Was politisches Versagen anrichten kann, ist ein großes Thema dieses Jahres. Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, weil die Politiker in den Hauptstädten Europas nicht in der Lage waren, die Krise des Sommers 1914 diplomatisch zu lösen. Was folgte, war das „Jahrhundert der Extreme“, wie Historiker heute das 20. Jahrhundert nennen: der Absturz in Krieg und Barbarei, das Ringen zwischen Diktatur und Demokratie.
„Der Wintertag dämmert schon, der Lärm auf dem Platz ist ohrenbetäubend, es ist der verkehrsreichste Platz Europas, und auf ihm kreuzen sich vor aller Augen nicht nur die zentralen Verkehrsadern der Stadt, sondern auch die Linien der Tradition und der Moderne: Wer aus der U-Bahn hinaufkommt in den Schneematsch des Tages, der sieht oben noch Pferdefuhrwerke, die Fässer transportieren, direkt daneben die ersten noblen Automobile und die Droschken, die den Pferdeäpfeln auszuweichen versuchen. Mehrere Trambahnen ziehen gleichzeitig über den großen Platz, ein schleifendes, metallisches Ziehen erfüllt den weiten Raum, wenn sie sich in die Kurve legen.“ (Florian Illies, 1913, S,. 19)
Propaganda für den Krieg. In einem Hörbild aus dem Jahr 1915 wird die Mobilmachung des Sommers 1914 inszeniert: Kriegsbegeisterung und Entschlossenheit zum Kampf. Die reale Kriegsbegeisterung dokumentiert ein Zitat von Stefan Zweig. DRA, 2´39
Berlin, Potsdamer Platz, ein Januartag 1913, wie ihn Florian Illies in seinem Bestseller „1913“ beschreibt. Ein Jahr vor dem Startschuss in das kurze Jahrhundert der Extreme vermittelt der Blick auf den Potsdamer Platz in Berlin eine Ahnung von der Zeitenwende. Die Vorstellungswelt aber ist noch auf das beschränkt, was man kennt. Das wird das Verhängnis dieses Jahrhunderts sein, das Verhängnis des Jahres 1914.
Deutsche Truppen werden während des ersten Weltkriegs auf dem Weg zur Front von der begeisterten Bevölkerung gefeiert.© picture alliance / dpa
„Hochverehrte Anwesende!“
31. Dezember 1900 in Petershain in Sachsen. Bei einer privaten Feier spricht ein Mann namens Adolf Rechenberg den Silvestergruß in den Trichter eines Edison-Apparates.
„Nun aber, ... wir blicken dem (ersten) Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts vertrauensvoll entgegen. Grüßen wir es mit dreifachem Hurra! Das Neue Jahr: Hurra! Hurra! Hurra!“
Ein „Elektrizitätspalast“ verkörpert auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 die Aussicht auf eine strahlende Zukunft. Europa feiert in Paris den Anbruch der neuen Zeit.
„Europa war der Mittelpunkt der Welt. Wissenschaftliche und technische Neuerungen traten von Europa, teilweise auch schon von den aufstrebenden USA aus ihren Siegeszug um die Welt an: Auto und Flugzeug, Telefon und Film, neuartige Arzneimittel, Kunstdünger, künstliche Farbstoffe. Nie zuvor waren die Europäer einem so schnellen Wandel in allen Lebensbereichen ausgesetzt gewesen.“ (Frédéric Delouche (Hg.), Das europäische Geschichtsbuch, Bonn 2011, S. 344f)
Jahrhundert faszinierender neuer Möglichkeiten
Ein vordergründiger Blick auf die Welt um 1900 bietet die Aussicht auf ein Jahrhundert faszinierender neuer Möglichkeiten. Aber – es ist eben auch ein Jahrhundert, das vom Beginn an aufgeladen ist wie keines zuvor.
Paris, 29. Mai 1913, Théâtre des Champs-Élysées.
„Etwas nie Gesehenes, Packendes, Überzeugendes ist plötzlich da; eine neue Art von Wildheit in Unkunst und zugleich in Kunst: alle Form verwüstet, neue plötzlich aus dem Chaos auftauchend.“ (Florian Illies, 1913, S. 148)
Schreibt Harry Graf Kessler in sein Tagebuch. Igor Strawinsky, „Le sacre du printemps“: ein Ballett, in dem ein Menschenopfer zur Weihe des Frühlings inszeniert wird, ein Werk wie eine düstere Prophezeiung für das Jahrhundert der Extreme, mit einer unerhörten Vorherrschaft von Dissonanzen, Tänzern, die sich auf der Bühne ineinander verknäueln, in einem Rausch ekstatischer Bewegungen: Paris 1913 – die Moderne ist kein strahlender Elektrizitätspalast auf der Weltausstellung, sondern beängstigender Lärm auf einer der großen Bühnen Europas.
Im selben Jahr, 1913, stirbt August Bebel, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die inzwischen die stärkste Fraktion im Reichstag stellt. Er war einer der wenigen Politiker, die vorausgesehen haben, wie sich die Spannung entladen könnte, die im beginnenden 20. Jahrhundert in der Luft liegt. Im November 1911 sagte er im Deutschen Reichstag:
„So wird man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten … bis zu dem Punkte, dass der eine oder andere Teil eines Tages sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken.“ (Gerd Krumeich, Das Nahen des Weltkriegs, in: Der Erste Weltkrieg, Damals-WBG Sonderband 2013, Darmstadt 2013)
Rasender Fortschritt – nervöse Spannung
Bebels Prophezeiung löst bei seinen Gegnern Empörung aus. Aber – Europa hat in diesem Jahrhundert zwei große politische Herausforderungen zu bewältigen. Die erste ist leicht zu erkennen. Wie regeln die großen Mächte und die kleinen Völker ihre Beziehungen untereinander? Wie regeln sie ihre Interessenunterschiede und Konflikte? Das Vereinigte Königreich, Frankreich, Russland, das deutsche Kaiserreich und die österreichisch-ungarische Donaumonarchie: fünf Großmächte, fünf Rivalen, die weltweit um Herrschafts- und Interessensphären kämpfen, und im Südosten Europas das Osmanische Reich im Niedergang, das Beutefantasien weckt. Und, noch unter dem staatlichen Dach der Großmächte, eine Vielzahl von Völkern, die nach staatlicher Unabhängigkeit streben. Europa, der Kontinent des rasenden Fortschritts, ist erfüllt von nervöser Spannung.
Das ist die eine Herausforderung. Die andere ist weniger offensichtlich, für Europa im 20. Jahrhundert jedoch eine Schicksalsfrage: Was passiert, wenn die Herrscher nicht mehr von Gottes Gnaden regieren, wenn die Jahrhunderte alte Idee der monarchischen Herrschaft nicht mehr trägt? Wie gehen die europäischen Gesellschaften mit dem Verlust der scheinbar naturgegebenen politischen Ordnung um? Großbritannien hat das Problem elegant gelöst, Königtum und Demokratie miteinander verbunden, Frankreich nach 1789 hingegen vorgeführt, wie groß die Leere ist, die ein verwaister Thron hinterlässt. In Moskau, Berlin und Wien regieren noch Kaiser und Könige.
Rede des deutschen Kaisers Wilhelm II vor dem Stadtschloss in Berlin am 1.8.1914.© picture alliance / dpa
Aufruf Kaiser Wilhelms II. zum Krieg. Seit Tagen rollen die Züge mit den kampfbereiten Truppen an die Front. Am 1. August hat der Kaiser der Hurra rufenden Menge am Berliner Schloss die erste Kriegserklärung verkündet: Deutschlands an Russland. Fast täglich folgt eine Kriegserklärung nach der anderen – als ob Europa diesen Krieg sehnsüchtig erwartet hätte.
Einen zwingenden Grund für den Krieg der Großmächte gab es nicht: Das belegen die neuesten Untersuchungen des Historikers Christopher Clark und des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler zur Entstehungsgeschichte dieses Krieges. In den Jahren zuvor waren gefährliche Krisen diplomatisch beigelegt worden. Die Krise, die die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers durch serbische Terroristen 1914 auslöst, hätte genauso gut diplomatisch beigelegt werden können.
Als in letzter Minute doch noch eine diplomatische Lösung möglich scheint, erklärt Generalstabschef Helmuth von Moltke dem Kaiser, dass die Zugfahrpläne, um die Soldatenmassen an die Front zu bringen, minutengenau aufeinander abgestimmt seien und nicht durcheinander gebracht werden dürften. So lässt sich im Juli 1914 die Politik in Berlin durch die Militärs mit ihrer Logistik und ihren strategischen Planungen entmachten.
"Wie ein Mann hat sich Deutschland erhoben und freudig ziehen die Söhne unseres Volkes hinaus. Um in blutigen Schlachten deutsche Ehre und deutsches Eigentum zu schützen. Wir müssen siegen, denn wir kämpfen für eine gerechte Sache. Die besten Segenswünsche begleiten unser geliebtes Regiment und wir alle wünschen in dieser weihevollen Abschiedsstunde ein frohes Wiedersehen nach siegreichem Kampf. Wir aber wollen einstimmen in den Ruf: unser geliebtes Regiment: hurra! Hurra! Hurra!“
Kriegsbegeisterung breitet sich aus – als ob die bösen Geister der Moderne durch das reinigende Gewitter eines Krieges vertrieben werden müssten.
„Als sittliche Wesen hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgendeine Weise ersehnt; hatten in tiefstem Herzen gefühlt, dass es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht weitergeht.“ (Thomas Mann zitiert nach: Münkler, Der große Krieg, S. 237)
Schreibt der Schriftsteller Thomas Mann im Herbst 1914 in seinen „Gedanken im Kriege“. Der Bildhauer und Autor Ernst Barlach empfindet das Kriegsopfer wie eine Erlösung, der Maler Franz Marc preist das Blutopfer und meldet sich freiwillig an die Front.
Mit Begeisterung in die Menschenschlächterei
„Heil dem Kriege, der uns den inneren Frieden, den sozialen Frieden gebracht hat“,
heißt es in einer Kriegspredigt. Der Erste Weltkrieg, „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie der US-amerikanische Diplomat George F. Kennan ihn genannt hat, ist von vielen Intellektuellen begeistert begrüßt worden. Sie ignorieren, was Bebel prophezeite und was bald böse Realität wird: Mit den modernen Waffen wird dieser Krieg zu einer historisch beispiellosen Menschenschlächterei. Weihnachten 1914, war die Erwartung, werde er vorbei sein. Man hätte ihn tatsächlich Weihnachten 1914 beenden können: Die Angriffsstrategien waren gescheitert, die Fronten erstarrt, Entscheidungsschlachten kaum mehr möglich. Aber wie will man die Opfer rechtfertigen, wenn man die Sache einfach abbricht? Zur finsteren Logik dieses Krieges gehört, dass er sinnlos weitergeführt und bis zur Neige ausgefochten wird. Alle Krieg führenden Parteien sind so sehr in der Spirale der Gewalt gefangen, dass sie ihr nicht mehr entkommen.
1918, als Deutschland und Österreich-Ungarn die Waffen strecken müssen, ist nichts gewonnen. Europa steht vor denselben politischen Herausforderungen wie 1914.
Eine Gruppe gefangener deutscher Soldaten.© picture alliance / dpa
Wie regeln die großen Mächte und die kleinen Völker ihre Beziehungen untereinander? Wie regeln sie ihre Interessenunterschiede und Konflikte?
Der Vertrag von Versailles soll Deutschlands Machtallüren beschneiden, Großbritanniens und Frankreichs Vormachtposition sichern. Nach dem Untergang des Osmanischen, des Habsburger und des russischen Zaren-Reiches entstehen neue Staaten im Osten und Südosten Europas. Die Ordnung erweist sich jedoch als schwach und instabil.
Zugleich ist die andere der beiden großen Fragen auf die Tagesordnung der europäischen Politik gerückt:
„Es lebe die deutsche Republik!“
Was passiert, wenn die Herrscher nicht mehr von Gottes Gnaden regieren, wenn die Jahrhunderte alte Idee der monarchischen Herrschaft nicht mehr trägt?
„Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre! Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende, das Morden ist vorbei. Die Folgen des Krieges, Not und Elend, werden noch viele Jahre auf uns lasten.“
Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 das Ende der Monarchie in Deutschland verkündet, scheint der Traum der Revolutionäre von 1848 in Erfüllung zu gehen.
„Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!“
9. November 1918. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft in einem Fenster des Berliner Reichstages die Republik aus.
DRA, 2´12
Wenn die Fürsten entmachtet werden, schlägt die Stunde der Demokratie: Das war die Hoffnung von 1848, die Hoffnung des aufgeklärten Europa. Aber 1918/19 erweist sich die Geburt der Demokratie aus dem Krieg als Fehlgeburt, nicht nur in Deutschland. In seiner „Geschichte des Westens“ schreibt Heinrich August Winkler über das Schicksal der 1919/20 neu gegründeten Staaten:
„[Sie] waren zunächst alle, zumindest auf dem Papier, demokratisch verfasst. Aber nur zwei, die Tschechoslowakei und Finnland, konnten ihr demokratisches System über die Krisen des ersten Nachkriegsjahrzehnts hinweg bewahren. Alle anderen gingen früher oder später zu mehr oder minder autoritären Regierungsformen über.“ (Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, München 2011, S. 332)
Wie Deutschland in der extremen Form 1933.
Der Erste Weltkrieg hat keine Probleme gelöst, neue geschaffen und, vor allem: Ungeheuer geboren. Hitler. Und vor ihm: Lenin, mit Stalin im Gefolge. Eine Kriegslist der deutschen Obersten Heeresleitung und ihres Generals Ludendorff. Lenin aus der Schweiz nach Russland fahren, um den Kriegsgegner zu schwächen – zu dem Preis, dass der gemäßigten Revolution der bolschewistische Putsch folgt, der Aufbau der totalitären Herrschaft. 1917 beginnt das „Zeitalter der Extreme“, wie der Historiker Eric Hobsbawm es genannt hat.
"Zum ersten Mal in der Welt ist die Staatsmacht bei uns in Russland so organisiert, dass nur die Arbeiter, nur die werktätigen Bauern, unter Ausschluss der Ausbeuter, Massenorganisationen bilden, die Sowjets, und diesen Sowjets ist die gesamte Staatsmacht übertragen. Die Sowjetmacht ist der siegbringende Weg zum Sozialismus.“
Lenin 1919. Als er 1924 stirbt, macht Stalin aus ihm eine Heiligenfigur des Kommunismus und beschert der Welt eine Antwort auf die Frage, wer oder was an die Stelle treten kann, wenn die Jahrhunderte alte monarchische Herrschaft von Gottes Gnaden beseitigt worden ist. Mit der Sakralisierung der revolutionären Lehren Lenins erschafft er das Gottesgnadentum des säkularen 20. Jahrhunderts. Der Parteiführer ist der Hohe Priester der rechten Lehre. Stalin 1936. Kein mitreißender Redner.
Die Herrschaft legitimiert sich nicht durch das Volk, sondern durch die Lehre, und die herrscherliche Gewalt ist schrankenlos, absoluter als die der absolutistischen Könige des frühneuzeitlichen Europa.
Damit ist das Drama des 20. Jahrhunderts fast schon skizziert: Der große Krieg als Konsequenz aus der Unfähigkeit der europäischen Machthaber, Mechanismen zur friedlichen Regelung von Konflikten zu entwickeln. Und eine neue Form absoluter Herrschaft im Gewande marxistischer Teleologie aus dem 19. Jahrhundert. Es fehlt noch die andere, die charismatische Variante dieser Herrschaftsform des 20. Jahrhunderts.
Benito Mussolini rühmt 1932, zehn Jahre nach seinem Marsch auf Rom, den Faschismus in Italien. Auch eine Folge des Ersten Weltkrieges. Wie Hitler in Deutschland, wo weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft nach 1918 ein Problem damit haben, dass nicht mehr der Kaiser an der Spitze ihres Staates steht. Ein Reichstagswahlkampf 1928.
Benito Mussolini 1932 in Turin: eine Rede vor Anhängern des Duce über den siegreichen Faschismus in Italien zehn Jahre nach der Machteroberung durch den „Marsch auf Rom“. DRA, 1´19
Obervohren: „Pflichterfüllung am monarchischen Gedanken ist edelster Dienst am Volke.“
Behm: „Immer mehr wird die gemeinsame Erinnerung auferstehen an alles, was deutsche Helden in der Verteidigung des Vaterlandes geleistet haben. Immer stärker wird die Sehnsucht nach Gemeinschaft erwachen und immer gewaltiger die Einigkeit im Glauben und im Deutschbewusstsein werden. (DNVP-Wahlwerbung)
In der großen Krise nach 1929 ist die Sehnsucht nach einem neuen Kaiser in Gestalt des Führers größer als die Furcht vor dem Risiko, das der Verlust der Demokratie bedeutet. Hitler.
"Die Gegner werfen uns Nationalsozialisten vor, und mir insbesonders, dass wir intolerante, unverträgliche Menschen seien. Ich habe hier nur eines zu erklären: Die Herren haben ganz recht! Wir sind intolerant!“
„Befreiung von der Demokratie“
Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, welche Begeisterung dieser Mann in Deutschland entfacht, als er 1933 die Macht erobert hat. Für den 1999 verstorbenen Publizisten Sebastian Haffner liegt der Schlüssel zur Erklärung im August 1914, als die Nation plötzlich das Gefühl hatte, eine verschworene Gemeinschaft zu sein:
„Den wollüstigen Einheitsrausch der Augusttage, für viele die begeisterndste Erinnerung ihres Lebens … 1914, ja, das sollte wiederkommen, aber 1914 ohne die feinen und schlappen Regierungen von damals! Was man wollte, worauf man gierig wartete, das war ‚der Mann‘, der gottgesandte Wundertäter mit Schwert und Zuchtrute.“ (Sebastian Haffner, Zwischen den Kriegen, Berlin 1997, S. 36)
„Es war – man kann es nicht anders nennen – ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ (Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler, München 1987, S. 237)
SA-Einheiten marschieren am 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor in Berlin, nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war.© AP Archiv
1914 der Marsch in den Krieg, 1933 die Machtübergabe an Hitler: Beide Male werden komplexe politische Probleme mit einem Befreiungsschlag gelöst. 1914 die Spannungen der Großmächte untereinander und die Nationalitätenkonflikte auf dem Balkan. 1933 die Überwindung der Wirtschaftskrise und der Lasten des Versailler Vertrages, der materiellen wie auch der psychologischen. In beiden Fällen folgt der Befriedigung des Augenblicks die Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes.
Die Nationalsozialisten an der Macht
Adolf Hitler über die Ausschaltung politischer Gegner 1933. Und ein denkwürdiges Rundfunkdokument: Ein Reporter berichtet von Festnahmen bei einer Razzia. DRA, 2´48
Hitler und ein überlebendes Mädchen aus einem KZ:
„Wir haben ein Ziel uns gesetzt und verfechten es fanatisch, rücksichtslos, bis ins Grab hinein!“
„Wie lange bist Du in Deutschland gewesen?“
„Und bist Du die ganze Zeit in Konzentrationslagern gewesen?“
„Und welches war das schlechteste?“
„Und warum war das so schlecht?“
„Man hat dort verbrannt viele Leute.“
Wer hätte sich diese Höllenfinsternis vorstellen können, als auf der Pariser Weltausstellung 1900 die Lichter im „Elektrizitätspalast“ erstrahlten? 14 Jahre später gingen in Europa die Lichter aus, wie der britische Außenminister Edward Grey beim Kriegsausbruch sagte – mit dem Zusatz:
„Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder angezündet werden.“
1945 wird ein erstes Licht angezündet, in Nürnberg. Keine Massenerschießung der Kriegsverbrecher des unterlegenen Deutschland, wie Stalin gefordert hatte, sondern auf Betreiben der neuen Supermacht USA ein internationaler Gerichtshof: der erste Schritt auf dem langen Weg, Rechtsstaatlichkeit in den internationalen Beziehungen durchzusetzen.
Prozessauftakt in Nürnberg 1945:
„I will now call upon the defendance to plead guilty or not guilty to the charges against them.“ Hermann Wilhelm Göring: „Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig.“
Nürnberg setzt Maßstäbe, bleibt aber für lange Zeit Episode: Denn die Folgen des Ersten Weltkrieges sind noch lange nicht überwunden, im Gegenteil: Faschismus und Nationalsozialismus sind zwar besiegt, der Stalinismus aber wird Weltmacht, die Sowjetunion dringt tief nach Europa vor. Demokratie nach US-amerikanischem Vorbild oder sowjetische Diktatur: Deutschland, Europa und die Welt sind in zwei Lager geteilt.
Adenauer: „Bis zur Stunde sind auch 17 Millionen Deutsche in diesen totalitären Machtblock eingespannt. "
Ulbricht: „Wir stehen in der vordersten Front des sozialistischen Lagers an der offenen Hauptkampflinie zwischen den zwei Weltsystemen in Europa. Auf deutschem Boden stehen sich Sozialismus und Kapitalismus gegenüber.“
Demokratie im Westen, Diktatur im Osten
Sommer 1949: Nach der Verabschiedung der Verfassung beginnt mit dem Bundestagswahlkampf das politische Leben in der neu gegründeten Bundesrepublik. In Ost-Berlin verliest Wilhelm Pieck, der erste Staatspräsident, im Oktober 1949 ein Manifest zur Gründung der DDR. DRA, 2´52
Konrad Adenauer 1956, Walter Ulbricht 1958. Im Kalten Krieg sind die Konfliktlinien, verglichen mit 1914, einfach, aber die Gefahr des ganz großen, alles zerstörenden dritten Weltkrieges nicht gebannt. 1950 Korea, 1962 Kuba, in den 80er-Jahren die Raketen-Rüstung in Europa: unerträgliche Spannung wie im Sommer 1914 gibt es mehrfach in den Jahrzehnten des Kalten Krieges. Nach 1914/18, 39/45, Hiroshima und Nagasaki weiß man allerdings, was auf dem Spiel steht.
Wahrscheinlich ist das der entscheidende Grund, warum die verantwortlichen Politiker selbst die gefährlichste Krise, Kuba 1962, meistern. Und damit jene friedliche Entwicklung möglich machen, die sich schon um 1900 angebahnt hatte …
Der Wohlstand wächst, der Kalte Krieg ist nicht nur ein Rüstungswettlauf, sondern zunehmend auch ein Wettstreit der Systeme um die bessere Versorgung der Bevölkerung. Walter Ulbricht 1958:
„Es ist durchaus möglich, dass die Lebenshaltung in der Deutschen Demokratischen Republik die Lebenshaltung in Westdeutschland schon 1961 übertrifft.“
Der wachsende Wohlstand verändert die westlichen Demokratien. Das Volk als potenzieller Kampfverband verwandelt sich in eine zunehmend differenzierte Gesellschaft, deren Bürgerinnen und Bürger selbstbewusster gegenüber dem Staat auftreten, eigene Interessen vertreten, mehr Mitspracherechte reklamieren. Die Liberalisierungsprozesse und die Studentenbewegung der 60er Jahre sind der Auftakt. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt bringt in seiner Regierungserklärung 1969 die Erwartung der Bürger auf den Begriff:
"Wir wollen mehr Demokratie wagen!“
Mit der Entspannungspolitik dringt der Bazillus wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins gegenüber dem Staat auch in die Diktaturen des Ostblocks ein. Diesen zivilen Wettkampf der Systeme gewinnen die westlichen Demokratien. 75 Jahre, nachdem Edward Grey in London feststellte, dass in Europa die Lichter ausgehen, ziehen Massen von Demonstranten in der DDR mit brennenden Kerzen durch die Straßen und bezwingen die poststalinistische Diktatur, die säkulare Form der Gottesgnadenherrschaft.
Die Kerzen 1989 – Sinnbild für die politische Finsternis, die im Gefolge des Kriegsausbruches 1914 über weite Teile Europas hereingebrochen ist. Und Symbol für den Aufbruch in eine neue Zeit – welch ein Kontrast zum Elektrizitätspalast in Paris, der 1900 eine strahlende Zukunft verhieß.
Friedliche Revolutionen
Polen ist der Vorreiter der Demokratiebewegungen im Ostblock. Im September 1989 sendet der RIAS ein Interview mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarność, Lech Walesa, über den Reformprozess in Polen nach den ersten teilweise freien Wahlen. Deutschlandradio-Archiv, 2´42
Die Geschichte wiederholt sich
1914, 1989. Das kurze 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Extreme, ist vorbei. Was folgt? Kriege auf dem Balkan.
„Sofort zeichneten sich ... die innereuropäischen Konfliktlinien von 1914 ab“,
schreibt Herfried Münkler in seinem Buch „Der Große Krieg“. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber in gewisser Weise stehen die Europäer wieder am Anfang, wie vor 100 Jahren. Die Konflikte auf dem Balkan sind noch lange nicht gelöst . Und die internationale Politik ist nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes wieder komplex und unübersichtlich geworden. Natürlich haben sich nach den Erfahrungen zweier Weltkriege die Voraussetzungen geändert, aber das große Interesse an der Katastrophe von 1914 hat nicht nur mit dem 100. Jahrestag zu tun, sondern auch mit dem Gespür dafür, dass das Geschehen von damals viel mehr mit dem Heute zu tun als bisher wahrgenommen. Eine stabile Friedensordnung bleibt trotz der Kriegserfahrungen eine große Herausforderung. Der Rahmen dafür ist geschaffen – mit der Europäischen Union und ihrer Osterweiterung 2004.
Ein Rumäne hängt eine EU-Flagge neben eine Rumänien-Fahne: Rumänien tritt am 1. Januar 2007 der EU bei.© AP
„Heute Abend entsteht das neue Europa, heute Abend entsteht ein Raum des Friedens, heute Abend entsteht etwas, was von beiden Seiten gewollt wurde, heute Abend entsteht ein Europa, das die Zukunft für uns alle bedeutet und deswegen möchte ich Euch zurufen, lasst uns das heute hier gemeinsam feiern.“
Außenminister Fischer zur EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 in Frankfurt/Oder. Zehn Jahre nach der Ost-Erweiterung ist die Zukunft der Europäischen Union ungewisser denn je. Die Euro-Krise hat das Vertrauen der Menschen in die Kraft der EU, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, erschüttert. Wird die EU das überleben? Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Frage, wie die europäischen Staaten ihre Interessenunterschiede und Konflikte untereinander regeln, noch einmal neu stellt.
Europäischer Neuanfang
1. Mai 2004: Europa feiert den Beitritt von zehn ostmitteleuropäischen Staaten zur EU. Die Freude kommt in Korrespondentenberichten und politischen Reden zum Ausdruck. Deutschlandradio-Archiv, 2´40
Die berühmt-berüchtigten Brüsseler Verhandlungsrunden sind der große Fortschritt, den Europa im letzten halben Jahrhundert erreicht hat: die konsequente Kompromisssuche auch auf Kosten der Nachtruhe. Wenn die Korrespondenten aus Brüssel berichten, dass wieder eine lange Verhandlungsnacht bevorstehe, dann ist das eine gute Nachricht. Europa kann seine Probleme nur am Verhandlungstisch lösen, und nur, wenn alle etwas zu sagen haben, auch die kleinen Staaten. Das ist die Lehre von 1914, die europäische Demokratie, die Frieden schafft.
Ausstellung „Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme“© Bundesstiftung Aufarbeitung