Wolfgang Herles, Jahrgang 1950, ist Publizist und Fernsehjournalist. Er moderierte mehr als vier Jahrzehnte lang politische Magazine, Talkshows und das Kulturmagazin "Aspekte" im ZDF und Bayerischen Rundfunk. 2015 erschien sein Buch "Die Gefallsüchtigen. Gegen Konformismus in den Medien und Populismus in der Politik" (Knaus Verlag).
Die fatale Dolchstoßlegende der Flüchtlingspolitik
Vor einer neuen "Dolchstoßlegende" warnt der Publizist Wolfgang Herles. Bevor Berlin sich von Wien hintergangen fühle, sollte Deutschland bedenken, dass Österreich und die Balkanstaaten aus historischer Erfahrung sensibel reagieren.
Angela Merkels Beharren auf einer europäischen Lösung der Flüchtlingsfrage führte bisher nicht zum Erfolg. In Berlin wird nach Schuldigen gesucht. Die Zeigefinger deuten vor allem auf Wien. Österreich, im Herbst noch Partner der deutschen Willkommenskultur, hat Obergrenzen eingeführt. Die von Österreich initiierte neue Balkan-Connection überfordert Griechenland und das ganze Flüchtlingselend kulminiert am mazedonischen Grenzzaun.
Fällt die Alpenrepublik Deutschland in den Rücken? Aus Angst vor den eigenen Rechtspopulisten? Oder einfach, weil eben in Österreich der Balkan beginnt - und es mit der Verlässlichkeit dort nicht weit her sein kann? Eine neue Dolchstoßlegende entsteht. Und aus der Tiefe der Geschichte steigen Sumpfgase auf.
Der Balkan kann Fakten schaffen
Zunächst fällt auf, dass die am Grenzregime der Balkanroute beteiligten Staaten, auch wenn sie nicht der EU angehören, gemeinsam handeln. Offenbar existiert im historischen Unterbewusstsein ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das älter ist als die EU. Und es kann noch heute Fakten schaffen kann, wenn auch vermutlich nicht auf Dauer.
Die im fernen Berlin gehegte Erwartung, die Türkei möge das Problem lösen, hält man in lange vom osmanischen Reich bedrohten Regionen für leichtgläubig. Und der blutige Zerfall Jugoslawiens mit seinen ethnischen Säuberungen lässt verstehen, weshalb dort ein Rückstau von einigen hunderttausend muslimischen Flüchtlingen für untragbar und gefährlich gehalten wird.
München ist Wien näher als Berlin
Merkels Gegner im eigenen Lager, vor allem die bayerische CSU, vertreten die Ansicht, Österreich habe mit seiner Obergrenze auch Deutschland entlastet. Die Zahl der Migranten gehe seither spürbar zurück. München liegt eben näher an Wien als Berlin, immer wieder auch politisch.
Starke, identitätsstiftende Regionen sind ja im Sinne Europas. Die Alpenregion, die auch das italienische Südtirol einschließt, ist ein Musterbeispiel dieser Vision und durchaus lebensfähiger als der bürokratische Moloch Brüssel.
Die österreichisch-bayerische Waffenbrüderschaft ist im Übrigen älter als der deutsche Nationalstaat. Zum letzten Mal durften Österreicher und Bayern, auch Sachsen, 1866 auf Preußen schießen, was mit der Niederlage von Königgrätz endete, der Urkatastrophe der deutschen Geschichte.
Denn Reichskanzler Bismarck erzwang daraufhin ein kleindeutsches Reich, das Österreich ausgesperrte, weil Berlin die hegemoniale Führerschaft mit Wien nicht teilen wollte. Das Habsburger Vielvölkerreich, davon sind die meisten Historiker überzeugt, war ein frühes Modell europäischer Einheit. Gescheitert sei es an einem Mangel an Demokratie und am Nationalismus.
Großmachtpolitik fördert Nationalismus
Hört, hört! Genau deshalb fährt die Europäische Union heute in die Krise. Hochmut ist also nicht angebracht. Österreichische Erfahrungen mit starken Minderheiten verschiedener Religionen und Ethnien sind älter und intensiver als die deutschen. Die Doppelmonarchie war multikulturell.
Europa darf nicht nach der Pfeife einer Hegemonialmacht tanzen. Auch diese Lektion hat die ehemalige Großmacht Österreich beizeiten lernen müssen. Was Helmut Kohl noch wusste ist, dass Europa nur zusammenhalten kann, wenn die Großen den Kleinen nichts aufzwingen. Schon gar nicht unter der Maßgabe moralischer Überlegenheit. Daran wird Berlin nun erinnert.