Europa muss "zum Trittbrettfahrer einer demokratisierenden Entwicklung werden"
Der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez hat von der Bundesregierung und anderen europäischen Regierungen ein klares Bekenntnis zur Demokratiebewegung in Ägypten gefordert. Die eher "lauwarmen Reaktionen" der westlichen Länder seien eine Enttäuschung für die Gegner Mubaraks.
Marietta Schwarz: Wieder sind gestern Hunderttausende Menschen in Ägypten auf die Straße gegangen, um das Ende des Mubarak-Regimes öffentlich zu fordern. Der ägyptische Präsident hat zwar angekündigt, im Herbst nicht mehr zu kandidieren, doch das reicht dem Volk nicht. Ein Umsturz scheint unabwendbar, und die Protestler haben sich auch ein zeitliches Ziel gesetzt: Diesen Freitag schon soll es vorbei sein mit der Ära Mubarak. Die EU tut sich mit einer klaren Position zu den Umwälzungen schwer, hat der seit 30 Jahren regierende ägyptische Präsident doch auch für Stabilität im Nahen Osten gesorgt. Am Telefon ist der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez, Lehrstuhlinhaber der Universität Erfurt, und er ist am Wochenende erst aus Kairo zurückgekehrt. Guten Morgen, Herr Hafez!
Kai Hafez: Schönen guten Morgen!
Schwarz: Bundeskanzlerin Merkel hat sich gestern in Israel auch sehr vage zu Ägypten geäußert. Müssten da nicht klarere Worte etwa zum Rücktritt des Präsidenten aus der Bundesrepublik fallen?
Hafez: Ja, ich höre im Grunde keine besonders klaren Worte von der Kanzlerin. Sie spricht von Reformen, sie ermahnt die Regierung, keine Gewalt anzuwenden et cetera, das ist noch kein klares Bekenntnis zu der neuen demokratischen Bewegung. Dabei ist die Stabilität, die Mubarak scheinbar garantiert hatte über die Jahre, doch eigentlich mittlerweile porös geworden. Er kann keine Stabilität mehr garantieren. Insofern ist jetzt zumindest der Zeitpunkt, sich hinter diese neue demokratische Bewegung zu stellen, sie zu fördern, und nicht den Eindruck entstehen zu lassen in der arabischen Welt, Europa sei nicht auf der Seite dieses neuen politischen Aufbruchs. Das wäre ein denkbar schlechter Anfang.
Schwarz: Die USA sind da offenbar schon ein bisschen weiter, da werden Telefongespräche mit Mubarak und El Baradei geführt. Können sich die Vereinigten Staaten mehr trauen als Deutschland und die EU?
Hafez: Ja, das ist anzunehmen, dass man dort zumindest die Zeichen der Zeit erkannt hat. Mubarak ist nicht mehr der Partner, der er in der Vergangenheit für die Außenpolitik war. Ich denke, dass Obama nun erkannt hat, dass es darum geht, sich von vorneherein sozusagen als Freund und Partner dieser neuen demokratischen Bewegung dort zu zeigen. Man will sie unterstützen, sollte sie auch unterstützen, möglicherweise noch etwas deutlicher als das bisher geschehen ist, denn die Enttäuschung, so höre ich auch von vielen Freunden in Ägypten, ist doch schon sehr fortgeschritten. Man hält im Grunde Obamas Reaktion bisher für relativ lauwarm, zumindest gab es gestern aber wohl die ersten Kontakte der amerikanischen Botschafterin mit den neuen demokratischen Kräften, auch mit Baradei scheint man in engem Kontakt zu stehen. Also hier geht es zumindest langsam voran. Wir müssen uns im Westen von dieser alten Unterstützung der Diktatoren verabschieden. Die Idee, dass Diktatur Sicherheit und Stabilität auch für westliche Außenpolitik garantiert, ist, glaube ich, obsolet geworden, und wir müssen uns frühzeitig auch als Freunde dieses Demokratisierungsprozesses einbringen, Hilfe anbieten. Ich denke da etwa an die Abhaltung von Wahlen, an die Ausrichtung einer oder an die Konzipierung einer neuen zumindest interimistischen Verfassung, die nun bald in Angriff genommen werden müsste, die hoffentlich einen säkular demokratischen Rahmen haben sollte. In all diesen Feldern, auch im Bereich der Wahlbeobachtung, kann der Westen, können die USA und kann Europa helfen. Natürlich: Auch die finanzpolitische Unterstützung für eine neue Regierung ist wichtig zu signalisieren. Hier sollte man sozusagen im positiven Sinne zum Trittbrettfahrer einer demokratisierenden Entwicklung werden und auf den fahrenden Zug aufspringen. Ich denke, das ist alternativlos im Moment, und in den USA scheint man das nun auch endlich erkannt zu haben.
Schwarz: Grund für diese Zurückhaltung ist sicherlich die Angst vor dem, was danach kommt, die Angst auch vor der Muslimbruderschaft, die möglicherweise die Macht in Ägypten an sich reißen könnte. Frage aber: Ist diese Befürchtung überhaupt berechtigt? Ist es nicht vielleicht auch ein Schwarz-Weiß-Bild des Islam, das da im Westen gezeichnet wird?
Hafez: Also mit Sicherheit ist das zu einfach. Die Muslimbruderschaft hat sich in Teilen in den letzten Jahrzehnten eigentlich immer wieder in die Richtung geäußert, dass Demokratie mit ihr machbar sei. Ich denke, der Parlamentarismus, freie Wahlen sind weitestgehend unproblematisch. Etwas schwieriger ist die Anerkennung von Säkularismus, also der gleichen Teilhabe aller religiösen Gruppen, aller Geschlechter am Gesellschaftsleben. Da wird man sicherlich verhandeln müssen. Aber die Ausgangsbedingung in Ägypten ist eine ganz andere als vor 30 Jahren im Iran: Die Muslimbrüder verfügen über keine charismatische Figur wie damals Chomeini, der sozusagen vom gesamten Volk getragen wird. Ägypten selbst ist in einer wirtschaftlich anderen Ausgangssituation, Ägypten ist kein Erdölstaat wie der Iran, das heißt, es kann sich auch sozusagen überhaupt nicht leisten, sich völlig vom Westen loszulösen. Ägypten braucht den Westen, braucht den Tourismus, braucht die Wirtschaftshilfe, braucht den engen Kontakt zum Westen. Und schließlich denke ich auch, dass die Islamisten sozusagen, sollten sie es überhaupt versuchen, eine neue islamistische Diktatur zu errichten, überhaupt keine wirtschaftspolitischen Alternativen zu bieten hätten, die, denke ich auch, an der Wurzel des jetzigen Aufstandes mit zu finden sind. Also es gibt eine Reihe von Gründen, warum ich im Grunde im Moment nicht befürchte, dass die Islamisten dort eine völlige Dominanz entwickeln. Sie sind Teil einer größeren Bewegung, sie werden sich zu einer regulären politischen Partei umwandeln, sie waren ja auch bis jetzt schon in diesem Scheinparlament in Ägypten vertreten. Es wird auch übrigens, denke ich, neue islamische Parteien geben. Wir hatten in der Vergangenheit eine Wasat-Partei, eine liberalere, noch weitaus liberalere islamische Partei, die systematisch von der Regierung Mubaraks verfolgt und verboten worden ist, denn Mubarak hatte vor nichts mehr Angst als vor einem liberalen Islam. Das hätte ihm im Grunde das Argument weggenommen, dass der Islamismus der Garant seiner eigenen Machterhaltung war und ist, und ich denke, diese Entwicklung kann man in Ruhe und mit Gelassenheit sehen. Man muss auch erkennen, dass es immer schon Beziehungen gab auch der Amerikaner zu den Muslimbrüdern. Es hat immer schon Besuche von Kongressabgeordneten bei den Muslimbrüdern gegeben. Also so ganz bei Null fängt man nicht an. Man kann jetzt auf gewisse, der Öffentlichkeit häufig gar nicht so bekannte Kanäle auch zurückgreifen.
Schwarz: Herr Hafez, vielleicht noch ganz kurz: Wie sieht denn das Positiv-Szenario nach dem Ende Mubaraks aus israelischer Perspektive aus?
Hafez: Na, ich denke, die israelische Regierung muss nun ganz schnell erkennen, dass es überhaupt nicht ratsam ist, weltweit sozusagen als einzige Kraft gegen diese Demokratisierungsbewegung sich zu stellen, das Mubarak-Regime noch als Letzte zu unterstützen. Es wäre ein denkbar schlechter Anfang auch für Israel in den Beziehungen zu dem neuen Ägypten und zu den neuen arabischen Staaten. Es ist ja auch gar nicht einsehbar, warum Israel über Jahrzehnte immer behauptet, es sei das einzige demokratische Land und deswegen von autoritären Regierungen bedroht, und nun, wo es sozusagen eine demokratische Bewegung in den arabischen Ländern gibt, diese nicht auch positiv begrüßt. Das ist sozusagen ein Widerspruch in sich selbst. Wir wissen historisch, dass demokratische Staaten am wenigsten geneigt sind, untereinander Kriege zu begehen. Im Grunde sehe ich es so, dass die Demokratisierung der arabischen Welt auch die Gefahr für Israel, die Gefahr neuer Kriege im Grunde verringern würde. Das sollte man erkennen, und ich erwarte im Grunde auch in nächster Zeit gewisse Solidaritätsbekundungen aus Israel Richtung dieser neuen Demokratisierungsbewegung, zumindest das linke Lager in Israel sollte dazu in der Lage sein.
Schwarz: Der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez war das zu den Entwicklungen in Ägypten. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kai Hafez: Schönen guten Morgen!
Schwarz: Bundeskanzlerin Merkel hat sich gestern in Israel auch sehr vage zu Ägypten geäußert. Müssten da nicht klarere Worte etwa zum Rücktritt des Präsidenten aus der Bundesrepublik fallen?
Hafez: Ja, ich höre im Grunde keine besonders klaren Worte von der Kanzlerin. Sie spricht von Reformen, sie ermahnt die Regierung, keine Gewalt anzuwenden et cetera, das ist noch kein klares Bekenntnis zu der neuen demokratischen Bewegung. Dabei ist die Stabilität, die Mubarak scheinbar garantiert hatte über die Jahre, doch eigentlich mittlerweile porös geworden. Er kann keine Stabilität mehr garantieren. Insofern ist jetzt zumindest der Zeitpunkt, sich hinter diese neue demokratische Bewegung zu stellen, sie zu fördern, und nicht den Eindruck entstehen zu lassen in der arabischen Welt, Europa sei nicht auf der Seite dieses neuen politischen Aufbruchs. Das wäre ein denkbar schlechter Anfang.
Schwarz: Die USA sind da offenbar schon ein bisschen weiter, da werden Telefongespräche mit Mubarak und El Baradei geführt. Können sich die Vereinigten Staaten mehr trauen als Deutschland und die EU?
Hafez: Ja, das ist anzunehmen, dass man dort zumindest die Zeichen der Zeit erkannt hat. Mubarak ist nicht mehr der Partner, der er in der Vergangenheit für die Außenpolitik war. Ich denke, dass Obama nun erkannt hat, dass es darum geht, sich von vorneherein sozusagen als Freund und Partner dieser neuen demokratischen Bewegung dort zu zeigen. Man will sie unterstützen, sollte sie auch unterstützen, möglicherweise noch etwas deutlicher als das bisher geschehen ist, denn die Enttäuschung, so höre ich auch von vielen Freunden in Ägypten, ist doch schon sehr fortgeschritten. Man hält im Grunde Obamas Reaktion bisher für relativ lauwarm, zumindest gab es gestern aber wohl die ersten Kontakte der amerikanischen Botschafterin mit den neuen demokratischen Kräften, auch mit Baradei scheint man in engem Kontakt zu stehen. Also hier geht es zumindest langsam voran. Wir müssen uns im Westen von dieser alten Unterstützung der Diktatoren verabschieden. Die Idee, dass Diktatur Sicherheit und Stabilität auch für westliche Außenpolitik garantiert, ist, glaube ich, obsolet geworden, und wir müssen uns frühzeitig auch als Freunde dieses Demokratisierungsprozesses einbringen, Hilfe anbieten. Ich denke da etwa an die Abhaltung von Wahlen, an die Ausrichtung einer oder an die Konzipierung einer neuen zumindest interimistischen Verfassung, die nun bald in Angriff genommen werden müsste, die hoffentlich einen säkular demokratischen Rahmen haben sollte. In all diesen Feldern, auch im Bereich der Wahlbeobachtung, kann der Westen, können die USA und kann Europa helfen. Natürlich: Auch die finanzpolitische Unterstützung für eine neue Regierung ist wichtig zu signalisieren. Hier sollte man sozusagen im positiven Sinne zum Trittbrettfahrer einer demokratisierenden Entwicklung werden und auf den fahrenden Zug aufspringen. Ich denke, das ist alternativlos im Moment, und in den USA scheint man das nun auch endlich erkannt zu haben.
Schwarz: Grund für diese Zurückhaltung ist sicherlich die Angst vor dem, was danach kommt, die Angst auch vor der Muslimbruderschaft, die möglicherweise die Macht in Ägypten an sich reißen könnte. Frage aber: Ist diese Befürchtung überhaupt berechtigt? Ist es nicht vielleicht auch ein Schwarz-Weiß-Bild des Islam, das da im Westen gezeichnet wird?
Hafez: Also mit Sicherheit ist das zu einfach. Die Muslimbruderschaft hat sich in Teilen in den letzten Jahrzehnten eigentlich immer wieder in die Richtung geäußert, dass Demokratie mit ihr machbar sei. Ich denke, der Parlamentarismus, freie Wahlen sind weitestgehend unproblematisch. Etwas schwieriger ist die Anerkennung von Säkularismus, also der gleichen Teilhabe aller religiösen Gruppen, aller Geschlechter am Gesellschaftsleben. Da wird man sicherlich verhandeln müssen. Aber die Ausgangsbedingung in Ägypten ist eine ganz andere als vor 30 Jahren im Iran: Die Muslimbrüder verfügen über keine charismatische Figur wie damals Chomeini, der sozusagen vom gesamten Volk getragen wird. Ägypten selbst ist in einer wirtschaftlich anderen Ausgangssituation, Ägypten ist kein Erdölstaat wie der Iran, das heißt, es kann sich auch sozusagen überhaupt nicht leisten, sich völlig vom Westen loszulösen. Ägypten braucht den Westen, braucht den Tourismus, braucht die Wirtschaftshilfe, braucht den engen Kontakt zum Westen. Und schließlich denke ich auch, dass die Islamisten sozusagen, sollten sie es überhaupt versuchen, eine neue islamistische Diktatur zu errichten, überhaupt keine wirtschaftspolitischen Alternativen zu bieten hätten, die, denke ich auch, an der Wurzel des jetzigen Aufstandes mit zu finden sind. Also es gibt eine Reihe von Gründen, warum ich im Grunde im Moment nicht befürchte, dass die Islamisten dort eine völlige Dominanz entwickeln. Sie sind Teil einer größeren Bewegung, sie werden sich zu einer regulären politischen Partei umwandeln, sie waren ja auch bis jetzt schon in diesem Scheinparlament in Ägypten vertreten. Es wird auch übrigens, denke ich, neue islamische Parteien geben. Wir hatten in der Vergangenheit eine Wasat-Partei, eine liberalere, noch weitaus liberalere islamische Partei, die systematisch von der Regierung Mubaraks verfolgt und verboten worden ist, denn Mubarak hatte vor nichts mehr Angst als vor einem liberalen Islam. Das hätte ihm im Grunde das Argument weggenommen, dass der Islamismus der Garant seiner eigenen Machterhaltung war und ist, und ich denke, diese Entwicklung kann man in Ruhe und mit Gelassenheit sehen. Man muss auch erkennen, dass es immer schon Beziehungen gab auch der Amerikaner zu den Muslimbrüdern. Es hat immer schon Besuche von Kongressabgeordneten bei den Muslimbrüdern gegeben. Also so ganz bei Null fängt man nicht an. Man kann jetzt auf gewisse, der Öffentlichkeit häufig gar nicht so bekannte Kanäle auch zurückgreifen.
Schwarz: Herr Hafez, vielleicht noch ganz kurz: Wie sieht denn das Positiv-Szenario nach dem Ende Mubaraks aus israelischer Perspektive aus?
Hafez: Na, ich denke, die israelische Regierung muss nun ganz schnell erkennen, dass es überhaupt nicht ratsam ist, weltweit sozusagen als einzige Kraft gegen diese Demokratisierungsbewegung sich zu stellen, das Mubarak-Regime noch als Letzte zu unterstützen. Es wäre ein denkbar schlechter Anfang auch für Israel in den Beziehungen zu dem neuen Ägypten und zu den neuen arabischen Staaten. Es ist ja auch gar nicht einsehbar, warum Israel über Jahrzehnte immer behauptet, es sei das einzige demokratische Land und deswegen von autoritären Regierungen bedroht, und nun, wo es sozusagen eine demokratische Bewegung in den arabischen Ländern gibt, diese nicht auch positiv begrüßt. Das ist sozusagen ein Widerspruch in sich selbst. Wir wissen historisch, dass demokratische Staaten am wenigsten geneigt sind, untereinander Kriege zu begehen. Im Grunde sehe ich es so, dass die Demokratisierung der arabischen Welt auch die Gefahr für Israel, die Gefahr neuer Kriege im Grunde verringern würde. Das sollte man erkennen, und ich erwarte im Grunde auch in nächster Zeit gewisse Solidaritätsbekundungen aus Israel Richtung dieser neuen Demokratisierungsbewegung, zumindest das linke Lager in Israel sollte dazu in der Lage sein.
Schwarz: Der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez war das zu den Entwicklungen in Ägypten. Ich danke Ihnen für das Gespräch!