Europa und die Flüchtlingskrise

Der schmerzhafte Beginn einer Wertegemeinschaft

Eine Demonstrantin hält bei Protesten für ein Bleiberecht für Flüchtlinge ein Schild mit der Aufschrift "Mehr Utopie wagen: Eine Welt ohne Grenzen".
"Mehr Utopie wagen" - das könnte auch für die EU gelten. Alois Berger jedenfalls hält die vielen täglich ankommenden Flüchtlinge für eine große Chance. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Von Alois Berger · 29.01.2016
Ist Europa am Ende? Überall ist von den europäischen Werten die Rede, die gerade den Bach runtergingen, und dass die Europäische Union an der Flüchtlingskrise zerbrechen könnte. Für den Publizisten Alois Berger gibt es die vielbeschworene Wertegemeinschaft noch gar nicht. Aber sie könne jetzt entstehen.
In Brüssel macht sich eine Untergangsstimmung breit. Die europäischen Werte gingen gerade den Bach runter, und die Europäische Union könnte an der Flüchtlingskrise zerbrechen. Steht es wirklich so schlecht um die europäische Idee? Gerade jetzt, wo Millionen von Menschen unter Lebensgefahr nach Europa wollen, weil sie dieses Europa für den sichersten und lebenswertesten Platz auf der Welt halten. Nicht zuletzt, weil die Europäische Union diesen Kontinent so nachhaltig befriedet und demokratisiert hat. Nur wir Europäer selbst zweifeln und verzweifeln an Europa.
Ohne Krisen gäbe es keine EU
Dabei ist die Europäische Union nur durch Krisen stark geworden. Die EU steckt nicht in der Krise, sie ist die Krise. Ohne Krisen gäbe es die Europäische Union gar nicht. Keine Regierung der Welt gibt freiwillig Macht ab. Brüssel hat zu jeder Zeit immer nur die Probleme bekommen, mit denen die nationalen Regierungen alleine nicht mehr fertiggeworden sind. Die Agrarpolitik ist aus den Hungerkrisen der Nachkriegspolitik entstanden, die Außenpolitik hat ihren Schub durch die Erfahrung der Ohnmacht in den Jugoslawienkriege bekommen. Die Flüchtlingsströme aus diesen Kriegen erzwangen dann so etwas wie eine europäische Asylpolitik. Und seit Russland am Gashahn dreht, seitdem wird in Brüssel an einer gemeinsamen Energiepolitik gearbeitet.
Doch wenn der Leidensdruck nachlässt, dann flaut auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit rasch wieder ab. Was bis zum Ende einer Krise nicht vertraglich als Europäische Aufgabe festgezurrt ist, wird nicht mehr weiter verfolgt. Deshalb ist die EU nach jeder Krise nicht nur stärker, sondern auch um eine Dauerbaustelle reicher.
Europabegeisterung? Gab's eh nur in Deutschland
Vielleicht sollte man öfter mal das Lametta beiseite räumen, das den klaren Blick auf Europa versperrt. Die Europabegeisterung, der heute so viel nachgetrauert wird, war selten ein europäisches, sondern meist bloß ein deutsches Gefühl. Die Idee, dass Europa einmal die Nationalstaaten ablösen sollte, diese Idee gibt es sonst nur noch in Belgien, wo Europa als Auffangnetz gesehen wird, wenn das Land am Streit zwischen Flamen und Wallonen zerbrechen sollte.
Franzosen dagegen wünschen sich die EU vor allem als Bollwerk gegen die Zumutungen der Globalisierung. Luxemburg sieht in der EU bis heute die Lebensversicherung, um nicht zwischen den beiden großen Nachbarn zerrieben zu werden. Für Spanien, Portugal und Griechenland ist die EU ein Modernisierungsversprechen, ebenso für Irland. Nur dass für die Iren die EU auch noch der Befreier ist, der das kleine Land aus der Jahrhunderte alten Dominanz des britischen Nachbarn befreit hat.
Die Krise zwingt Europa zur Verständigung
So hört jedes Land seine eigene Grundmelodie, wenn es an Europa denkt. Europa wird nicht durch gemeinsame Werte zusammengehalten, sondern durch die wirtschaftliche Verflechtung und durch einen Klebstoff, der von Land zu Land verschieden sind.
Die Flüchtlingskrise wird die Europäischen Länder zwingen, sich über grundsätzliche Werte zu verständigen. Noch suchen die Regierungen nach technischen Lösungen: eine bessere Verteilung der Flüchtlinge, mehr Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Verträge mit Ländern wie der Türkei oder Marokko, die als Türsteher der EU die Flüchtlinge abweisen sollen. All das wird der Europäischen Union vielleicht etwas Luft verschaffen, aber das Problem nicht lösen: Der Flüchtlingsdruck auf Europa wird noch viele Jahre anhalten.
Der Beginn einer Wertegemeinschaft
Die EU wird daran nicht zerbrechen. Gerade in schwierigen Zeiten möchte kein Land und keine Regierung allein sein. Sie werden sich wie immer zusammenraufen, allein schon weil keines der anstehenden Probleme ohne die Europäische Union leichter zu lösen wäre.
Aber irgendwann werden die EU-Regierungen unangenehme Entscheidungen treffen müssen. Sie werden entscheiden müssen, unter welchen Umständen Flüchtlinge an den Außengrenzen abgewiesen werden. Sie werden entscheiden müssen, wieviel Menschlichkeit sie ihren Bürgern abverlangen und wieviel Unmenschlichkeit sie den Flüchtlingen zumuten wollen. Die Antwort darauf wird der Anfang sein, der schmerzhafte Anfang einer europäischen Wertegemeinschaft.
Alois Berger, geboren 1957, gelernter Elektriker und Diplom Politologe, Deutsche Journalistenschule, hat als Reporter beim Saarländischen Rundfunk, als Redakteur bei der Frankfurter Rundschau und als Moderator beim RIAS in Berlin gearbeitet. Er berichtete fast 20 Jahre aus Brüssel, erst für die tageszeitung, dann für Die Woche und für den Deutschlandfunk. Alois Berger lebt in Bonn, wo er nach wie vor über europäische Themen schreibt und sendet.
Alois Berger
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