Europa sind wir

Vorgestellt von Hans-Jürgen Fink · 20.11.2005
Der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen kennt den Brüsseler Apparat wie kaum ein zweiter deutscher Politiker. In seinem Buch "Europa in der Krise" beschäftigt er sich mit Themen wie Wachstum und Beschäftigung. Er ist davon überzeugt, dass dieses vereinigte Europa eine starke Zukunft hat.
Noch hat die neue Bundesregierung eine eigene außenpolitische Handschrift nicht zu erkennen gegeben, die neue Kanzlerin selber ist auf diesem Feld eher ein unbeschriebenes Blatt. Immerhin stellt sie sich bereits am Tag nach der Wahl in Brüssel vor, macht sie einen Abstecher zu den unmittelbaren Nachbarn in West und Ost, erst nach Paris und dann nach Polen.

Dass sie mit Christoph Heusgen den Planungschef des EU-Chefdiplomaten Solana als außenpolitischen Berater nach Berlin holt, könnte sogar darauf verweisen, dass sie das Thema Europa – zu Lasten des Außenministers - zur Chefsache zu machen gedenkt. Notwendig wäre dies allemal angesichts der tiefen Krise, in die das Europa der 25 nach den katastrophalen Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden geraten ist.

Guter Rat ist gefragt, und da kommt das Buch Günter Verheugens gerade zur rechten Zeit. Seit 1999 Mitglied der Europäischen Kommission, zuständig für die im vorigen Jahr beschlossene Ost- und Süderweiterung der Gemeinschaft, kennt er den Brüsseler Apparat, das Beziehungsgeflecht und die Politik wie kaum ein zweiter deutscher Politiker. Deshalb – oder müsste man sagen: trotzdem - und dieses Credo durchzieht das Werk von seiner ersten bis zur letzten Seite - ist er felsenfest davon überzeugt, dass dieses vereinigte Europa eine starke Zukunft hat. Mag die derzeitige Vertrauenskrise auch soweit reichen, dass sie das Prinzip und den Sinn der Integration überhaupt in Frage zu stellen scheint.

Verheugen: " Jede Krise hat Europa bisher stärker gemacht. Und es ist einfach nicht wahr, dass wir uns in einem sklerotischen Zustand befänden. Die Wahrheit ist, dass die europäische Einigung eine so starke Dynamik entwickelt hat, gerade in den letzten 10 – 15 Jahren, dass vielen schon beim bloßen Zugucken schwindelig wird."

Für Verheugen ist und bleibt die Europäische Union das wirkungsvollste Friedensprojekt in der Geschichte des alten Kontinents, und es wird aus seiner Sicht mehr und mehr zum Wohlstands- und Fortschrittsprojekt. Vorausgesetzt allerdings, dass die Europäer ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, die unausweichlichen globalen Veränderungsprozesse mit eigenen Kräften gestalten und sich dem offenen wirtschaftlichen Wettbewerb stellen.

Souverän schreitet Verheugen die einschlägigen Themenfelder ab: Wachstum und Beschäftigung, Weltmarkt und Entwicklungszusammenarbeit, Forschung und Innovation, Klima und Energie. Ebenso detailliert wie kenntnisreich erörtert er Stärken und Schwächen, Defizite und Potentiale im Europa von heute, beschreibt politische Ansätze und Investitionen, welche die Gemeinschaft voranbringen könnten.

Eine Schlüsselfrage nennt er beispielsweise die Weltraumpolitik, ein ganz neues Kind der europäischen Integration. Hier ist Europa als gemeinschaftlicher Finanzier gefordert, will es seine Präsenz, seine strategische Unabhängigkeit im Weltraum verstärken, die unverzichtbar ist für die eigene Sicherheit, für Transportsysteme, Umwelt- und Katastrophenschutz.

Im letzten Kapitel wendet sich der Autor einer Frage zu, die womöglich am Ende entscheidend ist für die künftige Existenz des Kontinents: der Demografie oder anders gesagt: der offenbar unaufhaltsamen Entwicklung, dass die Bevölkerung altert und schrumpft. Wer glaube, weniger Kinder bedeuteten weniger Arbeitslosigkeit, befinde sich in einem gefährlichen Irrtum. Zuwanderung sei allenfalls eine mittelfristige Lösung, setze aber voraus, dass Gesellschaft und Politik zunächst schwierige Integrationsprobleme lösen:

"Integration ist nicht billig. Kein Problem wird dadurch gelöst, dass man billige Arbeitskräfte nach Europa holt und sich im Übrigen nicht um sie kümmert. Die Europäer müssen überall lernen, dass sie in ihren Ländern dauerhaft mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenleben. Die europäischen Gesellschaften sind darauf nicht vorbereitet. Wenn die Politiker auf einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel warten wollen, ehe sie handeln, werden sie lange warten müssen. Die Mühe, das gesellschaftliche Bewusstsein zu verändern, muss sich die Politik schon selbst machen."

Dieses Bewusstsein aber, schreibt Verheugen an anderer Stelle, sei vielfach angstbesetzt, Angst vor Zuwanderung beispielsweise, ein Produkt vornehmlich der illegalen Zuwanderung, wie in Deutschland zu beobachten sei. Angst auch vor Produktionsverlagerung ins Ausland, Folge einer oft zügellosen Globalisierung, die bei den neuen EU-Mitgliedern aber mit deren Beitritt gestoppt worden sei: Subventionen sind dort seitdem nur in dem Maße erlaubt, wie sie in ganz Europa nach dem Beihilferecht möglich sind – ein Umstand, kritisiert Verheugen, der in der deutschen Debatte schlichtweg übersehen werde.

Wie Brüssel seiner Meinung nach überhaupt allzu oft herhalten müsse als Projektionsfläche innenpolitischer Ablenkungsmanöver, zu beobachten etwa im Zusammenhang mit der Feinstaubrichtlinie, beschlossen vom Bundestag, der EU dann aber in die Schuhe geschoben:

Verheugen: " Wir erleben immer wieder, dass die auf diese Weise erzielte Politik, wenn sie dann zuhause ankommt und auf Probleme stößt, überhaupt keinen findet, der damit zu tun gehabt hätte. Dann ist europäische Politik ein armes Waisenkind."

Brüssel als Überreglementierungs-Bürokratie, als undemokratischer Apparat, als Geldverschleuderungsmaschinerie und was dergleichen Anwürfe mehr sind – an dieser Stelle fordert der deutsche EU-Kommissar auch und gerade von den deutschen Politikern Vorbild und Zeichen gegen Diskriminierungen und Distanz. Denn – wahr ist und bleibt: Europa sind wir.

Günter Verheugen
Europa in der Krise - Für eine Neubegründung der europäischen Idee

Verlag: Kiepenheuer&Witsch