Grenzen kein geeignetes Regulativ
Der Glaube an Grenzen als Regulativ von Migrationsbewegungen ist überholt, sagt der Migrationsforscher Frank Wolff. Er verweist auf historische Erfahrungen mit verschiedenen "Ankommens-Wellen", auf die Gesellschaften bisher flexibel und gewinnbringend reagieren konnten.
Dieter Kassel: In Berlin beginnt heute eine große, internationale, und, wie heute fast immer, in diesem Fall trifft es aber auch wirklich zu, interdisziplinäre Konferenz zum Thema Flucht und Migration, eine, die Aktuelles besprechen möchte, aber vor allen Dingen auch über die Vergangenheit reden. Sie trägt einen Titel, der, wie ich finde, schon ziemlich klar macht, dass dieses Thema nicht unkompliziert ist, egal, von welcher Warte aus man es betrachten möchte. Sie heißt nämlich "Unmögliche Ordnung. Europa, Macht und die Suche nach einem neuen Migrationsregime".
Und über ein paar, alle sind nicht zu schaffen, Aspekte dieser Konferenz zu reden, um das zu tun, ist jetzt Frank Wolff bei mir im Studio. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vorstandsmitglied des Instituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Herr Wolff, erst mal schönen guten Morgen!
Arena der Akteure zum Thema Migration
Frank Wolff: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Nehmen wir doch einmal einen Begriff, der manche vielleicht irritiert. Was genau ist denn ein Migrationsregime?
Wolff: Unter Migrationsregime verstehen wir einen großen komplexen Aushandlungsprozess von verschiedenen Ebenen. Ursprünglich hat man darunter eher ein Regime im Sinne eines Protokolls oder eines Abkommens gedacht oder einer Rechtsstruktur, wo man festgestellt hat, das reicht nicht, um zu verstehen wie Bewegung und Regulation sich zueinander verhalten, sondern Migranten spielen eine Rolle im Regime, weil sie Macht einbringen und Regeln auch durch eigenes Handeln verändern, genauso aber auch Institutionen, Hilfsorganisationen und so weiter.
Und der Begriff, der oft verwendet wird, um es zu umschreiben, ist der einer Arena. In einer Arena, in der verschiedene Akteure sich verschieden verhalten, um darin auszuhandeln, was Migration in der Zeit, in der Zeit, in der Politik, in der Gesellschaft bedeutet.
Kassel: Das heißt, einer der Fehler, die vielleicht auch in der Vergangenheit gemacht wurden, bestand darin, die Möglichkeiten, das selbst als Aufnahmeland oder Aufnahmekontinent zu regulieren, auch ein bisschen zu überschätzen vielleicht?
Wolff: Die Aufnahmeseite ist ja noch mal eine ganz andere, vor allem, wenn wir in Europa sind als die Seite der direkten zum Beispiel Regulation an Grenzen. Weil Aufnahmeländer, wie wir ja seit 2015 sehen, zum Beispiel in Deutschland sein können, aber gewisse Außengrenzen ganz woanders liegen.
Da gibt es natürlich ganz viele Variablen auf dem Weg, die dazugehören, um etwas regeln zu können. Aber die Bildmöglichkeiten sind per se begrenzt. Selbst, wenn wir heute auf das Mittelmeer schauen, wo wir ja eine sehr tödliche Grenze vor uns haben, sehen wir gleichzeitig, dass es trotz der Tödlichkeit mit der Regulation nicht wirklich funktioniert.
Migration als Kompliment für Europa?
Kassel: Einer der Gründe, warum – ich habe es ja vorhin schon gesagt –, es sind ja zwei verschiedene Sachen, es gibt die Ursachen, weshalb sich jemand wegbewegt aus seinem Heimatland, da gibt es eine Reihe, die wir überwiegend ja kennen, Krieg, Verfolgung, schwierige ökonomische Bedingungen natürlich, und es gibt Ursachen, warum jemand zum Beispiel nach Europa möchte. Ist es vielleicht in Europa auch lange nicht erkannt worden, dass das Ganze, ich sag jetzt mal sehr einfach, jetzt ja auch so eine Art Kompliment für diesen Kontinent ist, wenn so viele hierhin wollen?
Wolff: Das kann man so verstehen. Sicherlich gehört dazu aber, dass wir das auch nicht überschätzen dürfen. Wenn wir über Kriegsflüchtlinge, Vertreibung sprechen, bleibt der Großteil ja in der Region. Und erst, wenn in der Region, also in Nachbarstaaten, die Situation kollabiert oder so kompliziert wird oder zum Beispiel die Nahrungshilfe in Flüchtlingslagern eng wird, bewegen sich Menschen großenteils weiter. Und das haben wir 2015 gesehen. Da gibt es die eine Seite, die quasi eine Kompensation von weiteren Problemen in Krisenregionen ist.
Andererseits gibt es das, was man allgemein als Wirtschaftsmigration versteht, und die ist natürlich darin auch abgeprägt, weil wir haben ja keine besonderen Wege, nach Deutschland zu kommen als normaler Arbeiter aus Syrien. Das muss man ja über den Flüchtlingsweg derzeit versuchen. Man kann es darum als Kompliment in dem Sinne sehen, dass wir hier eine attraktive Aufnahmegesellschaft haben, aber viel wichtiger dafür sind familiäre Netzwerke, Bekanntschaften, das, was wir als Kettenmigration verstehen.
Möglichkeiten der staatlichen Regulation von Migration
Kassel: Das heißt aber auch wieder, wo wir ja vorhin schon mal waren, die Möglichkeiten, das staatlich zu regulieren, sind vielleicht auch deshalb beschränkt, weil vieles dann gar nicht gesehen wird. Also so einfache Dinge wie, warum will jemand nach Bielefeld – ich sag das, weil es in der Nähe von Osnabrück ist, kein Bielefeld-Witz jetzt –, nach Bielefeld, weil da vielleicht der Onkel und die Tante schon wohnen. Warum will jemand in ein bestimmtes Land? Weil er vielleicht glaubt, die Sprache leichter erlernen zu können, ob es stimmt oder nicht. Also es gibt viele, modern würde man sagen, weiche Faktoren, die vielleicht von den Regulatoren auch bisher nicht so ernst genommen wurden?
Wolff: Ja, das ist ganz entscheidend. Das hat auch damit etwas zu tun, zum Beispiel, es gibt ja auch ein europäisches Resettlement-Programm, das deswegen eigentlich nicht funktioniert, weil es davon ausgeht, dass Europa dann aussucht, wo die Menschen hingewiesen werden. Aber es gibt natürlich Interessen, dass man nach Dänemark zu Bekannten zum Beispiel möchte, und nicht nach Ungarn, derzeit, in der Situation. Deswegen gehen wenige Menschen zum Beispiel in dieses doch eigentlich sehr gut gedachte Resettlement-Programm, weil die Umsetzung für die Menschen sehr unattraktiv ist.
Historiker wissen: "Die Gesellschaft hat sich schon immer verändert"
Kassel: Sie haben ja ein bisschen schon den Begriff Migrationsregime erklärt. Wenn man mal, und Sie tun das ja unter anderem auf dieser Konferenz, diesen historischen Blick auch nimmt, wenn man mal zurückgeht ein paar Jahrzehnte, also wirklich allerjüngste Zeitgeschichte, kann man denn sagen, da sind bei Migrationsregimen solche Fehler gemacht worden, da waren Dinge so offensichtlich falsch, da kann man wirklich sagen, das muss sich unbedingt ändern?
Wolff: Was sich meiner Meinung nach unbedingt ändern sollte, ist unser Glaube an die Grenze als Regulationsmöglichkeit. Die Administration ist, was Steuerung angeht, effektiver, aber langsamer. Und die Grenze können wir eigentlich nur dichtmachen und damit uns Verhandlungsraum nehmen, auch Steuerungsraum nehmen. Das ist ein Grundfehler, der immer wieder gemacht wird und aufkommt.
Auf der anderen Seite haben wir aber auch viel produktive Erfahrung, die wir aber einfach vergessen haben. Wir haben viele Ankommens-Wellen, um den Begriff der Welle jetzt zu verwenden, oder Bewegungen – denken wir an die postsowjetischen Flüchtlinge, denken wir an die postkoloniale Migration in Frankreich oder bosnische Flüchtlinge. Vieles davon wurde ja in kürzester Zeit in die Gesellschaft aufgenommen, war damals als Krise thematisiert und war fünf Jahre später keine mehr.
Kassel: Aber gerade dieses "keine mehr" – muss man da nicht auch ehrlich sein? Viele haben ja immer noch die Hoffnung, man könne irgendwie Millionen von Flüchtlingen, Migranten welcher Art auch immer aufnehmen und die so integrieren, dass sich dadurch das Aufnahmeland oder der ganze Aufnahmekontinent nicht verändern. Ist das nicht in der Tat genau das, nämlich nur eine Illusion?
Wolff: Absolut. Die Gesellschaft ist dabei, sich zu verändern, und wird sich verändern, und die Historiker können von der Seite her beruhigen, dass sie sagen können: Und das hat sie schon immer getan.
Kassel: Beruhigung ist zum Schluss gar nicht schlecht. Ich danke Ihnen sehr. Frank Wolff war bei uns zu Gast. Er ist Migrationsforscher und einer der Mitorganisatoren und einer der vielen Teilnehmer einer internationalen Konferenz mit dem Titel "Unmögliche Ordnung", die heute in Berlin beginnt. Herr Wolff, ich danke Ihnen sehr für den Besuch im Studio und wünsche Ihnen viel Erfolg auf der Konferenz.
Wolff: Danke schön!
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