führt den Untergang des Abendlandes als Farce auf, als Karneval der Sinnlosigkeit, als Schlussstrich.
"Oberst Palese ergriff das Wort und sprach: 'Ich stelle euch euren neuen Hauptmann vor ...', und während er sprach, betrachtete ich diese italienischen Soldaten in ihren den englischen Gefallenen abgenommenen Uniformen, betrachtete die blutleeren Hände, die bleichen Lippen, die weißen Augen. Verschiedentlich, an der Brust, am Leib, an den Beinen wiesen ihre Uniformen schwarze Blutflecke auf. Plötzlich bemerkte ich mit Entsetzen, dass diese Soldaten tot waren. Sie dünsteten einen bleichen Geruch nach moderndem Stoff aus, nach faulendem Leder, nach in der Sonne dörrendem Fleisch. Ich sah Oberst Palese an, er war gleichfalls tot. Die Stimme, die von seinen Lippen kam, war feucht, kalt, klebrig, wie jene grässlichen Gurgeltöne, die aus dem Munde eines Toten dringen, wenn man ihn mit der Hand auf den Magen drückt. 'Und jetzt', sagte Oberst Palese 'wird euer neuer Hauptmann kurz zu euch sprechen'. Ich öffnete die Lippen und ein entsetzliches Gurgeln drang mir aus dem Mund, es waren spröde, schwerfällige, schlaffe Worte. Ich sprach: 'Wir sind die Freiwilligen der Freiheit, die Soldaten des neuen Italien. Wir müssen die Deutschen bekämpfen, sie aus unserem Hause jagen, sie über unsere Grenzen zurückwerfen. Die Blicke aller Italiener sind auf euch gerichtet: wir müssen die in den Schmutz gezogene Fahne wieder emporheben ….'
'Um Europa zu verstehen', sagte ich, 'ist cartesianische Vernunft nichts nütze. Europa ist ein mysteriöses Land, voll undurchdringlicher Geheimnisse.'"
Eines dieser Geheimnisse ist die Heilige Jungfrau. Sie ist die zentrale Metapher, das Mysterium des Christentums, der Verweis auf die unbefleckte Geburt Christi, der Beleg seiner Göttlichkeit. Wer dieses Geheimnis zu lüften versucht, rührt an das pochende Herz Europas. Gerade deshalb führt uns Malaparte die käufliche, die entweihte Jungfrau vor, die Prostituierte. Tiefer und radikaler kann die Demütigung Europas nicht greifen. Im Vergleich dazu sind die aktuell diskutierten Mohammed-Karikaturen ein reines Oberflächen-Phänomen. "Nur Prostituierte verkaufen sich an den Feind", sagt Malaparte, aber er lässt offen, an welchen Feind die abendländische Jungfrau sich verkauft, an einen ideellen oder einen realen. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Er hatte nur eine Ahnung. Wir aber - 56 Jahre später und im längst entzauberten, eindimensionalen Abendland - könnten den Gegner erkennen.
"So ging ich mit Jimmy, die 'Jungfrau' zu sehen …. Auf der Schwelle stand ein Mann mittleren Alters, schwarz gekleidet, sehr mager, mit bleichem Gesicht, ungepflegten Bartwuchs. 'One dollar each', sagte er, 'hundert Lire pro Person.' …Sie saß auf dem Bett und ließ die Beine baumeln, sie rauchte hingegeben, schweigend, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Gesicht mit den Händen stützend. Sie schien sehr jung zu sein, aber ihre Augen waren alt und etwas verlebt. Sie war in jener barocken Manier der 'Capere' der volkreichen Stadtviertel frisiert, die den Kopfputz der neapolitanischen Madonnen des 17. Jahrhunderts zum Muster nehmen …. Das Mädchen warf die Zigarette zu Boden, ergriff mit den Fingerspitzen die Zipfel seines Kleides und hob es langsam hoch … Sie blieb einen Augenblick in dieser Stellung - eine traurig stimmende Veronika, den Mund halb verächtlich geöffnet. Dann legte sie sich langsam hintenüber, streckte sich auf dem Bett aus und öffnete ganz ruhig und allmählich die Beine. Tiefes Schweigen herrschte im Raum. 'She is a virgin. You can touch …'"
Malaparte hat Recht: Lebenslügen entlasten, sie haben ihren dialektischen Charme, nicht aber wenn sie uns den Zugang zu unserer eigenen Wirklichkeit versperren, zu unseren Mythen, zu unserer Geschichte, zu unserer Identität, zu unserem Geheimnis. Dann lähmen sie uns. Es gibt allerdings Leute, die halten uns schon jetzt für Krüppel, für blind und lahm. Was wir denen antworten sollen, das müssen wir nun entscheiden.
Curzio Malaparte: Die Haut
Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig
Zsolnay Verlag, Wien, 2006
Alles was Rang und Namen, Geschichte und Geheimnis hatte, spielte mit: Brigitte Bardot und Jack Palance, Michel Piccoli und vor allem Fritz Lang, der Regisseur des Stummfilms "Nibelungen" aus dem Jahre 1924. In diesen Namen fügt sich vieles auf ungeahnte Weise, aber zwingend zusammen: Erster und Zweiter Weltkrieg, Futurismus und Faschismus, Expressionismus und Abendland, Kommunismus und Katholizismus, Farce, Verrat und Verachtung und die Krise Europas. Für all das steht auch der Name Malaparte, der natürlich ganz anders hieß, nämlich Kurt Sickert und der ein kulturelles Chamäleon war, ein Wanderer zwischen den Welten, ein Opportunist und ein Held, ein Zyniker und ein Träumer, ein unmoralischer Moralist, ein Condottiere mit doppelt geschliffenem Schwert.
1922 marschiert er mit Mussolini zur faschistischen Machtergreifung nach Rom, 1933 verbannt ihn Mussolini auf die Insel Lipari. Während des Russlandfeldzuges ist er Frontberichterstatter. Danach ist er Kommunist und ein Freund Mao-Tse-tungs. In seinem 1950 auf Deutsch veröffentlichten Buch "Die Haut" beschreibt er die Europäer als ein Heer von Gespenstern, als wandelnde Leichen, die in den noch immer blutverschmierten Uniformen ihrer getöteten Feinde zum Appell antreten. In einer absurden Szene schwören die Soldaten, nicht um Ehre und Stolz zu kämpfen, sondern um Schmach und Schande. Malaparte führt den Untergang des Abendlandes als Farce auf, als Karneval der Sinnlosigkeit, als Schlussstrich.
"Oberst Palese ergriff das Wort und sprach: 'Ich stelle euch euren neuen Hauptmann vor ...', und während er sprach, betrachtete ich diese italienischen Soldaten in ihren den englischen Gefallenen abgenommenen Uniformen, betrachtete die blutleeren Hände, die bleichen Lippen, die weißen Augen. Verschiedentlich, an der Brust, am Leib, an den Beinen wiesen ihre Uniformen schwarze Blutflecke auf. Plötzlich bemerkte ich mit Entsetzen, dass diese Soldaten tot waren. Sie dünsteten einen bleichen Geruch nach moderndem Stoff aus, nach faulendem Leder, nach in der Sonne dörrendem Fleisch. Ich sah Oberst Palese an, er war gleichfalls tot. Die Stimme, die von seinen Lippen kam, war feucht, kalt, klebrig, wie jene grässlichen Gurgeltöne, die aus dem Munde eines Toten dringen, wenn man ihn mit der Hand auf den Magen drückt. 'Und jetzt', sagte Oberst Palese 'wird euer neuer Hauptmann kurz zu euch sprechen'. Ich öffnete die Lippen und ein entsetzliches Gurgeln drang mir aus dem Mund, es waren spröde, schwerfällige, schlaffe Worte. Ich sprach: 'Wir sind die Freiwilligen der Freiheit, die Soldaten des neuen Italien. Wir müssen die Deutschen bekämpfen, sie aus unserem Hause jagen, sie über unsere Grenzen zurückwerfen. Die Blicke aller Italiener sind auf euch gerichtet: wir müssen die in den Schmutz gezogene Fahne wieder emporheben ….'
'Um Europa zu verstehen', sagte ich, 'ist cartesianische Vernunft nichts nütze. Europa ist ein mysteriöses Land, voll undurchdringlicher Geheimnisse.'"
Eines dieser Geheimnisse ist die Heilige Jungfrau. Sie ist die zentrale Metapher, das Mysterium des Christentums, der Verweis auf die unbefleckte Geburt Christi, der Beleg seiner Göttlichkeit. Wer dieses Geheimnis zu lüften versucht, rührt an das pochende Herz Europas. Gerade deshalb führt uns Malaparte die käufliche, die entweihte Jungfrau vor, die Prostituierte. Tiefer und radikaler kann die Demütigung Europas nicht greifen. Im Vergleich dazu sind die aktuell diskutierten Mohammed-Karikaturen ein reines Oberflächen-Phänomen. "Nur Prostituierte verkaufen sich an den Feind", sagt Malaparte, aber er lässt offen, an welchen Feind die abendländische Jungfrau sich verkauft, an einen ideellen oder einen realen. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Er hatte nur eine Ahnung. Wir aber - 56 Jahre später und im längst entzauberten, eindimensionalen Abendland - könnten den Gegner erkennen.
"So ging ich mit Jimmy, die 'Jungfrau' zu sehen …. Auf der Schwelle stand ein Mann mittleren Alters, schwarz gekleidet, sehr mager, mit bleichem Gesicht, ungepflegten Bartwuchs. 'One dollar each', sagte er, 'hundert Lire pro Person.' …Sie saß auf dem Bett und ließ die Beine baumeln, sie rauchte hingegeben, schweigend, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Gesicht mit den Händen stützend. Sie schien sehr jung zu sein, aber ihre Augen waren alt und etwas verlebt. Sie war in jener barocken Manier der 'Capere' der volkreichen Stadtviertel frisiert, die den Kopfputz der neapolitanischen Madonnen des 17. Jahrhunderts zum Muster nehmen …. Das Mädchen warf die Zigarette zu Boden, ergriff mit den Fingerspitzen die Zipfel seines Kleides und hob es langsam hoch … Sie blieb einen Augenblick in dieser Stellung - eine traurig stimmende Veronika, den Mund halb verächtlich geöffnet. Dann legte sie sich langsam hintenüber, streckte sich auf dem Bett aus und öffnete ganz ruhig und allmählich die Beine. Tiefes Schweigen herrschte im Raum. 'She is a virgin. You can touch …'"
Malaparte hat Recht: Lebenslügen entlasten, sie haben ihren dialektischen Charme, nicht aber wenn sie uns den Zugang zu unserer eigenen Wirklichkeit versperren, zu unseren Mythen, zu unserer Geschichte, zu unserer Identität, zu unserem Geheimnis. Dann lähmen sie uns. Es gibt allerdings Leute, die halten uns schon jetzt für Krüppel, für blind und lahm. Was wir denen antworten sollen, das müssen wir nun entscheiden.
Curzio Malaparte: Die Haut
Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig
Zsolnay Verlag, Wien, 2006