Europa

Von Byzanz bis Ruthenien

Von Thomas Brechenmacher |
Norman Davies legt 15 historische Fallstudien aus dem vergessenen Europa vor und ruft uns große und kleine Reiche in Erinnerung. Er schreibt unterhaltsam, verwirrt seinen Leser teilweise aber auch.
Natürlich kann Norman Davies' Buch nicht - wie im Untertitel angepriesen - "die" Geschichte, sondern nur "eine" Geschichte des vergessenen Europa rekonstruieren, denn auch bei einem respektablen Umfang von 820 Textseiten, musste der britische Historiker ja gleichwohl auswählen. So legt er fünfzehn historische Fallstudien vor. Deren Bogen spannt sich vom westgotisch-tolosanischen Reich des 5. Jahrhunderts bis zur 1991 "verschwundenen" Sowjetunion.
Neben Byzanz, Burgund, den Königreichen Aragón und Savoyen finden auch ganz eigenartige Gebilde ihren Platz in dieser Reihe, so etwa das Fürstentum und kurzlebige Königreich Montenegro oder die "Ein-Tages-Republik" Ruthenien. Dieses kleine Gebiet in der Karpatenukraine hatte am 15. März 1939 versucht, die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Hitlersche Aggression zu nutzen, um sich als selbstständiger Staat von der Slowakei loszureißen. Das aussichtslose Unternehmen endete bereits am Tag darauf durch den Einmarsch der Ungarn.
Unterhaltsame, aber unausgewogene Auswahl
Auch ein Kapitel über ein rätselhaftes verschwundenes Reich Rosenau fehlt nicht. Hinter dem Märchennamen verbirgt sich schlicht das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha, das bei Davies chiffriert erscheint unter dem Namen des Landschlosses Rosenau bei Coburg. Hier wurde 1819 Albert von Sachsen-Coburg geboren, der spätere und schon 1861 früh verstorbene Gemahl der britischen Königin Victoria. Die Geschichte dieses kaum als "Reich" zu bezeichnenden Duodezfürstentums beschränkt sich bei Davies denn auch auf eine Nacherzählung der Romanze zwischen Albert und Victoria sowie einige Ausblicke auf den englischen Zweig des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha.
Die Abfolge der Fallstudien ist also durchaus unterhaltsam, nach strengeren Kriterien jedoch eher unausgewogen. Trotzdem wird in den vorgelegten fünfzehn Beispielen mehr als deutlich, worauf es Davies ankommt. Er versucht einige der "zerbrochenen Bilder" wieder zusammenzusetzen, auf denen - T.S. Eliot zufolge - die moderne Welt sich aufrichte, mit dem Ziel, das "unvollständige Wissen über die europäische Kultur zu bereichern":
"Die Vergangenheit ist nicht nur ein fremdes Land, von dem wir nur ahnen, dass es je existierte; sie versteckt ein weiteres verborgenes Land hinter sich, und dahinter noch eines und noch eines - wie ein Satz russischer Matrjoschkas, bei dem die größeren Puppen die kleineren in sich bergen. Und die Oberfläche zeigt nicht verlässlich an, was darunter liegt."
Davies packt die Matrjoschkas aus
Davies legt historische Tiefenschichten frei, er packt - um im Bild zu bleiben - die Matrjoschkas aus und dringt dabei weit zurück in die frühen und dem notorisch zu kurz greifenden kollektiven historischen Gedächtnis entrückten dunklen Jahrhunderte der Völkerwanderungszeit.
Dabei geht er in jedem seiner dreigeteilten Kapitel von der Gegenwart aus und steigt mit eher touristischen Impressionen über die aktuelle politische und kulturelle Gestalt der jeweiligen Regionen ein. Dann wendet er zu einer ausführlichen Schilderung des Werdens, der Glanzzeit und des Vergehens des einstmals dort gewesenen Reiches zu und schließt mit einer kleinen Spurensuche nach Überreste dieser Vergangenheit im Heute.
Norman Davies: "Verschwundene Reiche"
Norman Davies: "Verschwundene Reiche"© Theiss-Verlag
Die Idee ist gut für ein historisches Lesebuch, das auf ein breites Publikum abzielt, die Ausführung freilich nicht immer unproblematisch. Denn Davies hat sich dafür entschieden, Daten, Fakten, Herrscherhäuser, den Wechsel der Dynastien, das Glück und Unglück unzähliger Migrationen, Grenzverschiebungen, Kriege, höchst detailreich zu präsentieren.
Spätestens im dritten Kapitel über die "fünf, sechs oder sieben Königreiche" namens "Burgund", tritt Verwirrung ein, und der Eindruck bleibt nicht aus, hier handle es sich eher um eine historische Nummernrevue denn um saubere Gedankenarbeit.
Aber wer durchhält, stößt auch auf Höhepunkte. Dazu zählen die beiden Kapitel über das polnisch-litauische Großreich sowie über die Ursprünge Preußens im Land der "Prußen" zwischen Memel und Weichsel. 409 Jahre lang waren Litauen und Polen verbunden, zuerst unter der Dynastie der Jagiellonen, dann unter den Wasas und zuletzt unter den Wettinern aus Sachsen.
Mit den "polnischen Teilungen" endete die Geschichte einer der auch kulturell wie rechts- und verfassungshistorisch bedeutendsten Staatsformationen Europas, deren Territorium dasjenige des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" nachgerade als Winzling erscheinen ließ.
Der Akzent und die Stärke des Bandes liegen weniger auf Mitteleuropa als auf der - aus heutiger Perspektive - "östlichen Peripherie", nicht von ungefähr also auf den Gebieten, die Davies aus eigener Forschung am meisten vertraut sind. Dies gilt auch für die Geschichte Preußens, die hier einmal nicht aus dem brandenburgischen Reichsteil, sondern aus der Sicht des ehemaligen Deutschordensstaates und damit jenes Gebiets entwickelt wird, das den Aufstieg Preußens zum Königreich und zur europäischen Großmacht erst ermöglichte.
Einsichten werden en passent vermittelt
Der Band schließt mit dem "Verschwinden" der Sowjetunion und, daran anknüpfend, einigen wenig systematischen Überlegungen über das "Sterben von Staaten". Doch, wie gesagt, nicht auf geschichtswissenschaftlicher Systematik liegt der Akzent des Buches. Einsichten werden en passant vermittelt, darunter die, den Status der Gegenwart nicht zum Absolutum, gar zum Ziel einer historischen Entwicklung zu verklären.
"Es ist stets zu bedenken, dass die modernen europäischen Staaten nicht neu erfunden wurden und dass die Gemeinschaften, die ihnen vorausgingen, nicht weniger künstlich waren als sehr viele Staaten in der europäischen Geschichte."
Davies' Buch immunisiert gegen jegliches Gerede von "Alternativlosigkeit". Denn die Beschäftigung mit Geschichte lehrt, dass nichts "alternativlos" ist und dass, wer anderes behauptet, schlicht ideologisch argumentiert. Nur eines ist sicher, nämlich der Wandel und mit ihm auch das Vergehen, der Tod aller staatlichen und kulturellen Formationen.
"Alle Nationen, die je lebten, haben ihre Fußabdrücke im Sand hinterlassen. Die Spuren verschwinden mit jeder Flut, die Echos verklingen, die Bilder werden fragmentiert und das menschliche Material wird atomisiert und wiederverwertet. Aber wenn wir wissen, wo wir suchen müssen, finden wir immer ein Überbleibsel, eine Erinnerung, einen unauslöschlichen Rest."

Norman Davies: Verschwundene Reiche: Die Geschichte des vergessenen Europa
Aus dem Englischen von Karin Schuler, Norbert Juraschitz, Hans Freundl, Helmut Dierlamm und Oliver Grasmück
Konrad Theiss Verlag, 926 Seiten, 39,95 Euro

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